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»Unschuldige Wörter«? Jüdische Sprachkritik und historische Erkenntnis

  • In den ersten Wochen der Kanzlerschaft Hitlers begann der Dresdner Romanist Victor Klemperer in seinem Tagebuch öffentliche Sprachereignisse und eigene Spracherlebnisse festzuhalten, die anzeigen, wie schnell und konsequent sich die Nazifizierung der deutschen Gesellschaft vollzog. Radikal erfolgte die sprachliche »Annullierung einer Welt«, deren Grundbegriffe kurz zuvor noch Geltung gehabt hatten. Der aus seinem Amt verjagte Gelehrte hielt beinahe täglich Beobachtungen über die Art und Weise fest, wie die staatliche Propaganda den Alltag durchsetzte: In allen Schichten und Lebensbereichen sprachen die Menschen nun »nazistisch«, grüßten anders, unterhielten sich anders, schimpften anders – und schrieben auch eine andere Wissenschaftsprosa, wie Klemperer teils ungläubig, teils verzweifelt an den Veröffentlichungen in seinem Fach konstatieren musste. Seine Notizen zur »LTI« (»Lingua Tertii Imperii«, »Sprache des Dritten Reiches«) führte er bis Mai 1945 fort (und später auch darüber hinaus). In einem Eintrag vom April 1937 hielt Klemperer das methodologische Credo der von ihm geplanten Sprachstudie fest, wenn er mit Blick auf den öffentlich zelebrierten Bekenntnisrausch der NS-Paraden, der Parteifahnen, Lieder und Schlagworte, das lateinische Sprichwort über Wein und Wahrheit zum Motto seiner Sprachkritik abwandelte: »In lingua veritas«. Diese Sentenz bündelte die Überzeugung Klemperers, der seine Sprachbeobachtungen zeitgleich auch in einem Brief an seinen Schwager Martin Sußmann erläuterte, der sich mit seiner Familie ins schwedische Exil retten konnte: »Die Arbeit bekommt eine psychologische und eine damit zusammenhängende historische Seite. […] Es ist nämlich nur zum kleiner[e]n und oberflächlichen Teile wahr, dass die Sprache dem Menschen zum Verbergen seiner Gedanken gegeben ist, vielmehr: sie verrät ihn.«

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Verfasserangaben:Nicolas BergORCiDGND, Elisabeth GallasGND, Aurélia KaliskyGND
URL:https://zeithistorische-forschungen.de/2-2023/6129
DOI:https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2806
Titel des übergeordneten Werkes (Deutsch):Zeithistorische Forschungen – Studies in Contemporary History
Verlag:ZZF – Centre for Contemporary History: Zeithistorische Forschungen
Verlagsort:Potsdam
Dokumentart:Wissenschaftlicher Artikel (Zeitschrift)
Sprache:Deutsch
Datum der Veröffentlichung (online):09.09.2024
Datum der Erstveröffentlichung:09.09.2024
Datum der Freischaltung:11.09.2024
Jahrgang:20
Ausgabe / Heft:2
Erste Seite:187
Letzte Seite:203
DDC-Klassifikation:4 Sprache / 40 Sprache / 400 Sprache
9 Geschichte und Geografie / 94 Geschichte Europas / 940 Geschichte Europas
ZZF-Zeitklassifikation:20. Jahrhundert
1945-
1900-1945
ZZF-Regionalklassifikation:Europa
Europa / Westeuropa
Europa / Westeuropa / Deutschland
regional übergreifend
ZZF-Themenklassifikation:Nationalsozialismus
Holocaust
Politik
Kultur
Kommunikation
Medien
Begriffe
Historiographiegeschichte
Judentum
Antisemitismus
Geistes- und Ideengeschichte
Intellectual History
Historische Semantik
Mentalität
Propaganda
Wissenschaft
Wissen
Online-Portale:Zeithistorische Forschungen
Zeithistorische Forschungen: Originalbeiträge:2 / 2023 Jüdische Sprachkritik nach dem Holocaust
Lizenz (Englisch):License LogoCreative Commons - Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0)