Kultur
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»Jahrhundertstimmen«. Eine Sammlung von Tondokumenten als Quellen der deutschen Zeitgeschichte
(2025)
Vor knapp 40 Jahren hat Friedrich Kittler die »technische Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift« durch Grammophon, Film und Typewriter um 1880 zur Epochenschwelle erklärt, mit der die Gutenberg-Galaxis der hegemonialen Schriftkultur an ihr Ende gekommen sei. Mit Thomas Lindenberger lässt sich dieses Ende der Gutenberg-Galaxis zugleich als der eigentliche Beginn der Zeitgeschichte verstehen, die dank der optischen und akustischen Zeit-Speicher-Medien epistemologisch auf einer anderen Grundlage stehe als die Geschichtsschreibung früherer Epochen. Nicht zuletzt in dieser Zeitschrift ist die »Herausforderung [der Zeitgeschichte] durch die audiovisuellen Medien« seitdem vielfach diskutiert und zum Ausgangspunkt der Geschichtsforschung gemacht worden. Dabei lässt sich jedoch eine gewisse Schieflage zugunsten der visuellen Medien nicht verkennen. Auch wenn sich die Sound History in den vergangenen Jahren zunehmend als eigenes Forschungsfeld innerhalb der Geschichtswissenschaft etabliert hat, kann man konstatieren, dass der quellenkritische Umgang mit historischen Tondokumenten bisher nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhalten hat wie derjenige mit historischen Fotografien oder anderen Bildmedien. Die Publikation einer umfangreichen Sammlung von Tondokumenten in zwei Boxen mit insgesamt sieben MP3-CDs, 842 Tracks und knapp 64 Stunden Gesamtlaufzeit unter dem Titel »Jahrhundertstimmen« gibt nun die Gelegenheit, sich auf eine auditive Spurensuche durch das ganze 20. Jahrhundert zu begeben und vor dem Hintergrund der medienhistorischen Diskussionen der letzten Jahre nach dem Stellenwert von Tondokumenten als Quellen der (deutschen) Zeitgeschichte zu fragen.
Wassili Grossmans Roman »Stalingrad« ist ein besonderes literarisches und historisches Dokument. Dem deutschen Lesepublikum eröffnet das Werk erstmals in einer für die Entstehungszeit erstaunlichen Vielstimmigkeit, Drastik und Breite Zugang zu sowjetischen Erfahrungshorizonten und Sichtweisen auf Stalingrad. Als Kontrastfolie zum Kult um die Schlacht in Putins Russland und zur nationalpatriotischen Instrumentalisierung des »Großen Vaterländischen Krieges« für den Krieg gegen die Ukraine hat der Roman außerdem eine unmittelbare Aktualität. Und nicht zuletzt handelt es sich hier um ein literarisches Zeugnis der jüdischen Geschichte.
Dieser Beitrag untersucht anhand von drei Plastiken des sowjetischen nonkonformistischen Bildhauers Vadim Sidur (1924–1986), die zwischen 1974 und 1993 in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin als Denkmäler aufgestellt wurden, wie Sidurs Werke über den Eisernen Vorhang reisten. Mit Hilfe von Archivmaterial, Egodokumenten und Interviews werden die politischen und kulturellen Bedingungen der Aufstellung analysiert. Die Rezeption von Sidurs Arbeiten durch westdeutsche Atelierbesucher:innen in der UdSSR und an den Aufstellungsorten in der Bundesrepublik zeigt, wie diese Werke im Kontext von Diskussionen zu Nationalsozialismus, Holocaust-Gedenken und Kaltem Krieg interpretiert wurden. Sidurs Plastiken bewegten sich nicht nur physisch über geographische Grenzen hinweg, sondern erfuhren durch diesen Transfer auch einen Bedeutungswandel. Die Analyse eröffnet neue Perspektiven auf transnationale, inoffizielle Kulturbeziehungen während des Kalten Krieges und der frühen 1990er-Jahre. Zudem erinnert der Beitrag an einen in der Ukraine geborenen Künstler, dessen Auseinandersetzung mit Krieg und Gewalt heute neues Interesse findet.
Amanullah Mojadidi is an American conceptual artist and curator of Afghan descent. His parents left Kabul in the late 1960s, long before the country became a battleground of never-ending conflicts. One of three siblings, Amanullah is the only one who has ever visited Afghanistan. He wanted to connect with the birthplace of his ancestors. For over 15 years, Mojadidi has worked as a conceptual artist in the field of art and culture within the international development sector. With a background in cultural anthropology, his research and artistic practice have used experimental ethnographic approaches and mixed-media techniques. Through site-specific installations and participatory performances, he approaches themes such as belonging, conflict, religion, identity, migration, and the politics of representation – often concerning Afghanistan.
Sidney Mintzʼ »Kulturgeschichte des Zuckers« ist längst ein Klassiker. Mintz (1922–2015) charakterisierte das Buch als Ergebnis einer langjährigen »Erforschung der Geschichte der Karibik und derjenigen tropischen, vornehmlich landwirtschaftlichen Produkte […], die mit der ›Entwicklung‹ dieser Region seit ihrer Eroberung durch die Europäer fest verknüpft sind« (S. 11). Ihn habe interessiert, wie und warum Europäer und Nordamerikaner zu Konsumenten karibischer Erzeugnisse wurden. »Und wenn man versucht«, so die programmatische Formulierung, »Konsumption und Produktion, Kolonie und Metropole zusammenzubringen, dann geschieht es leicht, daß man die eine oder die andere – den ›Mittelpunkt‹ oder den ›Außenrand‹ – nicht mehr so richtig scharf sieht.« (S. 13)
Wer im Berliner Humboldt Forum nach der »Zukunft der Benin-Bronzen« sucht, stößt auf eine Galerie sprechender Köpfe. Der gleichnamige Saal im Ostflügel des Gebäudes präsentiert als sein zentrales Ausstellungsobjekt eine Reihe von zehn hochkant gestellten, in Augenhöhe angebrachten Monitoren, auf denen neben Hermann Parzinger als Repräsentant der Institution auch ein Vertreter des Königshauses von Benin sowie Kurator:innen und Wissenschaftler:innen aus Deutschland und Nigeria in wohlabgewogenen Statements ihre Sicht auf die Zukunft der umstrittenen Sammlungsobjekte schildern. Immer, wenn eine Person das Wort ergreift, wenden sich die anderen ihr aufmerksam zu.
After World War II, many historians in the German-speaking world thought of the relationship between anthropology and history as being largely synonymous with that of ›everyday life‹ (Alltag) and ›structure‹. As Jürgen Kocka (b. 1941) wrote in a retrospective statement to the Zurich historian Rudolf Braun (1930–2012), one of the few prominent figures of ›ethnographic‹ social history especially in the 1970s and 1980s: ›For while we, a younger generation of social historians, have turned to the large structures and processes that conditioned, encompassed and shaped people’s lives, Braun has always supported us, but he insisted – in an untimely but fruitful way – on not missing the people’s »inside«: the experiences and habits, the hopes and disappointments, the everyday life and mentalities of common people in the age of industrialization.‹
Crowdfunding trat um 2010 als neue Praxis in Erscheinung. Unsere Fallstudie zum Schweizer Crowdfunding-Anbieter wemakeit verwendet die Plattform als Seismograph, um mediale, politisch-ökonomische, semantische, rechtliche, kulturelle und in einem weiteren Sinne gesellschaftliche Verschiebungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeithistorisch und empirisch-kulturwissenschaftlich zu diskutieren. Methodisch verbindet der Beitrag Quellenarbeit und halbnarrative Interviews unter anderem mit den Gründer:innen von wemakeit. Crowdfunding als soziokulturelle Praxis, die auf einer technischen Infrastruktur basiert, wird im Hinblick auf die mitkonstituierende Wissensproduktion kontextualisiert sowie an konkrete Akteur:innen, ihre Biographien und den lokalen Entstehungszusammenhang geknüpft. Zugleich aber sind es, so die These, gegenstandsbestimmende Grenzziehungen (semantisch, juristisch, politisch), welche die Spezifik von Crowdfunding-Plattformen prägen. Abschließend werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen einer zunehmenden Vermarktlichung von Kultur eingeordnet.
In this article, we provide a new approach to circular economy in architecture based on the juxtaposition of historical sources and ethnographic data. We bring into dialogue historical practices of rubble reuse in Warsaw after the Second World War with contemporary efforts to salvage components in buildings slated for demolition in Vienna. The analysis of archival and published documents, construction and architecture magazines, and visual sources is combined with a participant observation in a start-up company in Vienna. Our research methods have led us to respond critically to the solutions presented by the current debates on the reuse of construction and demolition waste. For past and present reuse practices, we uncover and scrutinise a complex social and bodily reality often obscured by the images of seamless and endless circulation of construction materials promoted by policymakers, industry leaders, architecture professionals, and positivist academic researchers.
Der Nachlass des deutschen Kunstethnologen und Sammlers Hans Himmelheber (1908–2003) kam aus dem Privatbesitz seiner Familie an das Museum Rietberg Zürich. Ein Forschungsprojekt in Kooperation mit dem Historischen Seminar der Universität Zürich begleitete die Archivwerdung von Himmelhebers Dokumenten, Filmen, Fotos und Objekten vor allem aus der heutigen Côte d’Ivoire und der Demokratischen Republik Kongo. Die darin reflektierte Wissensproduktion zur Kunst Afrikas wurde multiperspektivisch und translokal untersucht, etwa mit Restudies. Weil Himmelhebers Theorien am Beginn eines Paradigmenwechsels hinsichtlich der materiellen Kultur Afrikas standen, weg von einer als anonym wahrgenommenen »tribalen« Handwerkskunst hin zur individuellen Künstlerpersönlichkeit, spielten auch zeitgenössische und heutige künstlerische Positionen eine wichtige Rolle im Projekt. Das Archiv wurde zum Feld, das es in unterschiedlicher Weise zu erkunden galt. Unsere Reisen in dieses »Feld« sind nun wiederum Bestandteile des von den Nachkommen übergebenen und durch die Bearbeitung (auch digital) neu geschaffenen Archivs Himmelheber.

