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Als „Wohlstand für alle“ im Februar 1957 erstmals erschien, genau rechtzeitig zu Erhards 60. Geburtstag, nahm die Öffentlichkeit eher verhalten Notiz. Die „Süddeutsche Zeitung“ ging auf den Inhalt des Buches nicht weiter ein; sie lobte stattdessen den Optimismus des Bundeswirtschaftsministers und seine Verdienste als „Psychologe der Konjunktur“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schenkte der gleichzeitig erschienenen Festschrift für Erhard sogar mehr Aufmerksamkeit. Nur das „Handelsblatt“ reservierte eine gute Viertelseite, rühmte den „sehr fesselnden, oft amüsanten“ Stil und wagte die Prognose, das Buch werde „ohne Zweifel in die Breite wirken“. Trotzdem war zum damaligen Zeitpunkt nicht zu erwarten, dass das - zumindest aus heutiger Sicht - streckenweise dröge und betuliche, nur durch zahlreiche Karikaturen aufgelockerte Buch bis 1964 acht Auflagen erleben würde oder gar, in Gestalt einer „aktualisierten Neuausgabe“, 1990 „unseren Landsleuten in der DDR“ gewissermaßen als Leitfaden „aus dem Morast des Sozialismus“ in die „offene, demokratische Gesellschaft“ dienen könnte („Vorrede an den Leser“, S. If.). 1999 war eine Gesamtauflage von 250.000 Exemplaren erreicht. Zurzeit ist das Werk jedoch nur noch antiquarisch zu bekommen - oder kostenlos als Download bei der Ludwig-Erhard-Stiftung.
Noch immer wird Zeithistorikern gelegentlich nachgesagt, sie hätten ein gestörtes Verhältnis zu den modernen audiovisuellen Medien, und in der Tat hat die Disziplin erst mit einiger Verzögerung auf deren Ausbreitung reagiert. Dies galt lange für die Massenmedien ganz allgemein, deren Quellenwert aus der Perspektive einer klassischen, staatszentrierten Politikgeschichte äußerst begrenzt erschien. Aber auch die Wendung hin zur Gesellschaft, zur Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte hat zunächst überraschenderweise kaum dazu geführt, dass die Präsenz von Medien im Alltag in diesen Ansätzen besondere Berücksichtigung gefunden hätte. Zwar ist diese traditionelle Zurückhaltung – von einigen Residuen abgesehen – inzwischen erodiert: „Mediengeschichte“ hat sich als Subdisziplin innerhalb der Zeitgeschichte etabliert. Aber jenseits eines Verständnisses als Spartengeschichte verbreitet sich erst sehr langsam die Erkenntnis, dass die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts generell nicht mehr angemessen geschrieben werden kann, ohne die ubiquitäre Verbreitung und Rezeption der Massenmedien zu berücksichtigen. Das gilt keineswegs nur für die sozial- und erfahrungsgeschichtliche Dimension des Mediengebrauchs. Wenn sich, um nur ein Beispiel zu nennen, die Darstellungsseite von Politik bereits seit geraumer Zeit maßgeblich in populären Medien wie dem Fernsehen vollzieht und Repräsentationen und Wahrnehmungen mit dem politischen Prozess rückgekoppelt sind, dann muss auch die Politikgeschichtsschreibung diesem Umstand Rechnung tragen.
Die Transformationsprozesse im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts waren begleitet von einem tiefgehenden Wandel des Sicherheitsverständnisses. Das Vertrauen in die sicherheitsstiftende Funktion des Staates schwand, und neue Krisendiskurse entstanden. Der Aufsatz untersucht dies am Beispiel der NATO-Nachrüstung und der Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland um 1980. In der damaligen Auseinandersetzung spiegelt sich ein scharfer Streit über das Verständnis von Sicherheit. Darüber hinaus artikulierte sich in der Kritik der Friedensbewegung am System der nuklearen Abschreckung ein massives Unbehagen an jener technisch-industriellen Modernität, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert ausgeformt hatte. Daher ist die „nukleare Krise“ der Zeit um 1980 auch als eine Modernitätskrise zu verstehen. Absolute Sicherheit kann es in der Moderne nicht geben; sie bleibt ein letztlich unerreichbares Ziel – eine Utopie. Gleichwohl entzog der Protest der Friedensbewegung – nicht nur in der Bundesrepublik – der nuklearen Abschreckung ihre politische und moralische Legitimität. Trotz der 1983 durchgesetzten Nachrüstung war die frühere Akzeptanz der Abschreckung in der Endphase des Kalten Kriegs nicht wiederherzustellen.
Nach einer langen Unterbrechung kehrte die „Geschichte Europas“ im Zweiten Weltkrieg mit Macht auf die Agenda der internationalen Geschichtsschreibung zurück. Erste Anzeichen hierfür hatte es bereits in der krisenhaften Zuspitzung der 1930er-Jahre gegeben. Nicht aber die Historiographie, sondern die Propaganda im weitesten Sinne bestimmte zunächst die Richtung. Als deutungsmächtig erwies sich in Großbritannien insbesondere die Stimme Robert Vansittarts, des ehemaligen beamteten Unterstaatssekretärs im britischen Außenministerium, der seit 1940 über den britischen Rundfunk ein düsteres Gesamtbild der deutschen Vergangenheit zeichnete. In sechs Radiosendungen mit dem Titel „Black Record“ listete er eine Geschichte der deutschen Aggressionen seit den Tagen des Tacitus auf.
Nach 1989/90 wurde kriegerische Gewalt innerhalb Europas auf neue Weise zum Thema und gerade auch für Intellektuelle zu einer unerwarteten Herausforderung. Die Diskussion unter deutschsprachigen Schriftstellern über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien war hauptsächlich eine Debatte um Peter Handke. Sie fungierte als eine Art Stellvertreterdebatte, während engagierte politische Interventionen deutscher Literaten meist ausblieben. In seinen kontroversen Texten seit 1996 versuchte Handke einen ‚dritten‘ Standpunkt jenseits der zweiwertigen Logik des politischen Diskurses in den Medien zur Geltung zu bringen. Dennoch tendierte sein ‚poetischer‘ Blick auf Serbien zunehmend zur politischen Parteinahme, wie etwa seine Annäherung an den in Den Haag angeklagten serbischen Präsidenten Miloševic zeigt. Obwohl seine Sprache eine Alternative zum ‚herrschenden‘ medialen Diskurs suchte, wurde sie wie die Figur ‚Peter Handke‘ letztlich von den Regeln der politischen Öffentlichkeit absorbiert.
Die Rote Armee Fraktion im Original-Ton. Die Tonbandmitschnitte vom Stuttgarter Stammheim-Prozess
(2009)
Unter der Überschrift „Stimmen aus Stammheim“ berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 1. August 2007 von zuvor noch nicht veröffentlichten Originaltönen, die während des Strafprozesses gegen die RAF-Gründungsmitglieder - Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe - in Stuttgart-Stammheim aufgenommen worden waren. Eindeutig habe es „Signale“ gegeben, „die damals niemand verstand“. Am gleichen Tag konstatierte die „Frankfurter Rundschau“: „Nur Hass und Verbitterung. Neue Tonbandmitschnitte erhellen das vergiftete Klima im Prozess gegen die RAF-Gründer“. Andere Schlagzeilen lauteten: „Ulrike Meinhofs letzte Worte“, „Im Keller vergessen“, „Stimmen aus dem Grab“ oder „Mythische Stimmen aus dem Jenseits“. In der „ZEIT“ wurde kritisch angemerkt, die Konkurrenz vom „Spiegel“ mache „viel Aufhebens um die Stammheimer Tonband-Mitschnitte, die ein findiger Journalist in den Katakomben der Justiz aufgestöbert hat“.
Sehnsucht nach einem stillen Land. Wie zwei Reporter der „ZEIT“ im Jahr 1979 die DDR darstellten.
(2009)
Die heutige Lektüre des Buches irritiert, so eigenartig und doch auch vertraut wirkt das vor 30 Jahren entworfene DDR-Bild. Die Texte und Fotos wurden zwischen Herbst 1978 und Sommer 1979 zunächst als einzelne Reportagen im „ZEIT“-Magazin veröffentlicht. Die Journalistin Marlies Menge und der Fotograf Rudi Meisel waren seit 1977/78 die ersten akkreditierten „ZEIT“-Korrespondenten in der DDR - und blieben es bis 1990. Der Hanser-Verlag brachte sieben dieser Beiträge als großformatigen Bildband heraus. Meisel erhielt dafür 1979 den Kodak-Fotobuchpreis.
Der Mainzer Europa-Kongress im März 1955 war ein publizistisch stark beachtetes Ereignis, zudem dasjenige, mit dem das knapp fünf Jahre zuvor ins Leben getretene Institut für Europäische Geschichte erstmals bewusst den Lichtkegel der Öffentlichkeit suchte. Die Tagung wurde von mehr als 300 Wissenschaftlern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus 16 Staaten besucht, sprengte die räumlichen Kapazitäten des Instituts bei weitem und musste deswegen an den prominentesten Platz der Rheinstadt verlagert werden, nämlich in das Kurfürstliche Schloss. Schon im Folgejahr, 1956, konnte der Direktor der ausrichtenden Institutsabteilung, Martin Göhring, die gedruckte Dokumentation dieses Kongresses vorlegen. Sie trug denselben Titel wie die Tagung selbst: „Europa - Erbe und Aufgabe“.
Im Frühjahr 2020 tauchten die Begriffe »Postkolonialismus«, »postkoloniale Theorie« und verwandte Kategorien mit ungewohnter Dichte in den deutschen Feuilletons auf, waren Gegenstand von Streitgesprächen im Radio und aufgeregten Twitter-Kommentaren. Zentraler Anlass für die ambivalente Hausse des Postkolonialismus war die Erklärung des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, der Kameruner Historiker Achille Mbembe sei wegen antisemitischer Positionen als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale »nicht geeignet«. Daraus entwickelte sich eine heftige und durchaus verwirrende Debatte, in der Klein und gleichgesinnte Mbembe-Kritiker*innen des Rassismus und McCarthyismus gescholten wurden, während andere anhand weniger Passagen aus Mbembes umfangreichem Werk nicht nur darauf insistierten, er sei Antisemit und »Israel-Hasser«, sondern zugleich die »postkoloniale Theorie« anprangerten, als deren wichtiger Vertreter Mbembe gilt. Irritierend daran war nicht allein der Gestus, mit dem beispielsweise so mancher Journalist auftrat, als sei er der erste, der Kritik am Postkolonialismus oder an Mbembe übe. Insgesamt fiel zudem auf, wie sehr die Debatte auf einer bestenfalls oberflächlichen Lektüre relevanter Texte basierte. Dies galt zum Teil auch für jene, die etwa die Antisemitismusvorwürfe gegen Mbembe vehement ablehnten. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die in der Öffentlichkeit rasch zu einer der führenden Verteidiger*innen Mbembes aufstieg, gestand zunächst freimütig ein, sie könne seiner Theorie eigentlich gar nicht so richtig folgen.
This article investigates the little known phenomenon of tourism to the Iron Curtain, using the example of the inter-German border. The practice of traveling to the demarcation line to see where Germany and Europe were divided peaked during the mid-1960s but was already in full swing by the mid-1950s and lasted until the fall of the border in 1989. Based on archival documents, postcards and tourist guidebooks, the article analyses the growth of a tourist infrastructure on the western side of the inter-German border and situates this travel as a form of ‘dark tourism’. It argues that seeing the border and visualising the partition of the country did little for overcoming it but rather tended to underwrite the political and territorial status quo. In the Cold War battle for public opinion, seeing the border allowed West Germans and their visitors from abroad to juxtapose freedom and prosperity with captivity and decay, thus advertising the superiority of the capitalist model over its socialist other.
Fraenkels »Doppelstaat« als Rechtsgeschichte. Arbeitsrecht und Politik während der NS-Diktatur
(2019)
Ernst Fraenkels Buch »Der Doppelstaat«, 1941 in den USA erschienen und erst 1974 auf Deutsch publiziert, weist trotz seiner zentralen Stellung in der Forschung zur NS-Herrschaft eine lückenhafte Rezeptionsgeschichte auf. Der Aufsatz plädiert dafür, das Werk als Rechtsgeschichte zu verstehen. Am Beispiel des Arbeitsrechts wird aus einer praxeologischen, Fraenkel folgenden Perspektive deutlich gemacht, wie und warum sich die Grenzen zwischen Normen- und Maßnahmenstaat verschoben. Diese Kategorien bezeichnen nicht etwa den Gegensatz zwischen Staat und Partei; vielmehr ist genauer nach dynamischen Grenzüberschreitungen und Rechtsaneignungen zu fragen. Dargelegt wird, wie das privatrechtliche Gepräge des Arbeitsrechts staatlich durchdrungen wurde, sodass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer von Subjekten zu Objekten des Rechts der Arbeit wandelten. Möglich wurde dies nur durch das maßnahmenstaatliche Handeln sämtlicher Instanzen aus Verwaltung, Justiz und Polizei. »Treuhänder der Arbeit« und Gestapo dehnten das System der »Arbeitserziehungslager« immer weiter aus. Das Recht verlor sukzessive seine herrschaftsbeschränkende Funktion und geriet zu einem Herrschaftsmittel. Nicht mehr die Gerichte kontrollierten die Verwaltung, sondern die Behörden lenkten die Gerichts- und Rechtspraktiken.
„Mehr als einige schöne Trinksprüche“. Die Konsensstrategien der ersten Großen Koalition (1966–1969)
(2006)
Seit 2005 regiert eine Große Koalition die Bundesrepublik Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist es lohnend, nach der Funktionsweise der Ersten Großen Koalition (1966–1969) zu fragen. Sie hatte ebenfalls große Herausforderungen zu bewältigen (Notstandsgesetzgebung, Finanzverfassungsreform u.a.) und wird in der Zeitgeschichtsforschung als besonders innovationsfreudig eingestuft. Gegenstand des Aufsatzes ist die Frage, mit welchen Strategien es dem Kabinett Kiesinger/Brandt gelang, zwischen den damals noch sehr gegensätzlichen Parteien CDU/CSU und SPD das nötige Maß an Konsens herzustellen. Dabei wird insbesondere untersucht, welche Kommunikationsstrukturen die Koalition nutzte bzw. erst aufbaute.
IVAR und BILLY, zwei Regalsysteme von IKEA, stehen nicht nur für ein jahrzehntelanges Erfolgskonzept der schwedischen Möbelfirma, sondern auch für eine neue ästhetische und geistige Haltung, die sich im Verlauf der 1970er-Jahre auf breiter Basis durchgesetzt hat. Bedeutsam waren und sind die IKEA-Regale zunächst einmal für die Designgeschichte; zugleich lassen sich an ihrem Erfolg breitere Trends der Konsum-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte ablesen.
Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im „New Age“ (Westdeutschland 1970–1990)
(2008)
Das „New Age“ wird üblicherweise als Ergebnis oder Ereignis der Privatisierung und Pluralisierung der Religion nach „1968“ begriffen. Der vorliegende Beitrag betrachtet diese Zuordnung als erweiterungsbedürftig und unterzieht einige der zentralen Deutungsmuster innerhalb des „New Age“ einer diskursgeschichtlichen Relektüre. Auf diese Weise geraten drei Transformationsprozesse in den Blick, die das „New Age“ in den 1970er- und 1980er-Jahren als „Neue Religion“ in das Zentrum des gesellschaftlichen Wandels rückten: Somatisierungs-, Orientalisierungs- und Kybernetisierungsprozesse. In einem weitgehend unbekannten Ausmaß wurde insbesondere die Sorge um den „eigenen“ Körper zum Referenzpunkt religiöser Kommunikation. Entgegen der Säkularisierungsthese verlor die Religion in diesem Kontext keineswegs an gesellschaftlicher Relevanz.
Wie viele andere, inzwischen zumeist und zu Unrecht als randständig behandelte Ideenlieferanten in der Bundesrepublik Deutschland der 1970er- oder 1980er-Jahre ist auch die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Marilyn Ferguson bislang noch kaum in den Genuss historiographischer Weihen gekommen. Im Gegensatz zu den Meisterdenkern der Frankfurter Schule oder liberalen und konservativen Cheftheoretikern sind Ferguson und andere Bezugsgrößen der „Gegenkultur“ und „alternativer“ Lebensweisen nach „1968“ selten zum Gegen-stand der Zeitgeschichtsschreibung geworden – zumal sich diese erst seit wenigen Jahren verstärkt Fragen der Religion zuwendet. Obwohl „Die sanfte Verschwörung“ in deutscher Übersetzung bis 1989 acht Auflagen erreichte und vom „Spiegel“ sehr treffend als „New-Age-Bibel“ bezeichnet wurde, findet sich in keiner der großen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik auch nur ein kurzer Verweis auf dieses Vademekum esoterischer Praktiken und Diskurse.
Als im Herbst 2017 der Berliner Antisemitika-Sammler Wolfgang Haney starb, wurden verschiedene Personen und Institutionen unruhig. Was wird aus der Sammlung? Kommt sie auf den Markt und geht als Gesamtwerk verloren? Welche Akteure und Logiken treten auf den Plan und konkurrieren um die ganze Sammlung oder um Einzelobjekte? Werden die Dauerleihgaben, die in großen Museen gezeigt werden, auf der Stelle zurückverlangt? Gibt es für öffentliche Einrichtungen Handlungsspielraum? Können, dürfen, sollen Steuergelder in den Ankauf judenfeindlicher Artefakte fließen? Wie werden sich die Erben verhalten?
Nach wie vor gilt „1968" vielen Beobachtern als eine klare Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte, als Übergang von der „restaurativen" Adenauer-Zeit zu einer liberalen westlichen Demokratie. In Schweden dagegen scheint „1968" keine Wirkungen gezeitigt zu haben; zumindest ist durch die (deutsche) Forschung nichts überliefert. In diesem Aufsatz werden die 68er-Ereignisse in beiden Ländern verglichen, um ihren historischen Stellenwert genauer zu bestimmen. Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen gab es manche Gemeinsamkeiten. Das lag an einem ähnlichen gesellschaftlichen Strukturwandel in der Nachkriegszeit, in den die 68er-Bewegungen eingebettet waren, aber auch an kollektiven Wahrnehmungsprozessen, durch die das magische Jahr „1968" in beiden Ländern überhöht wurde. Aus dieser vergleichenden Perspektive erscheint „1968" weniger als spezifisch bundesdeutsche Zäsur denn als Katalysator der gesellschaftlichen Umbrüche in der gesamten westlichen Welt.
Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verreiste die Mehrheit der Westdeutschen mindestens einmal im Jahr. Die Urlaubsreisen wurden zunehmend als Pauschalreisen ins Ausland unternommen und stellten für die meisten Haushalte auch in Krisenzeiten ein zentrales Konsumgut dar. Um sich dem Reiseverhalten eines Großteils der Bevölkerung anzunähern, werden hier Pauschalurlaube in Spanien untersucht. Dank des wachsenden Flugverkehrs entwickelte sich gerade dieses Land in den 1970er- und 1980er-Jahren zum beliebtesten Auslandsreiseziel der Westdeutschen. Von der zeitgenössischen Konsumkritik wurden Pauschalurlaube in Spanien jedoch häufig negativ bewertet; individuelle Ansprüche spielten bei dieser Urlaubsform angeblich keine Rolle. Anhand der Urlaubspraktiken, wie sie sich indirekt aus den Angeboten der Veranstalter sowie zusätzlich aus Fotoalben und Erinnerungsberichten erschließen lassen, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Massentourismus und die Erfüllung individueller Vorlieben schlossen sich nicht aus; zudem waren Pauschalreisen mitunter der Einstieg in eine selbstständigere Begegnung mit dem Urlaubsland. Der Aufsatz verdeutlicht damit auch das Potential praxeologischer Ansätze zur Erforschung des bundesdeutschen Massenkonsums insgesamt.
Das Taschenbuch „Medizin ohne Menschlichkeit“ wurde ein Best- und Longseller. Binnen sechs Wochen nach Erscheinen, im Frühjahr 1960, konnte der Fischer-Verlag bereits 29.000 Exemplare absetzen. 2004 erreichte der Band die 16. Auflage. Ein erstaunlicher Erfolg für die Neuausgabe eines Buches von 1949; eines Buches zudem, das, wie der Untertitel anzeigte, „Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses von 1946/47“ präsentierte. Seither waren immerhin 13 Jahre vergangen. Auch die Herausgeber waren einem breiten Publikum unbekannt: Der Psychoanalytiker und Heidelberger Extraordinarius Alexander Mitscherlich war eben erst dabei, in Frankfurt das spätere Sigmund-Freud-Institut zu begründen. Fred Mielke, in den ersten Nachkriegsjahren Medizinstudent bei Mitscherlich, war bereits im Frühjahr 1959 an Leukämie verstorben.
Am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main untersucht der Aufsatz vor allem die Zeit zwischen den frühen 1950er- und frühen 1980er-Jahren, also die von der Geschichtswissenschaft noch kaum betrachtete Phase jüdischen Lebens zwischen der Auswanderung der meisten „Displaced Persons“ und dem vermeintlichen „Coming Out“ der Juden in der Bundesrepublik. Der Fokus liegt auf den Konstitutionsbedingungen und Transformationen der kleinen, keineswegs homogenen jüdischen „Gemeinschaft“. Betrachtet werden insbesondere die individuellen Suchbewegungen, die die Angehörigen der zweiten Generation von Juden in der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren unternahmen – nicht nur, um ihren Platz zu finden in der Gesellschaft der ehemaligen Täter und Mitläufer, sondern auch im Verhältnis zur älteren Generation der Überlebenden. Dabei wird deutlich, dass die Geschichte jüdischen Lebens in der Bundesrepublik nicht allein als Religionsgeschichte zu betrachten ist, sondern ebenso als Migrations-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte.