Westeuropa
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Gleich nach dem Erscheinen im August 1977 erntete das Buch von damaligen Stars der linksintellektuellen Szene wie Herbert Marcuse oder Ernest Mandel allerhöchstes Lob. Marcuse stellte fest, das Werk des bis zum Zeitpunkt seiner Verhaftung durch die Staatsorgane der DDR nur Insidern bekannten Autors Rudolf Bahro sei „der wichtigste Beitrag zur marxistischen Theorie und Praxis, der in den letzten Jahrzehnten erschienen ist“. Mandel, der führende Denker der trotzkistischen Vierten Internationale, bezeugte, Bahro sei ein „wirklicher Kommunist“ und „Revolutionär“. Keinen Gefallen an Bahros Werk fanden hingegen jene Theoriearbeiter, die dem „real existierenden Sozialismus“ nahe standen. So erklärte beispielsweise der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth, Bahro verliere sich „in gelegentlich zutreffender, aber häufig verzerrter und übersteigerter Kritik der sozialistischen Länder“. Ihm hielt der Theologe Helmut Gollwitzer entgegen, Abendroth beschränke sich in seiner Auseinandersetzung mit Bahro auf eine Rechtfertigung des Sowjetsystems und übersehe die Herausforderung der „Alternative“ für die marxistische Theoriebildung: „Die kommunistische Zielsetzung wird hier endlich einmal wieder ernst genommen, wird aus dem Himmel der Ideale heruntergeholt in ‚konkrete Denkbarkeit‘; den schon erreichten Verhältnissen wird die Melodie ihrer Möglichkeiten vorgesungen, und diese wird zum Kriterium der Kritik - zu einem Kriterium, dem keiner sich entziehen kann, dem es um das Ziel des Sozialismus noch ernst ist.“
Von 1950 bis 1980 vervielfachten sich Zahl und Größe religiöser Minderheitengruppen in Großbritannien aufgrund der Nachkriegszuwanderung, doch anders als bei vorangegangenen Wanderungen und im Unterschied zur Gegenwart wurden die verschiedenen Glaubensrichtungen der neuen Einwanderer während dieses Zeitraums kaum thematisiert. Dieser Zugang ist vor dem Hintergrund einer untergehenden Kolonialmacht zu sehen, die an der Illusion eines Commonwealth mit gleichberechtigten Untertanen („subjects“) festhielt, aber die eigene Dominanz nicht aufgeben wollte. Das Gruppenmerkmal „race“ diente in der Endphase des Empires als allumfassendes Etikett, das weitere Differenzierungen überflüssig machen sollte. Eine neue Minderheitengeneration, die die Religion seit den 1980er-Jahren als wichtiges Element der Abgrenzung entdeckt hat, und das davon unabhängige Aufkommen des islamistischen Terrorismus haben die Phase des religiösen Desinteresses beendet.
Kürzlich hat Hans Günter Hockerts darauf verwiesen, dass in der sich diversifizierenden „jüngeren“ Zeitgeschichte Fragen nach Migration neben Geschlecht, Generation oder Konsum einen Aufschwung nehmen - womit die zeithistorische Forschung allgemeinen historiographischen Trends folgt. Dies ist ganz wesentlich Klaus J. Bade zu verdanken, der seit den späten 1970er-Jahren auf die Bedeutung der Migration von Polen und polnisch-russischen Juden nach Preußen und später in das Deutsche Reich für die Konstituierung der deutschen Nation hingewiesen und daraus allgemeinere Überlegungen zur Migration als Thema der Sozialgeschichte entwickelt hat. Auch durch das von ihm geleitete Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) wurde der Stellenwert der historischen Migrationsforschung in der deutschen Geschichtswissenschaft erhöht. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass Migration in der deutschen Zeitgeschichte eher als Spezialfeld bzw. als randständiges Phänomen der Sozial(staats)geschichte angesehen wird.
Seit den 1960er-Jahren wurden für die Migranten in der Bundesrepublik Radiosendungen und Zeitschriften in ihrer jeweiligen Nationalsprache produziert. Die Entwicklung dieser Medien wurde von weitgreifenden Konflikten geprägt, die sich im Kontext internationaler Auseinandersetzungen um die politische Beeinflussung der so genannten „Gastarbeiter“ entfalteten. Zum einen stand die Gründung und Finanzierung von „Gastarbeitersendungen“ bzw. „Gastarbeiterzeitschriften“ im Rahmen des Kalten Krieges: Die Medien sollten die Zuwanderer vom (befürchteten) Konsum fremdsprachiger Auslandsprogramme abhalten, welche die Ostblockstaaten zu propagandistischen Zwecken ausstrahlten. Zum anderen konnten die meist autoritären Heimatregierungen der Migranten die Kritik nicht dulden, die in den „Gastarbeitersendungen“ zum Ausdruck gebracht wurde. Daraus entwickelten sich schwerwiegende diplomatische und innerdeutsche Spannungen. Trotz aller politischen Schwierigkeiten orientierten sich die Programme inhaltlich vor allem an den sozialen Bedürfnissen der Migranten.
Seit sich die republikanische Regierungsform in Frankreich endgültig durchgesetzt hatte (1875), waren vier Gruppen von Franzosen Diskriminierungen ausgesetzt, die im Staatsangehörigkeitsrecht festgeschrieben waren: französische Frauen, die Ausländer heirateten; algerische Muslime, Eingebürgerte und Juden. Die Republik erkannte sie als Franzosen an, gewährte ihnen aber nicht in jeder Hinsicht gleiche Rechte. Heute sind diese Diskriminierungen verschwunden. Doch zwei der vier Gruppen – die Juden und die algerischen Muslime – tragen weiterhin die gelebte Erfahrung und die Erinnerung früherer Diskriminierungen, auch wenn sie inzwischen völlig gleichberechtigt sind und zum Teil Anerkennung oder Reparationen erhalten haben. Der Aufsatz soll verstehen helfen, warum dies so ist, und greift dafür auf psychoanalytische Erklärungsansätze zurück. In beiden Fällen gab es ein zweites Ereignis, das die schmerzliche Vergangenheit reaktivierte: eine Rede de Gaulles 1967 bzw. die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 1993. Dieses zweite Ereignis geschah in einer Zeit formaler Rechtsgleichheit und wies dennoch auf die Zeit der Diskriminierung zurück.
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemals deutschen Ostgebieten sowie aus Ostmittel- und Osteuropa ist seit den 1990er-Jahren wieder zu einem bedeutenden Thema der breiteren Öffentlichkeit geworden. Dies zeigen verschiedene Publikationen, Fernsehfilme und nicht zuletzt die Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“. Die Hinwendung der Öffentlichkeit zu diesem Thema war von einem Perspektivwechsel in der Geschichtswissenschaft begleitet. Auch hier fand und findet das Thema ein verstärktes Interesse, das sich in zahlreichen Tagungen und oftmals vergleichenden fachwissenschaftlichen Publikationen niederschlägt.
Nachdem sie über lange Zeit ein gleichsam illegitimes Studienobjekt war, hat die Geschichte der französischen Einwanderungspolitik inzwischen ihren Adelsbrief erhalten. Das Überangebot an Archiven mit ministeriellen Runderlassen, Verordnungen und Korrespondenzen hat es einigen Autoren ermöglicht, peinlich genaue Topographien der Verwaltungsbehörden zu liefern. Diese Analyse staatlichen Handelns beschränkt sich auf die Mitglieder der Ministerialkabinette und die hohen Funktionäre, vernachlässigt aber die Rolle derjenigen Beamten, die mit der Ausführung der Gesetze beauftragt sind. Um mit dieser Art Reduktionismus zu brechen, ziehe ich einen Blickwinkel vor, der sich auf die administrativen Praktiken konzentriert und bereits von Michel Foucault vorgeschlagen worden ist: „[...] es geht nicht darum, die regulierten und legitimen Formen der Macht in ihrem Kern und in ihren allgemeinen Mechanismen oder ihren Gesamtwirkungen zu analysieren. Es geht vielmehr darum, die Macht an ihren Grenzen, in ihren äußersten Verästelungen, dort, wo sie haarfein wird, zu erfassen, die Macht also in ihren regionalsten und lokalsten Formen und Institutionen zu packen, besonders dort, wo sie sich über die Rechtsregeln, von denen sie organisiert und begrenzt wird, hinwegsetzt und sich konsequent über diese Regeln hinaus verlängert, sich in die Institutionen eingräbt, in Techniken verkörpert und zu materiellen, vielleicht sogar gewaltsamen Interventionsinstrumenten greift.“ Ein solches Vorhaben legt es nahe, auf eine Quelle zurückzugreifen, die von den Migrationshistorikern bislang wenig herangezogen worden ist: die personenbezogenen Aufenthaltsdossiers, die von den Beamten der Präfektur geführt werden.2 Als Akten mit Personenstandsangaben unterliegen sie einer mindestens 60-jährigen Sperrfrist. Allerdings kann für wissenschaftliche Zwecke ohne weiteres eine Sondergenehmigung zur Akteneinsicht beantragt werden, wenn die Anonymität der genannten Personen garantiert wird.
Niall Ferguson, vormals Fellow and Tutor in Modern History in Oxford und jetzt Professor of International History an der Harvard University, steht ohne Zweifel in der Tradition debattierfreudiger und argumentationsstarker britischer Historiker. Neben fundierten Einzelstudien, vor allem zur Geschichte Hamburgs in der Weimarer Republik und zur Geschichte der Familie Rothschild, zielen seine häufig provozierenden Arbeiten auf eine breite historisch interessierte Öffentlichkeit.1 Mit seiner medialen Präsenz steht er in der Tradition britischer „Tele-Dons“ nach dem Vorbild des Oxford-Historikers A.J.P. Taylor. Der Blick in die Vergangenheit dient auch für Ferguson nicht allein der Aufklärung der Gegenwart, sondern als konkrete Handlungsanweisung in politischen Krisen und damit der Legitimation des Historikers als eines politischen Ratgebers. Dazu kommt die ausgeprägte Lust des Autors an der Dekonstruktion vermeintlich etablierter historischer Wahrheiten. Aber bereits im Falle seines provozierenden Buches über Großbritanniens Rolle im Ersten Weltkrieg2 monierten nicht wenige Rezensenten, dass Ferguson sich verzweifelt bemühe, Türen einzurennen, die seit langem offen stehen.
„Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse“. Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939
(2006)
Als Hitler am 6. Oktober 1939 seine Rede im Reichstag hielt, war der Angriffskrieg gegen Polen bereits zu Ende. Am 27. September hatten die Verteidiger Warschaus kapituliert, nachdem die deutsche Luftwaffe und Artillerie die polnische Hauptstadt nahezu verwüstet hatten. Einen Tag später vollzog der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag die Aufteilung Polens, die bereits im geheimen Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August beschlossen worden war. Der 1919 errichtete polnische Staat war zerschlagen worden - zum vierten Mal in der polnischen Geschichte.
Mit dem „rheinischen“ Kapitalismus ist in den vergangenen Jahren auch das bundesdeutsche Modell der Sozialpartnerschaft in die Krise geraten. Dies wirft neue Fragen nach seiner Entstehung als eines westeuropäischen Sonderfalls auf. Ein wichtiges, bisher jedoch wenig beachtetes Problem bestand in der ideellen und institutionellen Einbindung der Industriearbeiter, die der neuen bundesdeutschen Ordnung zunächst vielfach distanziert gegenüberstanden. Anhand einer Fallstudie zur kommunistischen Bewegung im Ruhrgebiet beleuchtet der Aufsatz den mentalen und habituellen Wandel der Arbeiterschaft nach 1945 sowie die institutionellen Konsequenzen dieses Wandels. Die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz mit dem „Arbeiterstaat“ DDR hatte dabei besondere Bedeutung. Die „nationale“ Deutschlandpolitik der DDR zerstörte einerseits ungewollt das kommunistische Betriebsmilieu und förderte den Niedergang direkten, autonomen Betriebshandelns. Andererseits verstärkte die kommunistische Herausforderung Bemühungen um eine positive Einbindung der Arbeiterschaft durch Gewerkschaften, Industrie und Staat. Angesichts einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber der politischen Reife der Arbeiter und in Abwehr der SED-Politik erneuerte sich die gewerkschaftliche Arbeit; sie verstand sich zunehmend als institutionalisierte Konfliktbewältigung durch professionelle Verbändepolitik. Infolgedessen waren die westdeutschen Gewerkschaften nicht länger Weltanschauungsgemeinschaften.