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Obdachlosen Männern wird aufgrund ihrer prekären Lebenssituation häufig eine »marginalisierte Männlichkeit« (Raewyn Connell) zugeschrieben. Welche Männlichkeitsformen diese soziale Gruppe von sich selbst öffentlich präsentierte, ist bisher aber noch unerforscht. Anhand des »Berber-Briefes« – einer von obdachlosen Männern selbst verfassten und vertriebenen Zeitung – und deutschen Straßenmagazinen werden Männlichkeitsentwürfe von Wohnungslosen oder ehemals Wohnungslosen analysiert. Dabei fällt auf: »Berber-Brief«-Autoren der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre präsentierten eine selbstbewusste »Protestmännlichkeit«, Straßenmagazinverkäufer der 2010er-Jahre eher eine von Dankbarkeit und Arbeitsethos geprägte »komplizenhafte Männlichkeit«. Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Die verschiedenen Medienformate, deren Professionalisierung und Kommerzialisierung waren dabei wichtig, aber auch die Bereitschaft von Obdachlosen, sich bestimmten Verhaltenserwartungen partiell anzupassen – als Folge einer Sozialpädagogisierung und Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen. Der Aufsatz trägt zu einer Geschlechter- und Zeitgeschichte der Armut bei, die auf die Betroffenen als Akteure fokussiert.
Homeless men are often ascribed a ›marginalized masculinity‹ (Raewyn Connell) due to their precarious existence, yet the forms of masculinity this social group has publicly presented to others have remained unexplored. The article analyses the masculinities of homeless or formerly homeless people on the basis of the ›Berber-Brief‹ – a newspaper written and distributed by homeless men themselves – and German street magazines. It is striking that the ›Berber-Brief‹ authors of the late 1980s and early 1990s projected a self-confident ›protest masculinity‹, while the street magazine sellers of the 2010s tended to display a ›complicit masculinity‹ characterised by gratitude and a strong work ethic. How can this shift be explained? The various media formats and their professionalisation and commercialisation were important here, as was the willingness of homeless people to partially adapt to certain behavioural expectations – as a result of a social pedagogisation and individualisation of social problems. The article contributes to a gender and contemporary history of poverty that focuses on the people affected as actors.
Stellen wir uns historisch Forschende der Zukunft vor, für die Fragen einer geschlechtersensiblen Sprache keine Rolle mehr spielen werden. Das Problem wird für sie seit langem obsolet geworden sein (so, wie sich im 20. Jahrhundert kaum jemand mehr fragen musste, wie man einen Hochadligen anzusprechen hatte, und im 21. Jahrhundert den Jüngeren die Anrede »Fräulein« für unverheiratete Frauen jedes Alters fremd geworden war). Stellen wir uns weiter vor, dass die historisch Forschenden sich in einem zukünftigen Jahr X für jene Menschen interessieren, die im frühen 21. Jahrhundert an Universitäten im deutschsprachigen Raum lernten. In schriftlichen Hinterlassenschaften dieser Zeit werden sie einer Vielzahl von Möglichkeiten begegnen, die Lernenden als Gruppe anzusprechen und deren Zusammensetzung mit Blick auf das Geschlecht sprachlich und typographisch zu erfassen: Student(inn)en, Student/innen, StudentInnen, Studentinnen und Studenten (oder vice versa), Studierende, Student_innen, Student*innen, Student:innen. Offensichtlich, diese Vermutung würden die Forschenden wohl anstellen, war in den Jahren um 2020 in Bezug auf die Bezeichnung geschlechtlicher Differenzen etwas in Bewegung geraten, ohne dass sich den Nachgeborenen die mit den Wörtern und Zeichen verbundenen Bedeutungen unmittelbar erschlössen. Gut möglich, dass sie zunächst ein leichter Schwindel erfassen wird, bevor sie sich an ihre sozial-, kultur- oder wissensgeschichtlichen Untersuchungen machen.
»Wir bummeln langsam die Donau hinab in Richtung Wien […].« Mit diesen Worten wandte sich am 29. Juli 1956 ein Reisender auf der Rückseite einer Ansichtskarte an seine Familie in Berlin. »Liebe kleine Mutti, liebe Omi, liebe Kinderchen!«, so redete er die Seinen an und unterzeichnete die Karte mit »Vati«. Der Absender war, zusammen mit seiner Frau, in Österreich unterwegs. Sein Postkartengruß ist auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, denn derartige stereotype Botschaften wurden viele verschickt. Bei genauerem Hinsehen aber ist diese Karte anders. Denn auf ihrer Bildseite ist nicht eine beliebige Donaulandschaft zu sehen, sondern die Stadt Mauthausen, die in der Nachkriegszeit zu einem Symbol für die nationalsozialistische Herrschaft in Österreich wurde. Die Geschichte der Gewalt, die sich in dieser Stadt zutrug, kommt auch auf der Rückseite der Karte zur Sprache.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Geschlechterordnung im Umbruch. Durch die allmähliche Rückkehr der Soldaten in die zivile Gesellschaft mochte der Beginn neuer Geschlechterkonstellationen angelegt sein, doch war anfangs nicht klar zu erkennen, in welche Richtung die Entwicklung gehen würde. Die verbreitete Vorstellung einer deutschen »Stunde Null«, der die Hoffnung auf einen – von der NS-Vergangenheit und den Massenverbrechen losgelösten – Neuanfang eingeschrieben war, wurde durch die mediale Inszenierung heldenhafter »Trümmerfrauen« verstärkt. Beide Mythen halten wissenschaftlichen Analysen nicht stand. Doch verweisen sie darauf, dass nach der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches die soldatische Männlichkeit ihr Verehrungs- und Orientierungspotential verloren hatte. »Der besiegte Held hat höchstens Anspruch auf Mitleid«, hatte beispielsweise Walther von Hollander, ein sowohl im Nationalsozialismus als auch in der Bundesrepublik beliebter Schriftsteller, Journalist und Lebensberater, in der Frauenzeitschrift »Constanze« 1948 in Bezug auf die deutschen Soldaten verkündet – und »Mitleid« war sowohl während als auch nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus negativ konnotiert. Statt der männlichen Soldaten waren zudem auf einmal die sich für das Wohl der deutschen Gesellschaft einsetzenden Frauen heroisierbar – zumindest dann, wenn sie den Schutt aus dem Weg räumten, den Krieg und NS-Herrschaft hinterlassen hatten.
Die DDR verstand die gesellschaftliche Rehabilitation von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen als sozialstaatliche Aufgabe. Während die Integration in die Arbeitswelt vergleichsweise gut erforscht ist, sind zu den Bereichen Wohnen und Mobilität noch viele Fragen offen. Welche Maßnahmen ergriff der Staat, um körperlich eingeschränkte Menschen in diesen Bereichen zu fördern? Welche Rolle spielten hierbei Kreisärzte und Stadtarchitekten? Welche Ergebnisse wurden in der Praxis erzielt? Erkennbar war vor allem seit Mitte der 1970er-Jahre das staatliche Bemühen, den Betroffenen mit Hilfsmitteln und Baumaßnahmen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Doch die begrenzten Ressourcen und die planwirtschaftlichen Strukturen des SED-Staates erschwerten dies. Zudem konnte der Abbau materieller Hürden neue Barrieren hervorrufen – etwa in Fußgängerzonen. Betroffene entwickelten deshalb eigene, durchaus erfolgreiche Initiativen. Anhand von Beispielen aus Karl-Marx-Stadt, Halle an der Saale und Greifswald bietet der Aufsatz Einblicke in einen Alltag von Menschen mit Behinderungen, der von Ambivalenzen und Handlungsspielräumen ebenso geprägt war wie von Beschränkungen seitens staatlicher Stellen.
Der Beitrag untersucht den Wandel der Freizeit- und Kurinfrastruktur für behinderte Menschen und ihre Angehörigen in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz. In der Bundesrepublik und in der DDR waren diese Maßnahmen sehr unterschiedlich organisiert und an die jeweiligen Familienideale angelehnt. Während das westdeutsche Müttergenesungswerk seit den 1950er-Jahren Sonderkuren für besonders belastete Hausfrauen anbot, blieben staatliche Freizeiten in der DDR zunächst Werktätigen vorbehalten. Gerade für Mütter behinderter Kinder ließ die DDR-Staatsführung der Diakonie eine Nische. Trotz solcher divergierenden Trägerstrukturen verlief der Wandel ost- und westdeutscher Angebote in ähnlichen Phasen. Im Westen war es der Contergan-Skandal Anfang der 1960er-Jahre, der eine stärkere Aufmerksamkeit auf die betroffenen Familien lenkte. Der Ausbau von Erholungsangeboten setzte sich auch »nach dem Boom« fort. Im Osten erkannte die SED-Führung ab den 1960er-Jahren die Versorgung der Angehörigen behinderter Menschen als Staatsaufgabe an und intensivierte ihr Engagement auch auf Druck von Eingaben Betroffener. Auffällig ist für beide deutsche Staaten, dass Väter lange Zeit eher abwesend blieben. Eine andere Gemeinsamkeit waren die fortbestehenden Barrieren an vielen Urlaubsorten.
In der Diskussion um den Strukturwandel der 1970er- und 1980er-Jahre haben musikkulturelle Vergemeinschaftungen bisher kaum eine Rolle gespielt. Der Aufsatz analysiert den Wandel von Klassenzuschreibungen an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Musikgeschichte über einen regionalen und räumlichen Zugriff. Dazu werden die Working Men’s Clubs im englischen Nordosten mit ihrer Verknüpfung von Arbeiterkultur und jugendkultureller Individualisierung während der »New Wave of British Heavy Metal« (NWOBHM) als Orte eines gesellschaftlichen Aufbruchs interpretiert. Wie gestaltete sich dort der Übergang von strukturellen zu kulturellen Klassenbeziehungen, und welche Folgen hatte dies für die weitere Entwicklung der Heavy-Metal-Kultur? Die Anbindung der NWOBHM an die Arbeiterklasse ermöglichte es einer entstehenden »neuen Mittelschicht«, zu der die Musiker häufig selbst gehörten, an der empfundenen Authentizität der »Working Class« zu partizipieren, während gleichzeitig postindustrielle Elemente mit einem jüngeren, auch weiblichen Publikum Einzug in die Working Men’s Clubs hielten.
Dieser Aufsatz erklärt die enorme Resonanz von Günter Wallraffs Bestseller »Ganz unten« (Erstausgabe 1985) mit den emotionalen Bedürfnissen und der soziokulturellen Verfasstheit der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft. Das Buch artikulierte soziale Abstiegsängste während einer wirtschaftlichen Strukturkrise mit hoher Arbeitslosigkeit. Es präsentierte eine binäre Weltsicht, die die expressive Emotionskultur der 1980er-Jahre reflektierte. Die nahezu apokalyptische Darstellung der westdeutschen Industriegesellschaft und ihres menschenverachtenden Umgangs mit migrantischen (Leih-)Arbeitern stand im Einklang mit der Weltsicht eines wachsenden grün-alternativen Milieus. Im Gegensatz zur populären Erinnerung war das Buch jedoch kein Wendepunkt in der öffentlichen Repräsentation der türkischen »Gastarbeiter«, für deren Erfahrungen Wallraff nach seiner Undercover-Recherche als »Ali« zu sprechen schien. Vielmehr verdeutlichte »Ganz unten« massive Defizite im Umgang mit Differenz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1980er-Jahre, gerade auch auf der Linken. Nicht Wallraffs Buch, sondern die damalige, bisher vernachlässigte deutsch-türkische Kritik daran markiert eine historisch signifikante antirassistische Traditionslinie, die bis in die Gegenwart reicht.
Im Dezember 2020 gab der schwedische Möbelhersteller IKEA bekannt, die weltweite Distribution seines gedruckten Warenkatalogs nach 70 Jahren einzustellen. Im deutschsprachigen Feuilleton wurde diese Nachricht zum Ereignis: »Auch das noch: Den IKEA-Katalog gibt’s nur noch digital«, stellte Jens Jessen in der »ZEIT« leicht ironisch fest. Angesichts der Unsicherheiten, die von der globalen Covid-19-Pandemie ausgingen, schien im nun umso wichtiger gewordenen Bereich des Wohnens eine weitere Konstante des Alltagslebens wegzubrechen. Der ausbleibende Katalog veranlasste einige Kommentator*innen zu sehr persönlichen Formen der Anteilnahme und Abschiedsbekundung. Mitunter ließen diese, nostalgisch gefärbt, das eigene Erwachsenwerden Revue passieren – schließlich waren die IKEA-Kataloge in den Industriestaaten weltweit ein Teil davon. So erscheint der Möbelkatalog als Medium zum Träumen, als warenästhetischer Coming-of-Age-Roman, der Jugendliche im Akt des Durchblätterns von Erwachsenenleben und Unabhängigkeit fantasieren lässt; als Schwelle in eine selbstständige, bessere Zukunft: »Du warst das Fenster, das reale Einrichtungshaus die Tür.« Das IKEA-Du, das in den Katalogen und Einrichtungshäusern propagiert wird – die Bundesrepublik hat es dankend umarmt und vielfach verflucht.
Extravagante Danksagungen in literarischen und wissenschaftlichen Büchern werden regelmäßig in den Massenmedien und auf Social Media zur Unterhaltung verbreitet und debattiert. Auch am Beispiel von in Danksagungen nicht erwähnten Mitarbeiter:innen und Ghostwritern werden verschiedene Auslegungen guter wissenschaftlicher Praxis und redlichen Schreibens diskutiert. Für Danksagungen interessieren sich jedoch nicht nur die Massenmedien, sondern erst recht die Wissenschaftler:innen selbst. Zwar sind akademische Danksagungen von der geistes- und geschichtswissenschaftlichen Forschung bisher kaum systematisch untersucht worden. Gleichwohl stellen sie einen von Fachkolleg:innen aufmerksam rezipierten Paratext dar, der ebenfalls der Unterhaltung dienen kann, durch den sie sich aber auch ein Bild vom jeweiligen Autor bzw. von der Autorin verschaffen. Anhand von Danksagungen wird überprüft, in welchen fachlichen Schulen sich die Autor:innen verorten, für welche Unterstützung sie sich bei wem bedanken, welche privaten Ansichten und Angelegenheiten sie preisgeben und inwiefern sie fachliche Konventionen einhalten. Umgekehrt ist dieser prüfende Blick der Kolleg:innen den Verfasser:innen von Danksagungen bekannt. Über die Geste hinaus bieten Danksagungen den Autor:innen daher die Möglichkeit, sich den Kolleg:innen als Wissenschaftler:in und (Privat-)Person zu präsentieren.