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(2004)
1964 gewann Richard Hofstadters im Jahr zuvor erschienenes Werk »Anti-intellectualism in American Life« den Pulitzer Prize in der Kategorie General Nonfiction. In dem bis heute immer wieder neuaufgelegten Buch geht Hofstadter (1916–1970) in vier Teilen den historischen Ursprüngen des seiner Überzeugung nach allgegenwärtigen Antiintellektualismus in den USA nach. Das Buch folgt dabei zugleich einem thematischen und chronologischen Aufbau, indem der Autor zunächst die religiösen Wurzeln des Phänomens bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt, um schließlich mit Überlegungen zum US-amerikanischen Schulsystem im 20. Jahrhundert zu enden. Im Lichte der aktuellen wissenschafts- und bildungsfeindlichen Disruptionen in den USA verdient das Buch eine erneute, historisierende Lektüre – mit Blick auf seine Leistungen und Grenzen.
Sidney Mintzʼ »Kulturgeschichte des Zuckers« ist längst ein Klassiker. Mintz (1922–2015) charakterisierte das Buch als Ergebnis einer langjährigen »Erforschung der Geschichte der Karibik und derjenigen tropischen, vornehmlich landwirtschaftlichen Produkte […], die mit der ›Entwicklung‹ dieser Region seit ihrer Eroberung durch die Europäer fest verknüpft sind« (S. 11). Ihn habe interessiert, wie und warum Europäer und Nordamerikaner zu Konsumenten karibischer Erzeugnisse wurden. »Und wenn man versucht«, so die programmatische Formulierung, »Konsumption und Produktion, Kolonie und Metropole zusammenzubringen, dann geschieht es leicht, daß man die eine oder die andere – den ›Mittelpunkt‹ oder den ›Außenrand‹ – nicht mehr so richtig scharf sieht.« (S. 13)
Grenzgänger des Wissens. Zur Historizität und Aktualität von Hans Peter Duerrs »Traumzeit« (1978)
(2025)
»Innerhalb kürzester Zeit wurden 150.000 Exemplare verkauft, so etwas kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.« Mit diesen Worten blickte der Ethnologe Hans Peter Duerr im Jahr 2009 auf sein Werk »Traumzeit« zurück, dessen Strahlkraft sich an den unzähligen Besprechungen in Fachzeitschriften und Feuilletons ablesen lässt. Der 1978 im linken, westdeutschen Syndikat Verlag publizierten Erstausgabe folgten in wenigen Jahren fünf weitere Auflagen. 1985 erschien eine Neuausgabe bei Suhrkamp, die ihrerseits stetig nachgedruckt wurde (zuletzt 2021 bzw. seither als Print on Demand), und zudem eine Übersetzung ins Englische. Auf dem Rücken des roten Suhrkamp-Bandes prangt der Tribut der Schweizer Zeitung »Die Weltwoche« an ein »mittlerweile berühmt gewordenes Kultbuch«. Während der Paratext die »Traumzeit« diskursiv in die luftigen Höhen eines wie auch immer definierten Kanons erhebt, tat der Bergsteiger Reinhold Messner dies 1979 ebenso performativ wie wörtlich, indem er das Buch in seinem Rucksack zusammen mit Werken von Platon und Tolstoi auf den K2 trug. Auch wenn Duerr partout keinen »Klassiker« geschrieben haben will, muss er sich heute das Etikett des »meist gelesenen Ethnologen der deutschen Nachkriegszeit« gefallen lassen. Kurz: Bei der »Traumzeit« handelte es sich, um die Wortschöpfung eines Fachrezensenten zu gebrauchen, fraglos um einen »Ethnobestseller«, der auch als solcher beworben wurde.
Wer im Berliner Humboldt Forum nach der »Zukunft der Benin-Bronzen« sucht, stößt auf eine Galerie sprechender Köpfe. Der gleichnamige Saal im Ostflügel des Gebäudes präsentiert als sein zentrales Ausstellungsobjekt eine Reihe von zehn hochkant gestellten, in Augenhöhe angebrachten Monitoren, auf denen neben Hermann Parzinger als Repräsentant der Institution auch ein Vertreter des Königshauses von Benin sowie Kurator:innen und Wissenschaftler:innen aus Deutschland und Nigeria in wohlabgewogenen Statements ihre Sicht auf die Zukunft der umstrittenen Sammlungsobjekte schildern. Immer, wenn eine Person das Wort ergreift, wenden sich die anderen ihr aufmerksam zu.
After World War II, many historians in the German-speaking world thought of the relationship between anthropology and history as being largely synonymous with that of ›everyday life‹ (Alltag) and ›structure‹. As Jürgen Kocka (b. 1941) wrote in a retrospective statement to the Zurich historian Rudolf Braun (1930–2012), one of the few prominent figures of ›ethnographic‹ social history especially in the 1970s and 1980s: ›For while we, a younger generation of social historians, have turned to the large structures and processes that conditioned, encompassed and shaped people’s lives, Braun has always supported us, but he insisted – in an untimely but fruitful way – on not missing the people’s »inside«: the experiences and habits, the hopes and disappointments, the everyday life and mentalities of common people in the age of industrialization.‹
Crowdfunding trat um 2010 als neue Praxis in Erscheinung. Unsere Fallstudie zum Schweizer Crowdfunding-Anbieter wemakeit verwendet die Plattform als Seismograph, um mediale, politisch-ökonomische, semantische, rechtliche, kulturelle und in einem weiteren Sinne gesellschaftliche Verschiebungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeithistorisch und empirisch-kulturwissenschaftlich zu diskutieren. Methodisch verbindet der Beitrag Quellenarbeit und halbnarrative Interviews unter anderem mit den Gründer:innen von wemakeit. Crowdfunding als soziokulturelle Praxis, die auf einer technischen Infrastruktur basiert, wird im Hinblick auf die mitkonstituierende Wissensproduktion kontextualisiert sowie an konkrete Akteur:innen, ihre Biographien und den lokalen Entstehungszusammenhang geknüpft. Zugleich aber sind es, so die These, gegenstandsbestimmende Grenzziehungen (semantisch, juristisch, politisch), welche die Spezifik von Crowdfunding-Plattformen prägen. Abschließend werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen einer zunehmenden Vermarktlichung von Kultur eingeordnet.
This article explores Swiss-Chinese economic entanglements since the 1970s. First, we show how China opened its economy to foreign direct investment (FDI), with Switzerland as a pioneer for Joint Ventures (JVs) in China (1970s–2000s). Second, we outline how Chinese technologies spread abroad, focusing on Chinese telecommunication companies in Switzerland (2000s–2020s). Representatives from the Swiss companies envisioned immense market opportunities in China. Their Chinese counterparts saw JVs as an opportunity to integrate into the world’s production system and acquire technological know-how as well as foreign currency. Building on and further developing this knowledge has enabled Chinese companies such as Huawei to become global market leaders. Technologies and investments are now making their way back to Europe, although not without contestation. In order to better understand Sino-Swiss and other global economic interactions, we need to creatively combine historical and ethnographic methods. This approach highlights the motivations and debates at both the giving and receiving ends, and how they change over time, thereby challenging one-sided narratives of Western and Chinese global capital flows and technology acquisitions.
In this article, we provide a new approach to circular economy in architecture based on the juxtaposition of historical sources and ethnographic data. We bring into dialogue historical practices of rubble reuse in Warsaw after the Second World War with contemporary efforts to salvage components in buildings slated for demolition in Vienna. The analysis of archival and published documents, construction and architecture magazines, and visual sources is combined with a participant observation in a start-up company in Vienna. Our research methods have led us to respond critically to the solutions presented by the current debates on the reuse of construction and demolition waste. For past and present reuse practices, we uncover and scrutinise a complex social and bodily reality often obscured by the images of seamless and endless circulation of construction materials promoted by policymakers, industry leaders, architecture professionals, and positivist academic researchers.
Der Nachlass des deutschen Kunstethnologen und Sammlers Hans Himmelheber (1908–2003) kam aus dem Privatbesitz seiner Familie an das Museum Rietberg Zürich. Ein Forschungsprojekt in Kooperation mit dem Historischen Seminar der Universität Zürich begleitete die Archivwerdung von Himmelhebers Dokumenten, Filmen, Fotos und Objekten vor allem aus der heutigen Côte d’Ivoire und der Demokratischen Republik Kongo. Die darin reflektierte Wissensproduktion zur Kunst Afrikas wurde multiperspektivisch und translokal untersucht, etwa mit Restudies. Weil Himmelhebers Theorien am Beginn eines Paradigmenwechsels hinsichtlich der materiellen Kultur Afrikas standen, weg von einer als anonym wahrgenommenen »tribalen« Handwerkskunst hin zur individuellen Künstlerpersönlichkeit, spielten auch zeitgenössische und heutige künstlerische Positionen eine wichtige Rolle im Projekt. Das Archiv wurde zum Feld, das es in unterschiedlicher Weise zu erkunden galt. Unsere Reisen in dieses »Feld« sind nun wiederum Bestandteile des von den Nachkommen übergebenen und durch die Bearbeitung (auch digital) neu geschaffenen Archivs Himmelheber.
»There is nothing new or eccentric about the suggestion that historians might profit from an acquaintance with anthropology«, schrieb der britische Sozial- und Kulturhistoriker Keith Thomas 1963. Er bezog sich damit seinerseits auf Debatten der 1930er-Jahre, die von dem Wirtschafts- und Sozialhistoriker Richard Henry Tawney angeregt worden waren, der damals an der London School of Economics wirkte. Thomas fügte jedoch sogleich hinzu, dass der Vorschlag einer engeren Verbindung von Geschichte und Anthropologie selten in die Praxis umgesetzt werde.
Games, Comics, Nazi-Verbrechen. Zur Funktion gezeichneter Bilder in historischen Serious Games
(2025)
Comic-Autor:innen haben einen produktiven Umgang mit medialen Eigenheiten gefunden, um Geschichte darzustellen, auch und gerade in Bezug auf traumatische Gewaltgeschichte und die NS-Massenverbrechen. Für Games hingegen kann dies eher noch nicht festgestellt werden. Dies gilt auch für solche Spiele, die dezidiert eine gedenkpädagogische oder geschichtsdidaktische Zielsetzung aufweisen, also historische Serious Games, die sich bisher noch stark an Comics zu orientieren scheinen. Diese mediale Form der sequenziellen gezeichneten Bilder weist einige spezifische Stärken als Form der populären Geschichtsdarstellung auf. In diesem Beitrag beschäftige ich mich daher mit der Frage, was passiert, wenn die gezeichneten Bilder eines Comics digital und interaktiv werden, das heißt die Repräsentation zu einem digitalen Spiel wird.
Comics oder Graphic Novels wurden in den letzten Jahren verstärkt in Erinnerungskultur und Geschichtsvermittlung zur NS-Zeit eingesetzt. Sie können das Unfassbare darstellen wie kaum ein anderes Medium. Da dieses Medium mit Abstraktionen auf der einen und Leerstellen auf der anderen Seite arbeitet, eignet es sich sehr gut dafür, sich traumatischen Erfahrungen nicht nur über die Textebene, sondern auch auf der visuellen Ebene anzunähern. Comics eignen sich zudem zur Darstellung in digitalen Medien. Doch was bedeutet das für die Erzählung von traumatischen Erfahrungen aus der NS-Zeit? Technische Möglichkeiten wie Augmented oder Virtual Reality können virtuelle Welten entstehen lassen oder die reale Welt durch virtuelle Elemente erweitern. Aber kann und darf man traumatische Erfahrungen mit diesen Möglichkeiten im digitalen Raum erzählen, wie es das interdisziplinäre Forschungslabor SPUR.lab erprobt hat?
In meinem 18-minütigen Animationsfilm „Kirschknochen“[1] erzähle ich aus heutiger Sicht, wie ich mit 14 Jahren zusammen mit meiner Familie Mitte der 1990er Jahre als „jüdische Kontingentflüchtende“ aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland übersiedelte. Ich erzähle aus meinen Erinnerungen, ich reflektiere meine Herkunft und Identität, die Bedeutung von Sprache und Kunst. Ich reflektiere die Entscheidung meiner Eltern, mich und meine Schwester in eine ihnen nicht bekannte Welt mitzunehmen. Dabei lasse ich meine Eltern selbst zu Wort kommen.
Das Medium Motion Comic kann in der historisch-politischen Bildungsarbeit vielseitig genutzt werden, um junge Menschen für die Zeitgeschichte zu interessieren. Denn das Medium ermöglicht Perspektivwechsel auf verschiedenen Ebenen und emotionale Zugänge – Aspekte, die in der Vermittlung von komplexen und historischen Zusammenhängen neben der reinen Wissensvermittlung grundlegend sind. Ausgehend vom Projekt „MoCom“ werden in diesem Beitrag zunächst die Bedeutung und Fähigkeit des kreativen Mediums Motion Comic erläutert, um diese dann beispielhaft anhand einzelner Beispiele zu konkretisieren.
Angesichts des exponentiell gewachsenen Bedeutungsgewinns von Bildlichkeit für Erinnerungseinrichtungen ist es sehr wichtig geworden, einen neuen Auftrag anzuerkennen: Neben der Vermittlung von Geschichte müssen Kurator:innen im digitalen und analogen Raum den Umgang mit Bildern, das Lesen visueller Informationen, das kritische Einordnen von historischen und zeitgenössischen Bildproduktionen als Bildungsauftrag annehmen. Bei der Vermittlung von „Visual Literacy“ können Comics und künstlerische Mittel helfen, um Perspektivwechsel und Erkenntnisgewinn zu ermöglichen.
Wie können Geschichten so erzählt werden, dass Leute sie hören wollen? Die Frage stellt sich allen, die ein Interesse daran haben, dass sich die Gesellschaft mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzt. Vor allem, wenn diese Geschichte schmerzhaft ist oder so lange zurückliegt, dass scheinbar keine Berührungspunkte zum aktuellen Leben mehr vorhanden sind. Eine mögliche Antwort darauf ist, aus der Geschichte wieder Geschichten zu machen – also den Regeln des Storytellings zu folgen und eine Dramaturgie aufzubauen. Wenn historische Geschehnisse nach diesen Regeln aufbereitet werden, sei es etwa literarisch oder filmisch, ist dem fertigen Produkt in der Regel nicht anzusehen, wo Leerstellen gefüllt wurden, um die Geschichte rund und interessant zu machen. Wird Geschichte in einer Graphic Novel erzählt, stellt sich die Frage nach Realitätstreue nicht in gleicher Weise. Denn die Zeichnung ist immer als ein künstlerisches Produkt erkennbar. Sie ist nicht mit der Realität zu verwechseln - die Form macht deutlich, dass hier mindestens eine Übersetzung stattgefunden hat.
Zeichnen als Instrument
(2025)
Durch Geschichts-Comics können Bilder zu einer Erzählung verbunden werden, ohne dass alles explizit beschrieben werden muss. Sie laden uns ein, tiefer in die visuelle Welt der Vergangenheit einzutauchen und über das nachzudenken, was wir sehen – und was wir nicht sehen. Gleichzeitig geben Comics uns die Freiheit, Geschichte visuell neu zu denken: Wie stellen wir uns eine Epoche vor? Wie sehen Frisuren, Häuser, Kleidung aus? Aber auch: Auf welchen Bildern basiert unser visuelles Verständnis der Vergangenheit, unsere Vorstellung von einem Ereignis? Comics können nicht nur Geschichte erzählen, sie hinterfragen auch, wie wir diese Geschichten erzählen. Und das Zeichnen zwingt uns dazu, genauer hinzusehen und uns bewusst zu machen, dass jede Linie, jede Figur und jedes Objekt eine Entscheidung ist – genau wie jede Formulierung in einem Text. Eine Zeichnung ist ist eine eigenständige Form der Überlieferung und eine Methode der Geschichtsschreibung.
Gäbe es einen Preis für den raffiniertesten Titel einer Ausstellung, der gekonnt Poesie und Metapher miteinander kombiniert, dann stünde „An den Rändern taumelt das Glück“ wohl auf der Shortlist. Der gleichlautende Begleitband zur Ausstellung überträgt diesen feinsinnigen Titel zudem in ein visuelles und haptisches Erlebnis. Ein Buch, dessen Gestaltung exzellent auf die abgebildeten Fotografien und Texte abgestimmt ist, das tatsächlich ein Glücksempfinden beim Betrachten, Blättern und Lesen auslösen kann. Einziger gestalterischer Wermutstropfen sind die in dem Falz versteckten kleinen Bildtitel, die das Auffinden der Informationen zu Ort, Zeit und Fotograf:in etwas erschweren.
Das Themendossier „Was man nicht sieht! Perspektivwechsel durch Comics“, dessen Beiträge auf Visual History veröffentlicht wurden, zeigt, wie anregend und methodisch innovativ es sein kann, sich mit dem Einsatz und der Funktion von Comics bei der Vermittlung von Geschichte zu beschäftigen. Wir dokumentieren mit dem Themendossier die Ergebnisse eines Workshops, der im Februar 2024 am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) stattgefunden hat. In drei Panels sowie einem World-Café mit Comic-Künstler:innen wurden Comics in Publikationen, Gedenkstätten-Ausstellungen, Filmen und digitalen Spielen sowie in VR-Anwendungen anhand konkreter Praxisbeispiele genauer in den Blick genommen. Dabei standen folgende Fragen im Vordergrund: Wie werden Comics in der Geschichts- und Erinnerungskultur genutzt, um marginalisierte Akteur:innen, aber auch Ereignisse sichtbar zu machen bzw. aus einer anderen Perspektive zu erzählen? Wie wird Gewalt thematisiert? Verändern die künstlerischen Darstellungen tradierte Bilder und Narrationen in Hinblick auf Konstruktion, Quellenkritik und Leerstellen von Geschichtserzählungen? Und ermöglichen die subjektiven Bildergeschichten eine stärkere Partizipation der Rezipient:innen?
Periodisierung
(2025)
Wenn Geschichte einem berühmten Diktum zufolge „die Sinngebung des Sinnlosen“ ist, so ist es zunächst die Periodisierung, die der als sinnlos empfundenen Fülle von Ereignissen rationale, d.h. disziplinspezifische Konturen verleiht.
Periodisierung ist ein Hilfsmittel der Geschichtsschreibung, das der Gliederung des Stoffs dient. Allerdings sind die Grenzen zwischen Zäsur, Strukturbruch, Epoche und Periode fließend und die Bedeutungen des damit jeweils Gemeinten umstritten und daher diskussionsbedürftig.
Tätigkeitsbericht 2006-2007
(2008)
Tätigkeitsbericht 2000
(2001)
Die Besucher: innen der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen stehen vor Ort vor einer Herausforderung: Am historischen Tatort des Massakers von Gardelegen, bei dem in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1945 über 1000 KZ-Häftlinge ermordet wurden, werden sie mit einem Verbrechen konfrontiert, zu dem nur wenige Primärquellen überliefert sind. Die Gedenkstätte möchte den Besucher:innen jedoch eine Annäherung an das Thema und gleichzeitig einen Ansatz bieten, zu verstehen, wie es im April 1945 in einer ländlichen Region kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch zu einem der größten Endphaseverbrechen kommen konnte. Dieser Anspruch wird dort zum Problem, wo es nur wenig überliefertes Quellenmaterial gibt, das für geschichtsdidaktische Zwecke geeignet ist. Notwendig wird somit ein anderes Medium, das zusätzlich das didaktische Dilemma der Unzeigbarkeit der historischen Beweisaufnahmen bricht und es vermag, die Betrachter: innen auf andere Weise mit den historischen Tatsachen der Ereignisgeschichte zu konfrontieren: Zeichnungen im Stil einer Graphic Novel.
Im Folgenden wird zunächst der historische Kontext dargestellt und dann exemplarisch auf die Frage eingegangen, wo durch den Einsatz zeichnerischer Elemente neue Perspektiven auf die Geschichte des Massakers von Gardelegen eröffnet werden können.
Vor fast 35 Jahren veröffentlichte der Historiker Michael F. Scholz den wohl ersten deutschsprachigen Aufsatz zu Comics als neue historische Quelle. Sein damals noch revolutionärer Zugang ist zunächst dank Geschichtsdidaktiker:innen und später auch durch Zeithistoriker:innen etabliert worden. In meinem Beitrag soll es vor allem um den Comic als Erinnerungsmedium gehen, also als Medium, in dem einerseits individuelle Erinnerungen visualisiert werden, das aber andererseits auch als Ausdruck von spezifischen (kollektiven) Erinnerungen verstanden werden kann. Als solches wird der Comic bereits verhandelt und im interdisziplinären und praxisorientierten Raum diskutiert und eingesetzt. Daher lohnt es sich, hier aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive den Comic als Erinnerungsmedium vorzustellen und nach seinen spezifischen Funktionen zu fragen.
Das Kanzleramt und der Nationalsozialismus. Transparenz-Postscriptum zu einem Forschungsprojekt
(2025)
Zusatzinformationen zum Beitrag Christian Mentel, Das Kanzleramt und der Nationalsozialismus. Sechs Fallstudien zum Umgang mit biografischen Belastungen, früheren Verfolgten und zeitgenössischem Rechtsextremismus, in: Jutta Braun, Nadine Freund, Christian Mentel, Gunnar Take, Das Kanzleramt. Bundesdeutsche Demokratie und NS-Vergangenheit. Herausgegeben von Johannes Hürter, Thomas Raithel, Martin Sabrow, Thomas Schaarschmidt, Annette Vowinckel und Andreas Wirsching, Göttingen: Wallstein 2025, S. 555-664
Reichtum
(2025)
In den letzten Jahrzehnten ging die Schere zwischen den Reichen und der übrigen Gesellschaft immer weiter auseinander. Vor diesem Hintergrund wurden Ungleichheit und Reichtum nicht nur von den Sozialwissenschaften und anderen Disziplinen als Forschungsthemen wiederentdeckt, sondern zuletzt auch von Historiker:innen.
Bei „Reichtum” handelt es sich sowohl um einen Quellenbegriff als auch um ein analytisches Konzept, das heutigen geschichtswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Forschungen zu diesem Thema zugrunde liegt, wie sie in diesem Artikel vorgestellt werden.
Mihály Moldvay ist 1962 als „Gastarbeiter“ aus Jugoslawien in die Bundesrepublik gekommen. Statt – wie gedacht – nach einiger Zeit mit dem als Autoschlosser verdienten Geld in seine Heimat zurückzukehren, ist er geblieben. Moldvay machte eine Ausbildung zum Fotoreporter und arbeitete 35 Jahre lang als einer der wenigen festangestellten Fotojournalisten beim „Stern“. Am 1. Januar 2024, ist Mihály Moldvay verstorben. Ich habe ihn im Frühjahr 2020 kennengelernt und Interviews sowie viele Gespräche mit ihm geführt. Gemeinsam sahen wir uns in seinem Wohnzimmer seine Fotoreportagen an und viele Bilder, die nicht für die Reportagen ausgesucht wurden und in dicken Leitz-Ordnern darauf warteten, wiederentdeckt zu werden.
Im Rahmen unseres Praxisprojekts im Masterstudiengang Public History haben wir uns intensiv mit der Sammlung Peter Plewka auseinandergesetzt und auf Basis der über 5500 digitalisierten Ansichtskarten aus Berlin-Kreuzberg vor 1945 eine digitale Ausstellung kuratiert. Peter Plewka widmete sein Leben der Sammlung von Objekten rund um Kreuzberg – von Postkarten und Fotografien bis hin zu Büchern und Bierdeckeln. Nach seinem Tod im Jahr 2022 gingen Teile seines Nachlasses an das FHXB Museum. Im Folgenden möchten wir einen Einblick geben, wie wir die historische Quelle „Ansichtskarte“ für eine solche Ausstellung erschlossen und nutzbar gemacht haben.
In der Einleitung bezeichnet Gerhard Paul etwas kokett die Bundesrepublik Deutschland als „alte Dame“, aus deren „Bilderschatz“ er ein „Album“ zusammengestellt habe – ist er doch selbst kaum jünger und somit ihre Geschichte mit der seinen nahezu deckungsgleich (Disclaimer: die des Rezensenten auch). Ganz in der Tradition mikrohistorischer Bildforschung stellt Paul fast jedem Kapitel seines historischen Narrativs einen Bildfund – als Fotografie, TV-Serie-Still oder Performance-Dokumentation – voran, an dem er wesentliche Elemente einer zeitspezifischen Visualisierung festzumachen sucht. Umgekehrt wird seine breit angelegte Geschichtserzählung von jeweils zahlreichen Bildbeispielen illustriert, auf die im Lauftext mehr oder weniger eingegangen wird. Entstanden ist so ein Buch mit vielen Bildern und noch mehr Text.
Das Sammeln und Einkleben von Bildern ist bereits eine langlebige, weltweit ausgeführte Praxis. In den 1920er bis 1940er Jahren befand sich diese mit der Verbreitung von Zigarettensammelbildern auf einem Höhepunkt. Sie zeigten dabei diverse Motive, wie Kunstwerke, Naturbildnisse, Flaggen, aber auch Berühmtheiten aus Film und Sport. In Deutschland dominierte die Zigarettenfirma Reemtsma den Markt und beteiligte sich mit dem hauseigenen Cigaretten-Bilderdienst Altona-Bahrenfeld an dieser Marketingstrategie. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kooperierte die Firma mit der NS-Regierung und veröffentlichte und vertrieb im Zeitraum 1933 bis 1936 vier Sammelalben, die in Zusammenarbeit mit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) gestaltet wurden und offensichtliche NS-Propaganda zum Inhalt hatten.
Die älteste deutsche Bildillustrierte „Stern“ beging im August 2023 ihr 75-jähriges Bestehen. Das Verlagshaus feierte das Jubiläum in einer Sonderausgabe mit je einem doppelseitigen Foto für jedes Jahr. Hier wiederholte sich ein Muster, das schon die Jubiläumshefte von 1988, 1998 und 2018 erkennen ließen: Der „Stern“ wurde in der Geschichte seiner Anfangsjahre ein weiteres Mal in ein von den Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit befreites, weltoffenes Licht gerückt. Die Originalhefte ab 1948 geben jedoch eine sehr viel differenziertere Auskunft über Brüche und Kontinuitäten in der Magazingeschichte. In diesem Text soll, zwangsläufig ausschnitthaft, anhand verschiedener Beispiele aus dem Bildjournalismus eine quellengestützte Analyse der Illustrierten „Stern“, der behandelten Themen und gezeigten Fotografien aus der ersten Dekade ihres Erscheinens von 1948 bis 1959 erfolgen. Hierbei werden sowohl die personellen Kontinuitäten und ersten Umbrüche im generationellen Wechsel von Redakteuren und Fotografen als auch inhaltliche Bezüge der verwendeten Fotografien zum NS-Staat betrachtet. In Einzelfällen werden auch Vergleiche zu Konkurrenzblättern hinzugezogen, um zu einem abgewogenen Urteil in der Frage nach Ausnahme oder Regel hinsichtlich einer personellen und inhaltlichen NS-Kontinuität im bundesrepublikanischen (Bild-)Journalismus der 1950er Jahre zu kommen.
Kolonialismus ist Teil vieler europäischer Familiengeschichten: Bis heute bewahren Familien Tagebücher, Militaria oder Beutestücke auf, die VorfahrInnen als koloniale AkteurInnen nach Hause gebracht haben. Sie bezeugen nicht nur familiäre Verstrickungen, sondern haben obendrein über Jahrzehnte hinweg kollektive Vorstellungen über die koloniale Vergangenheit geprägt. Fotografien waren daran - als vermeintlich authentische Zeugnisse - ganz wesentlich beteiligt. Über den Tod der »Erlebnisgenerationen« hinaus vermittelten sie koloniale »Erfolgsgeschichten«, wodurch Familien zu einem Hort kolonialer Geschichtsmythen, etwa der »anständigen« KolonialherrInnen, wurden. Dieses Buch nimmt die kolonialen Bildbestände von Familien in der italienischen Provinz Bozen / Bolzano in den Blick, deren (Groß-)Vätergeneration am faschistischen Kolonialkrieg gegen das Kaiserreich Abessinien (1935-1941) teilgenommen hatte. Markus Wurzer untersucht die »sozialen Leben« kolonialer Bilder, also wie und wozu diese durch Soldaten und ihre Familien (re-)produziert, gebraucht und über Generationen hinweg weitergegeben wurden.
London war in den 1930er und 1940er Jahren eine Metropole des künstlerischen Exils und ein Ort der Zuflucht vor nationalsozialistischer Verfolgung. Exilierte gründeten Galerien, Verlage und Zeitschriften, sie kooperierten mit lokalen Künstler:innen, organisierten Ausstellungen, verbanden sich in Netzwerken.
Das Buch Exil London widmet sich dem vielfältigen Wirken von Emigrant:innen aus Kunst, Fotografie und Architektur in Auseinandersetzung mit ihrer Exilstadt. Wie veränderte sich die Kunstszene durch die Ankunft der Exilierten? Welche kulturellen Infrastrukturen wurden aufgebaut? Wie prägten die Exilerfahrung und die Stadt selbst das Werk der Emigrant:innen? Exil London behandelt neben bekannten urbanen Räumen wie dem Hyde Park auch ungewöhnliche Orte wie den Londoner Zoo, das Krematorium Golders Green, die Finchley Road, das Haus des Architekten Erno Goldfinger als Ausstellungsort, das Wohnhaus des Psychoanalytikers Sigmund Freud oder die Straßenmärkte der Stadt. Kunstwissenschaft, Stadt- und Exilforschung sind im Buch dynamisch aufeinander bezogen und leisten gemeinsam einen Beitrag zu einem neuen Verständnis der Kunstgeschichte der Moderne.