943 Geschichte Mitteleuropas; Deutschlands
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Die »Wende« als Form der Kolonisierung? Zur Genese und Aktualität eines populären Deutungsschemas
(2023)
Bei der Lektüre des 2023 erschienenen Bestsellers »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« von Dirk Oschmann sowie beim Nachvollzug der bisweilen heftigen Diskussionen, die dieses Buch ausgelöst hat, bekommt man unweigerlich das Gefühl, einer Orientalismus-Debatte 2.0 beizuwohnen. Zur Erinnerung: Edward Saids 1978 publiziertes Buch »Orientalism«, in dem ausgehend von primär wissenschaftlicher Wissensproduktion die koloniale Zurichtung und Erfindung des Orients beschrieben und kritisiert wird, gilt gemeinhin als einer der Gründungstexte postkolonialer Kritik. Tatsächlich lesen sich die Ausführungen des Leipziger Literaturwissenschaftlers Oschmann stellenweise so, als ob Ostdeutschland und die Ostdeutschen einem westdeutschen Zugriff quasi hilflos ausgeliefert wären. Gerade diese Zuspitzung wurde von einigen Kommentator*innen kritisiert, ähnlich wie bei der Orientalismus-Debatte im Anschluss an Said. Überhaupt fällt auf, dass Oschmann, wenngleich er sich nicht systematisch mit postkolonialer Theorie auseinandersetzt, so etwas wie eine postkoloniale Rhetorik in Anschlag bringt. Zum Beispiel heißt es an einer Stelle, »dass die Art und Weise, was und wie über ›den Osten‹ öffentlich geredet, geschrieben und gesendet wird, in Form von konstant negativen Identitätszuschreibungen und Essentialisierungen, komplett vom ›Westen‹ beherrscht und durchherrscht ist«. Zudem fällt auf, dass zwar auch der Kolonisierungsbegriff nicht systematisch zum Einsatz kommt, gleichwohl aber der Kolonialismus als historische Referenz erwähnt wird: »Dem Osten […] ›Demokratiefeindlichkeit‹ vorzuwerfen, ist nicht nur zynisch, sondern folgt obendrein einem seit Jahrhunderten eingeführten Herrschafts- und Diskursmuster, mit dem der westliche Kolonialismus verschiedener Couleur seine Hegemonie zu begründen sucht.« Ostdeutschland also als westdeutsche Kolonie? Und postkoloniale Kritik als Analyse-Tool für postsozialistische Dynamiken?
Anfang 1933 war die international hochangesehene Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) bereits eine vergleichsweise altehrwürdige wissenschaftliche Einrichtung. Gegründet wurde sie 1911 als Großorganisation der deutschen Spitzenforschung. Aufgrund exzellenter Arbeitsbedingungen in den Instituten der KWG konnten zahllose Spitzenforscher gewonnen werden; Namen wie Max Planck, Otto Hahn, Lise Meitner, Albert Einstein, Adolf Butenandt, Werner Heisenberg und viele andere sagen genug. Institutionell gegliedert war die KWG in fünf große Säulen.
Der vorliegende Aufsatz analysiert, wie die aus damaliger und heutiger Sicht unerwartet große Flüchtlingshilfe gegenüber den vietnamesischen »Boat People« aufkam und ihre starke Dynamik gewann. Untersucht wird, welche Rolle zivilgesellschaftliche Gruppen, die staatliche Bürokratie, politische Parteien sowie Medien dabei spielten und wie diese bei der konkreten Aufnahme von Flüchtlingen interagierten. Dabei wird erstens gezeigt, dass anfangs vor allem öffentlicher Druck die sozialliberale Regierung zu einer Aufnahme der Indochina-Flüchtlinge bewegte, sich dann aber zivilgesellschaftliches und staatliches Handeln wechselseitig ergänzten. Das zweite Argument lautet, dass der öffentliche Druck insbesondere durch mediale Kampagnen und durch christdemokratische Initiativen aufkam, die entschieden für die Aufnahme der Flüchtlinge eintraten. Eine wichtige Rolle spielte dabei, so die dritte These, dass die »Boat People« diskursiv mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verbunden wurden – speziell mit der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Viertens zeigt der Aufsatz, wie Techniken der Flüchtlingsaufnahme und neue Formen humanitärer Hilfe entstanden, die sich als zivilgesellschaftlicher und bürokratischer Wandel interpretieren lassen.
Dass Spielfilme über den Nationalsozialismus die Erinnerungskultur prägen, ist kaum zu bestreiten. Insbesondere die TV-Serie „Holocaust“ gilt als eine Zäsur, die zugleich zahlreiche neue Forschungen provozierte. Wie entwickelte sich die filmische Erinnerungskultur seit „Holocoust“ bis heute? Und in welcher Beziehung standen diese Filme zur Geschichtswissenschaft? (...)
Mit der Wende des Zweiten Weltkrieges und dem beginnenden Rückzug der Wehrmacht entstand für die Menschen, die in den besetzten Gebieten mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten, eine neue Situation. Die Rückkehr der alten Machthaber, in deren Augen sie Landesverräter waren, würde ganz sicher Repressionen für sie bedeuten. Dabei war die Motivation zur Zusammenarbeit irrelevant, ja sogar der Grad der Freiwilligkeit. Kollaboration wird hier also im ursprünglichen Wortsinne von Zusammenarbeit gefasst. Ob diese erzwungen, aus Not, taktisch, opportunistisch oder aus Überzeugung erfolgte, oder gar als Kooperation zu kennzeichnen ist, spielte für die Angst vor Vergeltung keine primäre Rolle...
Der Aufsatz widmet sich einer ungewöhnlichen Gruppe von Berliner Grenzgängern: den vor Ort stationierten US-Soldaten. Für sie (wie auch für die Soldaten der britischen und französischen Armee) markierte die Mauer einerseits die Front des Kalten Krieges, andererseits durften sie diese ohne große Kontrollen passieren und ihre Freizeit in Ost-Berlin verbringen – was sie besonders in den 1970er- und 1980er-Jahren auch intensiv taten, denn in Zeiten der Dollarkrise versprach die östliche Stadthälfte viel Vergnügen, Restaurantbesuche und Einkaufsmöglichkeiten für wenig Geld. Die DDR-Regierung war genötigt, die Grenzgänge zu tolerieren. Von dieser Form des Tourismus konnte sie finanziell profitieren, versuchte konkrete Kontaktaufnahmen aber zu vermeiden. Der Umgang mit den Grenzgängen amerikanischer Soldaten und ihrer Familien verdeutlicht somit auch die Ambivalenz von politischer Öffnung und zunehmender Überwachung, von internationaler Verflechtung und Binnenerosion in der Ära Honecker. Der Beitrag stützt sich vor allem auf Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der Berliner Senatskanzlei und der amerikanischen Berlin Brigade sowie auf zeitgenössische Presseartikel.
»I have a confession to make, Chief, but please don’t get a shock.« Mit diesen Worten beginnt ein 40-seitiger, für die transnationale Geschichte des Nationalsozialismus bedeutsamer Bericht von Willy Brandt an Louis P. Lochner aus dem Jahr 1946. Nicht der spätere Bundeskanzler, sondern Willy Erwin Hermann Brandt, Geschäftsführer der Associated Press GmbH bis Ende 1941, beschrieb darin seinem früheren Vorgesetzten Lochner, dem Chef-Korrespondenten der Associated Press (AP) in Deutschland, die Zusammenarbeit von AP und NS-Regime in den Jahren 1942–1945. Der bisher in der Forschung unbekannte, auf schlechtem Durchdruckpapier verfasste Report in Lochners Nachlass in Madison/Wisconsin mutet wie ein Agenten-Thriller an: Demzufolge tauschte die amerikanische Nachrichtenagentur von 1942 bis zum Frühjahr 1945 mit einer geheimen Agentur von SS und Auswärtigem Amt in Berlin, dem »Büro Laux«, ständig Fotomaterial aus...
Der Aufsatz beleuchtet einen von der migrationsgeschichtlichen Forschung bisher vernachlässigten Raum und seine Akteure: den Flughafen. Der Frankfurter Flughafen ist von besonderem Interesse, weil er sich zum größten Transitdrehkreuz in der Bundesrepublik entwickelte und seit den 1980er-Jahren auch ein Experimentierfeld für den Umgang mit Asylbewerber:innen wurde. Im Zentrum stehen die Positionen und Konflikte von Akteur:innen, die in Asylfälle und Zurückweisungen am Flughafen involviert waren – allen voran der Bundesgrenzschutz, der Flughafensozialdienst und die Migrant:innen selbst. Gezeigt werden zum einen die Folgen übergeordneter Politiken im konkreten Raum. Zum anderen offenbart die lokale Konfliktgeschichte auch Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten im komplexen Grenzraum der Transitzone, die wiederum auf größere politische Zusammenhänge und Regulierungsversuche wie das Flughafenasylverfahren zurückwirkten. Deutlich wird außerdem, dass Zurückweisungen an der Grenze und Abschiebungen/Zurückschiebungen aus dem Inland nicht immer klar zu trennen sind.
The airport is a neglected space in research on the history of migration. The article sheds light on this space, its characteristics, and the various actors involved with a focus on Frankfurt Airport. This airport developed into the largest transit hub in the Federal Republic of Germany and, since the 1980s, has become a testing ground in terms of how asylum seekers are dealt with. The article zooms in on the divergent positions of, and conflicts between, the various actors involved in asylum cases and refoulement (forced returns) at the airport; mainly the Federal Border Police, the Airport Social Services (Flughafensozialdienst), and the migrants themselves. It reveals how broader immigration policies played out on the local level in the complex border space that was the airport transit zone. Furthermore, it shows how, in turn, local actors and developments had an impact on policy-making and regulations at the state level, such as the Airport Asylum Procedure. Finally, the article challenges readers to question the common distinction between people being sent back at the (airport) border and deportations from within the country.
In der Geschichtswissenschaft wurde in den letzten Jahren häufiger für eine transnationale Perspektive geworben. Diese soll die bislang eher national orientierte Geschichtsschreibung erweitern, indem Interaktionen, wechselseitige Wahrnehmungen und Transfers zwischen Ländern und Kulturen berücksichtigt werden. Bislang sind entsprechend konzipierte Studien jedoch noch rar, wenngleich viele Projekte in Arbeit sind. Zudem fällt eine gewisse Schwerpunktbildung auf: Epochal konzentrieren sie sich meist auf das ausgehende 19. Jahrhundert und die 1960/70er Jahre, thematisch auf einzelne Themen wie den Kolonialismus, die Migration, Wirtschaft, Wissenschaft oder soziale Netzwerke. Damit blieben viele klassische Bereiche der Zeitgeschichtsforschung eher ausgespart - wie der Nationalsozialismus (...)
Cemal Kemal Altun nahm sich am 30. August 1983 durch einen Sprung aus dem sechsten Stock des Berliner Verwaltungsgerichts das Leben. Damit wollte er seiner Abschiebung in die Türkei und der dort drohenden Folter entgehen. Dreizehn Monate Auslieferungshaft und ein zermürbendes Rechtsverfahren machten den »Fall Altun« zum Symbol der Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit bundesdeutscher Ausweisungspraxis. Der Hohe Kommissar für Flüchtlingsfragen der Vereinten Nationen ermahnte die deutschen Behörden, ihre inhumane Behandlung von Migrant*innen zu beenden. Der Europarat protestierte, und die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg wurde hinzugezogen. In der Bundesrepublik traten Aktivist*innen in Hungerstreik, und etwa 10.000 Menschen setzten ein Zeichen, als sie Altuns Leichenzug durch West-Berlin in einen Protestmarsch verwandelten. Anti-Abschiebe-Proteste nahmen zu und institutionalisierten sich Mitte der 1980er-Jahre in Form von Kirchenasyl, Flüchtlingsräten, Pro Asyl, Fluchtburg-Bewegung, migrantischer Selbstorganisation und antirassistischen Initiativen.