900 Geschichte und Geografie
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»Geschmack klassifiziert«, schrieb Pierre Bourdieu (1930–2002) in seiner Studie »Die feinen Unterschiede«. Er klassifiziere nicht zuletzt den, der die Klassifikation vornehme (S. 25). Der französische Soziologe umriss damit eine zentrale These seiner Untersuchung. Schließlich ging es ihm darum zu zeigen, dass kulturelle Praktiken und ästhetische Vorlieben – für diesen oder jenen Film, diese Möbel, jene Kleidung – soziale Unterschiede nicht nur widerspiegeln, sondern auch festigen. Was ich esse, schön oder hässlich finde, weist mich demnach als Angehörige oder Angehörigen einer bestimmten sozialen Klasse aus. Es drückt sich darin ein Habitus aus, der mich mit anderen verbindet, die über einen ähnlichen Bildungsgrad, eine ähnliche soziale Herkunft und ähnliche Existenzbedingungen verfügen...
Mit den meisten bedeutenden Wissenschaftstheoretikern des 20. Jahrhunderts hat es die eigentümliche Bewandtnis, dass sich ihr Ruhm auf ein einziges Werk gründet, gegenüber dem ihre anderen Arbeiten wie Nebenwerke erscheinen. Das gilt für Ludwik Flecks »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« (1935) ebenso wie für Thomas Kuhns »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (1962) und Karl Poppers »Logik der Forschung« (1934). Auf Paul Feyerabend (1924–1994) trifft die Ein-Buch-Berühmtheit in besonderem Maße zu...
Research on the commons, and its historical enclosure, has largely restricted itself to rural areas and the frontier. This article examines the declining access to Rio de Janeiro’s urban commons, its streets and its squares. Into the nineteenth century, residents perceived Rio’s streets as remnants of nature, left intact to give access to the built environment. The streets served as a diverse human habitat, a place for community, play, work, and commerce. With the arrival of the automobile, Rio’s public spaces began to be transformed into spaces set aside largely for movement. The automotive class, which in Brazil remained a tiny minority, captured most of the streets’ spaces for driving and its squares and sidewalks for parking, in a sense closing the street off to many of its former functions. In fact, automotive movement justified – and its violence enforced – the elimination of street behaviors which the elite had been decrying unsuccessfully for decades. Compared to the developed world, the pace of automobilization in Rio was slow, but it had a profound impact from as early as the second decade of the century.
Am 12. April 1945, acht Tage nachdem die letzten deutschen Truppen ungarisches Staatsgebiet verlassen hatten, erschien Frau S. in den Räumlichkeiten der kurz zuvor gegründeten »Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen« (Náci és nyilas rémtettek kivizsgálására alakult bizottság, im Folgenden: »Verbrechens-Kommission«). Sie gab ein Gewaltverbrechen zu Protokoll, welches sich drei Monate vorher im jüdischen Krankenhaus in der Budapester Maros-Straße ereignet hatte...
Seit dem erfolglosen Putsch am 15. Juli 2016 gilt in der Türkei der Notstand. Mitte April 2017 stimmten nun 51,4 Prozent der Wahlberechtigten für eine Verfassungsänderung, die dem Präsidenten weitreichende Befugnisse verleiht. Der Wahlkampf hatte das Land stark polarisiert, das Referendum war eine Abstimmung für oder gegen das »System Erdoğan«. Aber auch nach der Wahl hat sich die Lage nicht beruhigt – die Opposition zweifelt an der Rechtmäßigkeit der Abstimmung, unter anderem weil kurzerhand 2,5 Millionen ungestempelte Wahlzettel zugelassen wurden...
Neben der mittlerweile weit verbreiteten Praxis des Reenactments spielen im katholisch geprägten Polen religiöse, aber auch säkulare Symboliken auf Friedhöfen oder im Stadtbild eine wichtige Rolle in der nicht-staatlichen kollektiven und individuellen Erinnerung. Auch Murals und besonders Graffiti sind bereits seit den 1980er Jahren moderne Ausdrucksmittel vor allem jugendlicher Akteure, die ihre Emotionen und Einstellungen durch das Bemalen oder Besprühen öffentlicher Flächen externalisieren. Im Falle der Erinnerung an den Warschauer Widerstand und Aufstand zielt die künstlerische Intervention auf konkret geschichtspolitischem Terrain auf Fragen der Interpretation des Vergangenen und dessen Wert(ung) für die Gegenwart.
Klaus Ender wurde 1939 in Berlin geboren. Aus politischen Gründen flieht er 1957 aus der DDR und schließt in Friedrichshafen am Bodensee eine Ausbildung als Bäcker ab. Nach eineinhalb Jahren kehrt er in die DDR zurück. Auf Rügen gründet er den Fotoclub Saßnitz. 1963 entstehen erste Aktaufnahmen. Zwei Jahre später werden Fotos von ihm in der Zeitschrift „Das Magazin“ veröffentlicht. Nach seiner Zulassung als Bildreporter ist er als Volkskorrespondent tätig und veröffentlicht im Fotokinoverlag Leipzig das Lehrbuch „Mein Modell“. 1975 wird in Potsdam seine Fotoausstellung „Akt & Landschaft“ eröffnet, in der Bilder von ihm und dem Fotografen Gerd Rattei zu sehen sind. Sie ist ein großer Erfolg und tourt durch sechs Städte in der DDR. Im Jahr 1981 reist Ender aus der DDR nach Österreich aus. Seit 1996 lebt er wieder auf Rügen, veröffentlichte über 150 Bücher und zeigt seine aktualisierte Ausstellung „Akt & Landschaft“ in verschiedenen Orten, zuletzt 2016 in Wittenberg.
Honeckers Herrscherporträt zeigt in seinen zahllosen einzelnen Varianten weder Emotionen, noch ist es räumlich oder zeitlich klar zuzuordnen. Die Botschaft, die es aussendet, ist abstrakt: Das SED-Parteiabzeichen an Honeckers Revers führt dem Betrachter die kollektive Kraft der kommunistischen Partei vor, lässt in seiner korrekten Kleidung die staatsmännische Handlungssicherheit erkennen und strahlt im unverwandten Blick die ruhige Selbstgewissheit der Herrschaftselite aus. Wenn die Visualisierung des bürgerlichen Politikers im 20. Jahrhundert in seiner Körperlichkeit nacheinander Würde, Leistung und Glaubwürdigkeit präsentierte, wie Thomas Mergel dies am Beispiel deutscher Politikerfotos beschrieben hat,so stellt das kommunistische Funktionärsporträt die überindividuelle Gesetzmäßigkeit der sozialistischen Ordnung vor.
Manche Bücher sollte man besser vom Ende her lesen, lässt sich doch so ihr archimedischer Fluchtpunkt rasch entdecken. Gewiss, für Kriminalromane empfiehlt sich eine solche Lesart nicht, wohl aber für diesen Essay-Band Hans Magnus Enzensbergers. Darin schließt der Autor seine Reiseberichte aus sieben Ländern mit einem »Epilog« ab, in dem ein fiktiver amerikanischer Journalist namens Timothy Taylor im Jahr 2006 den ebenfalls fiktiven finnischen EG-Präsidenten Erkki Rintala interviewt, der von seinem Amt freiwillig zurückgetreten ist, nachdem er wegen seiner Erfahrungen in den Korridoren der Brüsseler Politik zu einem Gegner der europäischen Integration geworden war.
Eine Besonderheit des Formats der Kino-Wochenschau besteht darin, dass zur Herstellung von authentischen Berichten (im Sinne von „Echtheit“) nicht nur die Vielfalt der filmischen Elemente ausgenutzt wurde, sondern auch gespielte Sequenzen und Filmtricks zum Einsatz kamen. Zuschauerzuschriften zeigen, dass den Kino-Besuchern der 1950er/1960er Jahre bekannt war, dass Teile von Wochenschau-Berichten inszeniert sein konnten. Offenbar führte dies beim Publikum nicht zum Vertrauensbruch, und dem Format wurde von Politik und Wirtschaft ein hoher Einfluss auf die öffentliche Meinung zugestanden. Die Redaktion war sich bewusst, dass die Berichte im In- und Ausland zur Reputation Deutschlands beitrugen. Trotzdem war nicht ausgeschlossen, dass „Scherz“-Sujets eingebracht wurden. Ob die Zuschauer diese leicht oder weniger leicht als solche identifizieren konnten, ist nicht mehr zu belegen. Für den Betrachter von heute stellt sich jedoch manchmal die Frage, ob es sich bei den Filmen um eine Zukunftsvision oder um tatsächliche Errungenschaften des damaligen modernen Lebens handelt. Daran zeigt sich die Variabilität der Zuschreibung von „Authentizität“ im historischen Kontext. Die Praktiken und Strategien der Wochenschau, um die Modernisierung im Alltag, in Wirtschaft und Forschung so zu präsentieren, dass sie von den Zuschauern als glaubhaft wahrgenommen werden konnte, sollen in diesem Beitrag aufgezeigt werden.