1 / 2004 Zeitgeschichte heute – Stand und Perspektiven
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Für den vierten Band der „Gesellschaftsgeschichte“ von Hans-Ulrich Wehler möchte ich drei Lesarten vorschlagen. Die erste sieht den Band einfach als eine Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte unter vielen. Bei dieser Lesart stechen die Vorzüge des gesellschaftsgeschichtlichen Ansatzes hervor. Wehler belässt es nicht bei kursorischen Bemerkungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, sondern er behandelt die konjunkturelle Dynamik der Wirtschaft und das soziale Profil der verschiedenen Erwerbs- und Besitzklassen in eigenem Recht und mit großer Präzision. Andererseits zeigt gerade der Abschnitt zum Kaiserreich im Ersten Weltkrieg, dass der Erfolg des Paradigmas der Gesellschaftsgeschichte den Autor Hans-Ulrich Wehler eingeholt hat. Denn eine vergleichbar gegliederte Darstellung der sozialhistorischen Ursachen für die zur Revolution von 1918 führende Legitimationskrise des wilhelminischen Systems hat unlängst Roger Chickering vorgelegt.
Wie kann man die beiden getrennten deutschen Nachkriegsgeschichten integrieren? Dieser für die neuere Zeitgeschichte grundsätzlichen Frage will sich der Aufsatz stellen. Er geht von den Defiziten bisheriger Versuche gemeinsamer Narrative aus und stellt dann eine plurale Sequenzperspektive mit sieben Stufen vor, welche die wechselnden Problemkonstellationen der Jahre 1945 bis 1990 betont. Aus einem für jede der Stufen zentralen Erfahrungsbeispiel leitet der Essay schließlich wechselnde, methodisch vielfältige Analysevorschläge ab, die den verschiedenen Gegenständen angemessen erscheinen. Der Königsweg zu einer gemeinsamen deutschen Nachkriegsgeschichte ist daher nicht die Fortschreibung einer latenten Nationalgeschichte, sondern ein multiperspektivischer Ansatz, der sowohl der Eigendynamik der Teilung wie den weiter bestehenden Verflechtungen und blockübergreifenden Problemlagen gerecht wird – und nicht zuletzt auch den biografischen Erfahrungen der beteiligten Menschen.
Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien
(2004)
Anknüpfend an Hans Rothfels` klassische Definition der Zeitgeschichte als ,Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung" wird das Verhältnis der auf analogen Aufzeichnungsverfahren basierenden audiovisuellen Medien zur heutigen Zeitgeschichtsforschung diskutiert. Die Durchsetzung des sozialen Gebrauchs dieser Medien ist Teil des Übergangs zur Konsumgesellschaft im 20. Jahrhundert. Zu fragen ist: Wie verändert sich die Kategorie der ,Mitlebenden", wenn sie als Menschen zu denken sind, deren Realitätsbezüge und Erinnerungen in hohem Ausmaß durch den alltäglichen Gebrauch von audiovisuellen Medien bestimmt sind? Die Ausbreitung dieser Medien beendete die Hegemonie der schriftlichen Kommunikation, die auch der akademischen Disziplin ,Zeitgeschichte' zu Grunde lag. Um ihre gesellschaftliche Kompetenz zu bewahren, muss Zeitgeschichte die audiovisuellen Medien daher umfassend in ihre Praxis integrieren - von der Forschung über die öffentliche Kommunikation bis hin zur Lehre.
"Ein wahres Bücherfest wartet auf das Publikum, auf die Rezensenten aber ein hartes Stück Arbeit - und mancher von ihnen reist in diesem Sommer mit schweren Fahnen im Gepäck", schrieb Volker Ullrich in einer Vorschau auf die Verlagsprogramme für den Herbst 2003 (DIE ZEIT, 24.7.2003). Dabei verwies er unter anderem auf Band 4 von Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte". Auf dieses Buch durfte man in der Tat gespannt sein, und so hat die Redaktion der "Zeithistorischen Forschungen" gleich mehreren Rezensenten schweres Gepäck aufgebürdet. Richard J. Evans hat Wehlers Gesamtprojekt der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" mit ,einem majestätischen Ozeanriesen" verglichen (Frankfurter Rundschau, 8.10.2003).
Klischee, Klitterei, Geschichtchen ohne Geschichte - so die schärfsten Vorwürfe in der öffentlichen Debatte um den Historienfilm „Rosenstraße“. Er erzählt die Geschichte des Protestes nichtjüdischer Berliner Frauen gegen die tagelange Inhaftierung und befürchtete Deportation ihrer jüdischen Ehemänner durch Gestapo und SS im Frühjahr 1943. Ein Film im Kreuzfeuer eines Historikerstreites: Die Deportation der jüdischen Ehepartner sei geplant gewesen, erst der weibliche Protest habe zur Freilassung der Mehrzahl der rund 1.500 bis 2.000 Inhaftierten geführt - so die einen (Nathan Stoltzfus, Gernot Jochheim). Die Inhaftierung habe ‚nur’ der Auswahl von Ersatzkräften für zu deportierende „Volljuden“ gedient, die folgende Freilassung der „Mischehen-Partner“ sei bereits beschlossen gewesen - so die anderen (Wolf Gruner, Wolfgang Benz).
Es war eine reizvolle Aufgabe, die Jürgen Habermas (im Zusammenspiel mit Günther Busch und Siegfried Unseld vom Suhrkamp-Verlag) Mitte 1978 Freunden und Kollegen stellte: Wolle man nicht, fragte er an, das bevorstehende Erscheinen des 1000. Bandes der edition suhrkamp (es) zum Anlass nehmen und eine Zeitdiagnose aus linksintellektueller Sicht wagen? 32 Autoren - Wissenschaftler, Publizisten, Schriftsteller - folgten seinem Aufruf und sandten ihre Beiträge ein, so dass aus der ‚es 1000’ sogar zwei Bände mit insgesamt 861 Seiten wurden. Das Projekt war ambitioniert, obgleich Habermas um einen moderaten Grundton bemüht war. Als Vorbild fungierte der 1000. Band der Sammlung Göschen, „Die geistige Situation der Zeit“ von Karl Jaspers, 1931 erschienen. Jaspers’ Schrift war ganz dem kulturkritischen Duktus seiner Zeit verhaftet gewesen, hatte er doch die fortschreitende Rationalisierung und Technisierung der Welt als Ursachen einer allgemeinen menschlichen Sinnkrise gedeutet, die nicht mehr innerweltlich zu lösen sei, sondern nur durch den Sprung des Einzelnen in die Transzendenz.
Viele amerikanische Präsidenten haben ihre Amtszeit unter ein prägnantes Motto gesetzt. John F. Kennedys Leitmotiv, die „New Frontier“, hat sich tief in das amerikanische Gedächtnis eingegraben. Es wurde zum Schlüsselbegriff für die Ziele seiner nur rund 1.000 Tage währenden Präsidentschaft; für jene Zeit, die in den Augen vieler Zeitgenossen das Ende der langen Nachkriegsjahre verkörperte. Mit jugendlichem Elan und Charisma sowie einem informell-charmanten, medienwirksamen Politikstil stand „JFK“ für ein neues Amerika. Bei der „New Frontier“ ging es somit weniger um neue Grenzen als um das grenzenlos Neue im Rahmen einer imperialen Präsidentschaft.
Der erstmals 1942 und 1944 in stark erweiterter Form erschienene „Behemoth“ Franz Leopold Neumanns bildete einen Höhepunkt der NS-Interpretation exilierter deutscher Wissenschaftler. Neumann, Jahrgang 1900, hatte in Frankfurt am Main bei Hugo Sinzheimer studiert, war 1928 nach Berlin gekommen, hatte dort eine Anwaltspraxis eröffnet und an der Deutschen Hochschule für Politik gelehrt. Er stand dem linken Flügel der SPD nahe, war ein unnachgiebiger Kritiker des Nationalsozialismus und wurde gleich nach dem 30. Januar 1933 verhaftet. Wenige Wochen später gelang ihm die Flucht nach Großbritannien, wo er an der London School of Economics ein (Zweit-)Studium der Politischen Wissenschaften aufnahm. 1936 übersiedelte Neumann in die USA und trat in Max Horkheimers Institute of Social Research ein, das nach New York verlegte Frankfurter Institut für Sozialforschung.
Der Quellenwert von Fotografien für die Geschichtswissenschaft ist unbestritten. Dennoch dienen solche visuellen Dokumente in historiografischen Werken weit häufiger der Illustration als der Argumentation. Dies hängt mit den methodischen Problemen der Interpretation von Bildern im Allgemeinen und Fotografien im Besonderen zusammen.
In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre sahen sich die traditionellen Informationsvermittlungsinstanzen, die Bibliotheken, nicht in der Lage, ihre Mediatorenfunktion in puncto Internet wahrzunehmen. Es blieb in dieser Gründungsepoche der Eigeninitiative selbstloser NetzenthusiastInnen überlassen, für verschiedenste Disziplinen bald so genannte Fachverzeichnisse, Themenkataloge oder Fachportale aufzubauen. Ein Teil von ihnen organisierte sich in der Virtual Library (VL), dem ältesten Web-Suchdienst, ins Leben gerufen durch den WWW-„Erfinder“ Tim Berners-Lee. Sie ist der Versuch, durch eine lose Zusammenarbeit von Experten, die jeweils für ein bestimmtes Schlagwort Indices von Webressourcen erstellen, einen Universalkatalog mit akademischer Ausrichtung zu betreiben. Als Zielgruppen, zu denen sich auch die VL Zeitgeschichte bekennt, sollen vor allem WissenschaftlerInnen, Lehrende und Studierende angesprochen werden. Die VL fordert von ihren RedakteurInnen ein, nur solche Webressourcen aufzunehmen, die bestimmte Qualitätskriterien erfüllen; um in der VL Zeitgeschichte gelistet zu werden, muss daher der „wissenschaftliche Nutzen“ gegeben sein (siehe die Rubrik „Aufnahmekriterien“ der Website).