3/2018 Flucht als Handlungszusammenhang
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Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute Abend im Potsdamer Einstein Forum über Asyl und Flüchtlinge sprechen zu dürfen. Vor allem aus zwei Gründen freue ich mich besonders. Zum einen, weil Albert Einstein, dessen Namen Ihr Forum trägt, der erste ernannte Professor am Institute for Advanced Study in Princeton war und dort Schutz fand, als er vor der nationalsozialistischen Repression flüchtete. Ich selbst arbeite seit sechs Jahren in dieser Forschungseinrichtung, wo ich die School of Social Science leite. Albert Einstein verbindet mich also im doppelten Sinne mit Ihnen: beruf lich, als Mitgründer derjenigen Institution, an der ich arbeite; aus intellektueller Sicht, da er selbst ein Flüchtling gewesen ist, wie all diejenigen, von denen ich Ihnen erzählen werde.
Migration, Flucht und Asyl sind zentrale Themen der gegenwärtigen öffentlichen Debatte in Deutschland und Europa. Angesichts der tagesaktuellen Krisenbewältigung gerät die historische Tiefendimension von Migrationsbewegungen dabei oftmals aus dem Blick. Waren Ostasien und Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs die Regionen, von denen die größten Flüchtlingsbewegungen ausgingen, so wurden sie seit Mitte der 1970er Jahre von der sogenannten Dritten Welt, insbesondere Afrika und Asien, abgelöst. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan 1979 und der daran anschließende, bis 1989 andauernde Krieg lösten den weltweit größten Massenexodus einer einzelnen Bevölkerungsgruppe nach 1945 aus. Mit dem iranisch-irakischen Krieg stieg die Zahl der Flüchtlinge ein weiteres Mal signifikant an. Der Nahe und Mittlere Osten entwickelte sich somit in den 1980er Jahren zu einer der bis heute größten Flüchtlingsregionen weltweit
Der „Normalfall Migration“ (Bade/Oltmer 2004) ist in Forschung und Publizistik längst ein Gemeinplatz geworden und dennoch – die Ankunft eines Bruchteils der globalen Fluchtbewegungen stürzte Europa in den letzten Jahren nicht zum ersten Mal in eine politische und legitimatorische Krise. Von nie dagewesener Fluchtmigration war die Rede und vielerorts drohte wieder einmal der Untergang des Abendlands oder zumindest umfassendes Chaos (exemplarisch dokumentierend: Neumann 2015). Angesichts der verbreiteten – und empirisch gerechtfertigten – Etikettierung des 20. Jahrhunderts als „Jahrhundert der Flüchtlinge“ (Opitz 1999) erstaunt diese kurzsichtige Wahrnehmung, ebenso vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bedeutung, die Migration für die europäische Geschichte nicht nur des 20. Jahrhunderts spielte (Bade 2000; Moch 1992). Flucht- und Gewaltmigration ist vielleicht nicht der migrationshistorische Normalfall, aber ein wiederkehrendes Phänomen (Oltmer 2017). Gleiches gilt für die Debatten um die Aufnahme von „echten“ und die Abwehr von vermeintlich „falschen“ Flüchtlingen. Die Unterscheidung, welche Migrationsformen eher als Flucht und welche eher als freiwillige Bewegung zu sehen seien, ist – und war – stets interessengeleitet. Zugleich ist die Entscheidung zur Migration in aller Regel einer Vielzahl von Motiven unterworfen, die mal eher Zwangs-, mal eher den Charakter freiwilliger Entscheidung haben (Tilly 1978; Lucassen, Lucassen 2005). Hierzu gehören insbesondere auch Folgewanderungen, die nach dem Ausweichen vor direkter Gewalt den weiteren Weg bestimmen.
Laut Duden deckt der Begriff »Lager« ein breites semantisches Spektrum ab. Dem historisch-gesellschaft lichen Verständnis nach ist ein Lager ein »(provisorischer) Wohn- und Übernachtungsplatz«, der für das »vorübergehende Verbleiben einer größeren Anzahl von Menschen« eingerichtet wird. In dieser Bedeutung erlebte der Begriff seit der zweiten Hälft e des 19. und dann insbesondere im 20. Jahrhundert eine bis in die Gegenwart andauernde Konjunktur. Um das Grundwort »Lager« entstanden immer neue Begriff e, die Ausdruck eines Jahrhunderts sind, in dem Lager und Lagerwelten als Begleiterscheinungen von Krieg, (Zwangs-)Migrationen, Repression und sozialen Experimenten einen immer größeren Platz im Alltag der Deutschen einnahmen. Das Provisorium, das unzertrennlich mit der Geschichte des Gebäudetyps »Baracke« verbunden ist, entwickelte nicht nur in Deutschland eine ungeahnte Dynamik und wurde zu einem Signum des 20. Jahrhunderts – Das Jahrhundert der Lager.