Zeithistorische Forschungen
»What was it that converted capitalism from the cataclysmic failure which it appeared to be in the 1930s into the great engine of prosperity of the post war Western world?« (S. 3) Das ist die Leitfrage von Andrew Shonfields vor 50 Jahren erschienenem Buch über den »modernen Kapitalismus« der 1960er-Jahre. Wie konnte es zu dem »Goldenen Zeitalter« (Eric Hobsbawm), also der fast drei Jahrzehnte andauernden Nachkriegsprosperität kommen, nachdem der Kapitalismus im Zuge der Großen Depression abgewirtschaftet zu haben schien und sich eine breite ordnungspolitische Debatte um alternative Wirtschaftsformen entwickelt hatte?
Vor zehn Jahren konnte man des Lobes voll sein: Viele Facetten des „Großen Krieges“ wurden beleuchtet und auch verschiedene Formen des Gedenkens berücksichtigt. Zahlreiche gut erklärte Exponate waren zu sehen, und ein ebenso umfassender wie interessanter Katalog rundete die Ausstellung ab, die das Deutsche Historische Museum (DHM) 1994 unter dem Titel „Die letzten Tage der Menschheit - Bilder des Ersten Weltkrieges“ im Berliner Alten Museum präsentierte. Auch die Ausstellung „Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918“, 1998 ausgerichtet vom Osnabrücker Museum Industriekultur, verdiente höchstes Lob für die Ausstellungskonzeption, die gut präsentierten und erläuterten Exponate sowie den vorzüglichen Katalog.
Guerrilla Mothers and Distant Doubles: West German Feminists Look at China and Vietnam, 1968–1982
(2015)
Communist China and Vietnam looked like the future to many West German feminists in the years after 1968. This article reconstructs a lost history of influence, identification and emulation, tracing some of the ways that Chinese and Vietnamese communism inspired and attracted West German feminists from the late 1960s to the early 1980s. Beginning in a spirit of socialist universalism, West German feminists drew on reports of the experience of East Asian women who they felt lived in the ›liberated zones‹ of post-revolutionary society. Like the French radicals who declared that ›Vietnam is in our factories‹, West German feminists created a global framework for their activism. Looking east, they borrowed or adopted models of consciousness-raising and direct action from China and Vietnam. This article tracks the arc of exchange, from the enthusiasm of the late 1960s and 1970s to the West German feminist disenchantment with both East Asian communism and the global South by the early 1980s.
Am Beispiel Hamburgs wird untersucht, wie die Geräusche einer bedeutenden Hafenstadt auf die einheimische Bevölkerung und auf Besucher wirkten. Die Klänge der Schiffssirenen, mitunter als „herrlicher Lärm“ bezeichnet, banden die Bewohner emotional an ihre Stadt. Auch bei Auswärtigen hinterließ das akustische und visuelle Erlebnis des Hamburger Hafens einen nachhaltigen Eindruck, nicht zuletzt da Hafengeräusche mit Fernweh und Abenteuerlust assoziiert wurden. Schon seit dem frühen 20. Jahrhundert griffen Massenmedien und Massenkultur die maritime Geräuschkulisse auf. Sehr populär wurde etwa die 1929 begonnene, bis heute fortgeführte Radiosendung „Hamburger Hafenkonzert“. Auch in Filmen fungierten maritime Klänge als variierende Bedeutungsträger. Während sich die ökonomische und soziale Bedeutung des Hafens für die Stadt Hamburg seit den späten 1960er-Jahren veränderte, werden maritime Sounds und Images auf medialer Ebene fortgeschrieben.
Strafgefangenenarbeit ist ein Merkmal des modernen Gefängniswesens in unterschiedlichen politischen Systemen. Seit einigen Jahren wird in Wissenschaft und Öffentlichkeit verstärkt diskutiert, welche Rolle sie in der DDR spielte und ob der Begriff der Zwangsarbeit dafür geeignet ist – dies nicht zuletzt deshalb, weil auch tausende politische Gefangene von ihr betroffen waren. Der Beitrag untersucht, ob die Arbeitsbedingungen politischer Häftlinge schlechter waren als diejenigen krimineller Insassen und ob die Strafgefangenen insgesamt gegenüber Zivilarbeitern in der DDR diskriminiert wurden. Das Ergebnis ist differenziert: Zwar mussten die Häftlingsarbeiter zum Teil schwerere Tätigkeiten als Zivilarbeiter ausführen, doch gab es je nach Branche und Haftort durchaus Unterschiede. Eine zentral angewiesene Benachteiligung politischer Häftlinge in Bezug auf die Arbeitsbedingungen lässt sich nicht belegen, doch konnte sie eine Folge der Gefängnishierarchie sein, die nicht zuletzt der Kontrolle der politischen Häftlinge diente.
„Unschuldige Menschen sollten nicht wegen der Nazi-Verbrecher ihr Leben geben müssen.“ Mit diesen knappen Worten begründet die Köchin Martha Wiroth aus der hessischen Wetterau ihre Hilfe für jüdische Nachbarn, denen sie Lebensmittel zusteckte oder sogar Zuflucht gewährte. Sie erzählte dies dem Politologen Manfred Wolfson, der in den 1960er-Jahren als Erster systematisch die Beweggründe von Deutschen untersuchte, die in der Zeit des Nationalsozialismus den Mut hatten, verfolgten Jüdinnen und Juden zu helfen. Wolfson, selbst Jude, war 1939 gemeinsam mit seinem Bruder dank der Hilfe einer jüdischen Hilfsorganisation aus Deutschland entkommen und in die USA geflohen. Nach dem Krieg führte er als „Chief Research Analyst“ unter anderem während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse Recherchen über das Herrschaftssystem der Nationalsozialisten durch. Später richtete sich sein wissenschaftliches Interesse nicht nur auf Täter und Mitläufer, sondern auch auf jene, die jüdischen Nachbarn halfen und sie vor dem Zugriff der Nazis schützten, um so die drohende Deportation in die Vernichtungslager zu verhindern. Im Rahmen eines Forschungsprojektes führte Wolfson, der sich in engem Austausch mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vom Frankfurter Institut für Sozialforschung befand, zwischen 1965 und 1967 Gespräche mit 70 Retterinnen und Rettern. Aufgrund unzureichender Forschungsbedingungen war es Wolfson leider nicht möglich, diese Studie und einen zusätzlich geplanten pädagogischen Teil zu vollenden.
Museumspolitik – hier das Handeln des österreichischen Staates, der Länder und Kommunen zum Erhalt und zur Förderung der Museen – hat als Teil der Kulturpolitik in der öffentlichen Wahrnehmung keinen herausragenden Stellenwert. Dabei gab es in den letzten Jahren selbstverständlich zahlreiche museumspolitische Entscheidungen, die der sich wandelnden institutionellen Bedeutung von Museen Rechnung getragen und internationale Tendenzen zu Fragen des Sammelns, Bewahrens und Vermittelns von Kultur, Kunst und Natur nachvollzogen haben. Ein Resultat jüngerer Museumspolitik ist beispielsweise die neugestaltete Ausstellung in Mauthausen, dem ehemals größten Konzentrationslager des nationalsozialistischen Regimes auf österreichischem Boden, inklusive der Etablierung eines zeitgemäßen Bildungsprogramms.
In den Jahren vor dem Sechstagekrieg entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland eine palästinensische Diaspora, die nach 1967 einen wichtigen Einfluss auf die Palästina-Solidaritätsbewegung im Land erhielt. Arabischsprachige Quellen wie zeitgenössische Presseartikel oder spätere autobiographische Reflexionen werfen dabei nicht nur ein Licht auf das Entstehen dieser Diaspora. Sie zeigen auch, wie die Verbindungen zwischen palästinensischen Gruppen und der radikalen Linken in der Bundesrepublik zu vielfältigen Transferprozessen führten. Seit den späten 1960er-Jahren zirkulierten Argumente, Parolen und Symbole zwischen Orten wie Beirut und Heidelberg, die sich bald in antizionistischen, zum Teil auch antisemitischen Publikationen und Protesten wiederfanden. Vor diesem Hintergrund plädiert der Aufsatz dafür, Archive im Nahen Osten stärker als bisher einzubeziehen, um die transnationalen und globalen Bezüge der deutschen Zeitgeschichte besser zu verstehen.
Um 1980 avancierten in der Bundesrepublik und in West-Berlin Hausbesetzungen und die kollektive Instandsetzung verfallender Häuser zu einem sichtbaren und vieldiskutierten Mittel des Protests. Einer aus ihrer Perspektive verfehlten Wohnungspolitik, die intakte Häuser abriss, setzten unterschiedliche Akteure den Erhalt von Altbauten und damit auch von gewachsenen sozialen Strukturen der Stadtviertel entgegen. Mit der eigenhändigen Instandsetzung der Häuser war das Ziel verbunden, sie zu Orten für neue, alternative Formen des Zusammenlebens und Arbeitens umzugestalten. Instandsetzen hieß, den Beweis dafür anzutreten, dass Flächensanierung als »Kahlschlagsanierung« falsch sei, dass Altbauten erhaltenswert und menschengerechte Städte mit mehr Lebensqualität ohne große Kosten möglich seien.
Heiße Rhythmen im Kalten Krieg. Swing und Jazz hören in der SBZ/DDR und der VR Polen (1945–1970)
(2011)
Der Aufsatz geht der Frage nach, wie Hörerinnen und Hörer in der SBZ/DDR und in Polen über Radio, Schallplatten und Live-Musik Zugang zu Jazzmusik erhielten. In beiden Gesellschaften entwickelte sich die Jazzszene in einem charakteristischen Spannungsfeld: Einerseits bezeichneten die sozialistischen Regime Jazz mit Beginn des Kalten Kriegs als „amerikanisch-imperialistische Musik“ und versuchten den „Jazztumult“ aus dem öffentlichen Raum und dem Rundfunk zu verdrängen. Andererseits war es mit Hilfe persönlicher Kontakte zu Menschen im Westen sowie vermittelt über die Programme der US Information Agency weiterhin möglich, sich Zugang zu Jazzmusik zu verschaffen. Der Vergleich der DDR mit Polen zeigt dabei, dass sich die bis dahin ähnlichen Kulturpolitiken beider Staaten ab 1956 wesentlich unterschieden. Polen öffnete sich für Jazz und unterstützte zum Teil die Szene wie auch die Musiker; an den Konzerteinnahmen verdienten die Kulturfunktionäre mit. In der DDR agierte das Regime dem Jazz gegenüber zunächst weiter ablehnend, bis der Beat zum neuen musikalischen Feindbild avancierte.
›1948‹ is a key concept in Israeli identity discourse. A signifier of the violent clashes that took place at the end of the British Mandate in Palestine (between the fall of 1947 and the spring of 1949), it encompasses both the foundation of a democratic Jewish nation-state and the destruction of numerous Palestinian communities during the Israeli ›War of Independence‹ and thereafter. The Nakba, the Palestinian catastrophe, could not be overlooked by Israel’s ›generation of 1948‹ and those that succeeded it: it was present in the deserted fields and houses now occupied by Israelis, in the names of the streams, hills and roads Israelis now visited during military drills or school field trips, and in the frequent encounters with Arab ›infiltrators‹ who sought to return to their abandoned homes and lands.1 The mass expulsion and the killings of Arab civilians by Jewish forces were regularly discussed and debated by Israeli politicians, intellectuals, journalists and artists in the ensuing decades.2 Yet with few exceptions, Israeli historians and politicians have seemingly effortlessly merged these atrocities with a commonly accepted ›narrative‹ by, for example, attributing them to rogue, marginal, right-wing militias; depicting cases of expulsion as sporadic and spontaneous events; or justifying them as ad hoc measures taken against the initiators of the violence during the war.
Die Zeit des Nationalsozialismus, ihre Voraussetzungen und ihre Folgen besitzen noch immer eine große Brisanz. Das gewaltige Medienecho und der große Besucherandrang während der Ausstellung „Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) haben das bestätigt. Die Medien vermittelten teilweise den Eindruck, es handele sich dabei um die bundesweit erste Ausstellung über Adolf Hitler. Darum wurde die Ausstellung sehr bald – und nicht nur aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung – als „Hitler-Ausstellung“ bezeichnet. Die inhaltlich etwas irreführende Verkürzung ist ein Indiz der widrigen Faszinationskraft, die vor allem von der Person Hitlers weiterhin ausgeht.
Hochgespannte Erwartung. H.G. Wells’ Utopie einer »befreiten Welt« am Vorabend des Großen Kriegs
(2014)
In der belletristischen Literatur spiegeln sich nicht nur die Vergangenheitsbilder einer Epoche, sondern ebenso ihre Vorstellungen von der Zukunft. Müsste man eine Rangliste der literarischen Propheten erstellen, welche als Seismographen die Erwartungen und Befürchtungen ihrer Zeit aufnahmen und verarbeiteten, so wäre dem britischen Autor Herbert George Wells (1866–1946) einer der obersten Plätze sicher. Wie kaum ein anderer Schriftsteller und Intellektueller der späten Viktorianischen Ära verknüpfte er in seinen Werken politische Zeitdiagnostik und phantastische Zukunftsvisionen, und dies nicht allein in den bekannten Klassikern der frühen Science-Fiction-Literatur »The Time Machine« (1895) und »The War of the Worlds« (1898). Wells war ein gleichermaßen populärer, produktiver wie politisch entschiedener Autor, der insgesamt mehr als 50 Romane und eine noch größere Zahl von Sachbüchern vorlegte, von zahllosen Erzählungen und journalistischen Gelegenheitsarbeiten ganz abgesehen.
Hoffnung auf Erfolg. Akteurszentrierte Handlungskonzepte in der Migrations- und Flüchtlingsforschung
(2018)
Die Herausforderung besteht somit in einer reflektierten Verbindung von historischer Wissens- und Migrationsforschung.[37] Darin könnte die Chance liegen, die oftmals eindimensionale Wahrnehmung von Migrant/innen als Opfer restriktiver Grenzregime aufzubrechen, denn sie blockiert tendenziell eher Erkenntnismöglichkeiten, als dass sie neue eröffnet. Wenn ein Konzept wie Eigen-Sinn dazu beitragen würde, die verengten Perspektiven auf Migrationsregime zu erweitern, wäre das nur zu begrüßen. Allerdings spricht die bisherige Inanspruchnahme des Begriffes dafür, doch eher auf andere handlungstheoretische Konzepte wie die Analyse von individuellen und kollektiven Handlungsspielräumen zurückzugreifen oder einer an die Arbeiten von de Certeau angelehnten und auf globale Migrationsbewegungen zugeschriebenen »Rhetorik des Wanderns« zu folgen. Eines zeichnet sich indes jetzt schon ab: Ohne eine stärkere und theoretisch durchdachte Berücksichtigung akteurszentrierter Konzepte wird die Migrationsforschung zentrale Aspekte ihres Gegenstandes weiterhin nur oberflächlich erfassen können.
„Seine Darstellung wird keiner politischen Gruppe der Gegenwart viel Freude machen“, prophezeite Klaus Epstein 1963 in der „Historischen Zeitschrift“. Gemeint war die im Jahr zuvor erschienene Habilitationsschrift des jungen Politikwissenschaftlers Kurt Sontheimer, der sich in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre intensiv mit dem rechten „antidemokratischen Denken“ in der Weimarer Republik auseinandergesetzt hatte. In der Tat: Vor allem national-konservativen Kreisen in Wissenschaft und Publizistik musste Sontheimers Buch ein Ärgernis sein. Sein Gegenstand war eben nicht rein historischer Natur. Das Buch handelte von Deutschlands erstem ernstzunehmendem Experiment mit liberaler Demokratie, das gerade einmal 30 Jahre zuvor gescheitert war. Weimar war - mal mehr, mal weniger evident - integraler Bestandteil des bundesrepublikanischen Erfahrungs- und Deutungshorizonts.
Ideologierausch und Realitätsblindheit. Raymond Arons Kritik am Intellektuellen „französischen Typs“
(2009)
„We can reasonably congratulate ourselves“, schrieb 1955 der Historiker Denis Brogan im „Times Literary Supplement“, „that our men of letters and academics either have more sense or are not encouraged to be so silly, but it is an ominous fact that the world is full of intellectuals of the French type.“ Intellektuelle französischen Typs: Das waren für den Mann aus Cambridge vor allem Schriftsteller und Hochschullehrer, die sich coram publico für utopische Sozialexperimente engagierten und deren Verstand vom Dunstschleier politischer Ideologien vernebelt sei. Großbritannien könne sich glücklich schätzen, dass seine geistigen Eliten in der Tradition des Common Sense verwurzelt und mit den Mechanismen praktischer Politik vertraut seien. Frankreich dagegen, als Sinnbild für weite Teile Europas (und „der Welt“), leide unter der Dominanz von im wahrsten Sinne des Wortes unvernünftigen Intellektuellen - „not nearly as much in contact with reality as [their counterparts] in the much more closely integrated English society“. Die vermeintliche Unvernunft bzw. „Dummheit“ von Intellektuellen „französischen Typs“ war demnach auf eine tiefreichende Entfremdung von Politik und Gesellschaft zurückzuführen, die insbesondere mit zwei sich einander bedingenden Faktoren verknüpft zu sein schien: Ideologierausch und Realitätsblindheit.
Der Aufsatz beleuchtet einen von der migrationsgeschichtlichen Forschung bisher vernachlässigten Raum und seine Akteure: den Flughafen. Der Frankfurter Flughafen ist von besonderem Interesse, weil er sich zum größten Transitdrehkreuz in der Bundesrepublik entwickelte und seit den 1980er-Jahren auch ein Experimentierfeld für den Umgang mit Asylbewerber:innen wurde. Im Zentrum stehen die Positionen und Konflikte von Akteur:innen, die in Asylfälle und Zurückweisungen am Flughafen involviert waren – allen voran der Bundesgrenzschutz, der Flughafensozialdienst und die Migrant:innen selbst. Gezeigt werden zum einen die Folgen übergeordneter Politiken im konkreten Raum. Zum anderen offenbart die lokale Konfliktgeschichte auch Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten im komplexen Grenzraum der Transitzone, die wiederum auf größere politische Zusammenhänge und Regulierungsversuche wie das Flughafenasylverfahren zurückwirkten. Deutlich wird außerdem, dass Zurückweisungen an der Grenze und Abschiebungen/Zurückschiebungen aus dem Inland nicht immer klar zu trennen sind.
Manche Bücher sollte man besser vom Ende her lesen, lässt sich doch so ihr archimedischer Fluchtpunkt rasch entdecken. Gewiss, für Kriminalromane empfiehlt sich eine solche Lesart nicht, wohl aber für diesen Essay-Band Hans Magnus Enzensbergers. Darin schließt der Autor seine Reiseberichte aus sieben Ländern mit einem »Epilog« ab, in dem ein fiktiver amerikanischer Journalist namens Timothy Taylor im Jahr 2006 den ebenfalls fiktiven finnischen EG-Präsidenten Erkki Rintala interviewt, der von seinem Amt freiwillig zurückgetreten ist, nachdem er wegen seiner Erfahrungen in den Korridoren der Brüsseler Politik zu einem Gegner der europäischen Integration geworden war.
Im Schatten der Geschichte. Die (vergessene) »Gewaltkommission« der Bundesregierung (1987–1990)
(2018)
Im Februar 2016 fand in der Alice Salomon Hochschule Berlin ein Symposion statt zum Thema »25 Jahre Gewaltprävention im vereinten Deutschland – Bestandsaufnahme und Perspektiven«, das von den Veranstaltern Stephan Voß und Erich Marks auf über 1.000 Seiten dokumentiert worden ist. Das Symposion hat gezeigt, dass der Gedanke der Gewaltprävention sich mittlerweile hochprofessionell auf zahllose Kontexte ausdifferenziert hat, in denen Menschen leben und handeln. »25 Jahre Gewaltprävention«, dieser Titel deutet auf den Januar 1990 hin, als der einstimmig verabschiedete Endbericht der »Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt« nach zweijähriger Arbeit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl übergeben wurde. Doch weder die fachliche Arbeit in der Kommission noch die Bereitschaft der politischen Akteure zur stärkeren Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse bei politischen Entscheidungen konnten verhindern, dass der eigentliche Anlass für die Einsetzung der Kommission in dem vorgelegten Bericht nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. Durch die aktuelle politische Agenda des Jahres 1990 gerieten die Empfehlungen weitgehend aus dem Blick. Im Abstand von fast 30 Jahren lohnt es sich, den Kommissionsbericht als Quelle der bundesdeutschen Gewaltgeschichte und der Bemühungen um eine Verminderung von Gewalt zu lesen. Dies geschieht im Folgenden aus soziologischer Perspektive, jedoch in der Hoffnung, auch der Geschichtswissenschaft Impulse zur Beschäftigung mit solchen Dokumenten zu geben.
Nach wie vor gilt „1968" vielen Beobachtern als eine klare Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte, als Übergang von der „restaurativen" Adenauer-Zeit zu einer liberalen westlichen Demokratie. In Schweden dagegen scheint „1968" keine Wirkungen gezeitigt zu haben; zumindest ist durch die (deutsche) Forschung nichts überliefert. In diesem Aufsatz werden die 68er-Ereignisse in beiden Ländern verglichen, um ihren historischen Stellenwert genauer zu bestimmen. Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen gab es manche Gemeinsamkeiten. Das lag an einem ähnlichen gesellschaftlichen Strukturwandel in der Nachkriegszeit, in den die 68er-Bewegungen eingebettet waren, aber auch an kollektiven Wahrnehmungsprozessen, durch die das magische Jahr „1968" in beiden Ländern überhöht wurde. Aus dieser vergleichenden Perspektive erscheint „1968" weniger als spezifisch bundesdeutsche Zäsur denn als Katalysator der gesellschaftlichen Umbrüche in der gesamten westlichen Welt.
Staatssymbole sind ein unverzichtbares Attribut souveräner Nationalstaaten. Als visuelle und audiovisuelle Medien geben sie Aufschluss über den Kern staatlichen Selbstverständnisses, was sie zu einer interessanten Quelle für die historische Forschung macht. Symbole wie Flagge, Staatswappen und Nationalhymne repräsentieren den Staat nach außen und unterstreichen seine Souveränität, während sie nach innen der Integration und der Identitätsbildung dienen. Weil Staatssymbolik auf Beständigkeit angelegt ist, wird sie nur selten Modifikationen unterworfen. Meist sind es Systemwechsel, die Veränderungen der symbolischen Ordnung nach sich ziehen. In solchen Umbruchsituationen gilt den üblicherweise kaum bewusst wahrgenommenen Staatssymbolen verstärktes öffentliches Interesse. In der jüngeren Vergangenheit war dies am Beispiel der postsozialistischen Staaten gut zu beobachten. Deren Staatssymbolik lässt wie in einem Brennglas den Wandel des politischen und des Wertesystems erkennen, der seit dem Ende des Staatssozialismus stattgefunden hat.
Vom Wort „Imperium“ geht eine archaische Faszination aus. Es weckt Assoziationen von herrscherlicher Willkür und roher militärischer Gewalt, von oberster Autorität, die keine Gleichberechtigten anerkennt, von kommandierender Verfügung über riesige Räume, schließlich über den Erdball an sich. Das Bildgedächtnis wartet mit Spektakulärem auf: der Brutalität des Nebukadnezar, der Dynamik Alexanders, Peter Ustinovs Kaiser Nero, Chaplins Großem Diktator im Ballett mit dem Globus, Eroberungsschlachten seit Cortez’ Vormarsch gegen die Azteken, Rückzugsgefechten bis Algier 1958 und Saigon 1975. Im Imperium kristallisiert sich der höchste Anspruch auf monopolisierte Macht. Allein aus Gründen symbolischer Politik musste daher jeder US-Präsident nach dem Zusammenbruch des strategischen Gleichgewichts der Supermächte eine imperiale Rhetorik und einen imperialen Gestus annehmen (was George W. Bush in besonders ausgeprägter Weise getan hat).
Viele amerikanische Präsidenten haben ihre Amtszeit unter ein prägnantes Motto gesetzt. John F. Kennedys Leitmotiv, die „New Frontier“, hat sich tief in das amerikanische Gedächtnis eingegraben. Es wurde zum Schlüsselbegriff für die Ziele seiner nur rund 1.000 Tage währenden Präsidentschaft; für jene Zeit, die in den Augen vieler Zeitgenossen das Ende der langen Nachkriegsjahre verkörperte. Mit jugendlichem Elan und Charisma sowie einem informell-charmanten, medienwirksamen Politikstil stand „JFK“ für ein neues Amerika. Bei der „New Frontier“ ging es somit weniger um neue Grenzen als um das grenzenlos Neue im Rahmen einer imperialen Präsidentschaft.
Nachdem sie über lange Zeit ein gleichsam illegitimes Studienobjekt war, hat die Geschichte der französischen Einwanderungspolitik inzwischen ihren Adelsbrief erhalten. Das Überangebot an Archiven mit ministeriellen Runderlassen, Verordnungen und Korrespondenzen hat es einigen Autoren ermöglicht, peinlich genaue Topographien der Verwaltungsbehörden zu liefern. Diese Analyse staatlichen Handelns beschränkt sich auf die Mitglieder der Ministerialkabinette und die hohen Funktionäre, vernachlässigt aber die Rolle derjenigen Beamten, die mit der Ausführung der Gesetze beauftragt sind. Um mit dieser Art Reduktionismus zu brechen, ziehe ich einen Blickwinkel vor, der sich auf die administrativen Praktiken konzentriert und bereits von Michel Foucault vorgeschlagen worden ist: „[...] es geht nicht darum, die regulierten und legitimen Formen der Macht in ihrem Kern und in ihren allgemeinen Mechanismen oder ihren Gesamtwirkungen zu analysieren. Es geht vielmehr darum, die Macht an ihren Grenzen, in ihren äußersten Verästelungen, dort, wo sie haarfein wird, zu erfassen, die Macht also in ihren regionalsten und lokalsten Formen und Institutionen zu packen, besonders dort, wo sie sich über die Rechtsregeln, von denen sie organisiert und begrenzt wird, hinwegsetzt und sich konsequent über diese Regeln hinaus verlängert, sich in die Institutionen eingräbt, in Techniken verkörpert und zu materiellen, vielleicht sogar gewaltsamen Interventionsinstrumenten greift.“ Ein solches Vorhaben legt es nahe, auf eine Quelle zurückzugreifen, die von den Migrationshistorikern bislang wenig herangezogen worden ist: die personenbezogenen Aufenthaltsdossiers, die von den Beamten der Präfektur geführt werden.2 Als Akten mit Personenstandsangaben unterliegen sie einer mindestens 60-jährigen Sperrfrist. Allerdings kann für wissenschaftliche Zwecke ohne weiteres eine Sondergenehmigung zur Akteneinsicht beantragt werden, wenn die Anonymität der genannten Personen garantiert wird.
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Questions about the performance of democratic governance, about trust in democratic institutions and their representatives, about the system’s inherent ability to self-correct and to respond to unforeseen situations are now once again being raised with particular urgency. ›Which copes better with the virus – totalitarian states or democracies?‹ was the question a reporting team from the weekly newspaper DIE ZEIT wanted to answer at the beginning of 2021, investigating the strategies and practices of pandemic control in Germany and China, the USA and Iran. The answer certainly depends on how one weights different indicators and which time horizon one chooses for consideration. It also depends on the value one wishes to place on democratic procedures, especially in the face of acute decision-making pressure. Quite apart from the Covid pandemic, democratic systems, even those of the ›West‹ with a long tradition, are increasingly undergoing a crisis of legitimacy, are exposed to hostility, are disparaged or even violently opposed. Against this backdrop, the Gerda Henkel Foundation announced a ›Funding Programme Democracy‹ in 2019, and various Berlin research institutions opened the Cluster of Excellence ›Contestations of the Liberal Script‹ in 2020.
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(2023)
The Russian war of aggression against Ukraine, now in its second year, has many historical connections and implications – including some which may not immediately spring to mind. The German War Graves Commission estimates that the human remains of more than 800 Wehrmacht soldiers have been uncovered so far over the course of this war, some of them surfacing as new trenches were being dug. Helmets and boots have also been found. Historian Reinhart Koselleck’s (1923–2006) metaphor of Zeitschichten, or temporal layers, acquires here a different meaning and a very concrete materiality. (Koselleck had himself served as a soldier in Ukraine.) In her acceptance speech for the Leipzig Book Award for European Understanding in April 2023, the Russian author Maria Stepanova, who currently lives in Berlin, said: ›Are we condemned to keep reliving the twentieth century with its prisons, concentration camps and propaganda machines, its trench warfare and area bombardments? What can we do when the fabric of language, its texture, suddenly becomes transparent, revealing all the hidden layers of latent and overt violence percolating to the surface?‹
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(2022)
In 2020/21 it was first and foremost the Covid pandemic that many experienced as a major turning point; now the Russian war of aggression against Ukraine since 24 February 2022 has added a whole new set of events of existential significance, whose medium- and long-term consequences we can only partly foresee. The title of a book published in the spring of 2022, Der 11. September 2001 – (k)eine Zeitenwende? (11 September 2001 – A Historical Turning Point?), has come to sound like something from a bygone age. The question ›Is this the beginning of a new era?‹ is now posed under altered circumstances, and a ›historical turning point‹ and the ›end of globalisation‹ are proclaimed in equally adamant fashion. An academic – in the best sense of the word – conference on ›New Eras and Epochal Change‹ in April 2022 acquired an unanticipated immediacy. The organising team wrote: ›We have been outrun and perhaps even rendered irrelevant by events.‹ But humanities scholarship also entails a certain scepticism towards hasty diagnoses of the times and proclamations of turning points, as scholars including the Indian-born political scientist Parag Khanna have underscored: ›We should avoid grandiloquent proclamations that seek to encapsulate our times. Such characterisations can only capture the moment that has just passed and are guaranteed to quickly be outdated.‹ Of course even such a ›guarantee‹ that any statements can only be provisional may seem questionable when there are ›unmistakable symptoms of upheaval, of profound rupture‹, as the historian Jörn Leonhard has emphasised. With reference to Reinhart Koselleck, he underscores the fundamentally close link between ›rupture and repetition‹, between the ›singularity of history‹ and its ›recurrence‹.
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(2019)
Wer endlose Regalkilometer mit großen Tonbandspulen in klimatisierten Räumen und aufwändige Archiverschließungssysteme erwartet, mag zunächst enttäuscht sein. Fünf Metallkoffer gefüllt mit DATs (Digital Audio Tapes) und CDs (Compact Discs), ein Aktenordner mit Informationen zu Aufnahmeobjekt, -ort, -datum, -kontext sowie einer rudimentären Verschlagwortung: So sieht die materielle Dimension des Schallarchivs zur Klanglandschaft Ruhrgebiet aus, das Richard Ortmann, Ralf R. Wassermann und ich seit den 1980er-Jahren aufbauen und das sich, grundsätzlichen Überlegungen zur Quellenbasis einer Musealisierung regionaler Industrialisierung folgend, in Kopie auch im Essener Ruhr Museum befindet. Anders als Rundfunkarchive, deren im Laufe von Jahrzehnten akkumulierte Geräuschesammlungen sich (Hörspiel-)Produktionen verdanken, versteht sich dieses Schallarchiv als eine geschichtskulturelle Aktivität, die jenen umfassenden Strukturwandel zum Thema macht, den das Ruhrgebiet als alteuropäische Montanregion seit Ende der 1950er-Jahre durchlebt und vorantreibt.
Eine oft übersehene Dimension der Auseinandersetzung bundesdeutscher Sicherheitsakteure mit dem international vernetzten Linksterrorismus ab den 1970er-Jahren ist die sogenannte Polizeihilfe für Staaten des Globalen Südens. Bundesdeutsches Know-how und Polizeitechnik made in Germany sollten die Polizeibehörden in Partnerländern modernisieren und so die internationale Anti-Terror-Zusammenarbeit verbessern. Der Aufsatz untersucht die Dynamiken solcher Kooperationen in Lateinamerika und stützt sich dabei vor allem auf Akten der beteiligten Bundesministerien. Westdeutsche Behörden stuften die Region aufgrund ihrer politischen Instabilität als möglichen Rückzugsort terroristischer Gruppen ein. Anders als oft dargestellt, folgten die Programme jedoch kaum einer außen- oder sicherheitspolitischen Gesamtstrategie. Vielmehr entwickelten sich die prestigeträchtigen Polizeihilfen zu einer symbolischen »Währung« für die Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren einer zunehmend transnationalisierten »Inneren Sicherheit«. Partnerschaften zwischen den Sicherheitsinstitutionen von demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik und Militärdiktaturen wie Brasilien, Chile oder Peru waren dabei die Regel.
Having for a long time been an area of research mainly reserved for specialists in international relations and political scientists, the international organizations (IOs) that first emerged in the twentieth century’s pre-World War II decades have also attracted renewed interest of historians for the past several years. This development has its place in a movement of ‘globalization’ within the discipline, evident in both themes and practice. The nation, the region, and the village remain pertinent units for study, but the historian interested in global history approaches them in relation to other spaces, reflecting renewed attention to connections and forms of circulation traditionally neglected in specialized studies. As will be argued below, in their role as observation posts, the IOs and international associations here comprise an especially productive area of research, in effect opening access to work on complexly intermeshing ‘circulatory regimes’.
Im Jahr 2000 bemerkte Wilfried Loth, dass unter deutschen Historikerinnen und Historikern bislang selten systematisch über Internationale Geschichte nachgedacht worden sei. Bis heute ist mit dem Ansatz der Internationalen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts eher eine Perspektive auf die „große Politik“ und auf die klassische Diplomatiegeschichte verbunden. Daran hat auch die inzwischen weitgehend etablierte Umbenennung der „Geschichte der internationalen Beziehungen“ in „Internationale Geschichte“ nur wenig geändert. Die Bände, die in der von Loth gemeinsam mit Eckart Conze, Anselm Doering-Manteuffel, Jost Dülffer und Jürgen Osterhammel seit 1996 herausgegebenen Reihe „Studien zur Internationalen Geschichte“ erschienen sind, öffneten sich zwar durchaus sozial- und kulturhistorischen Ansätzen. Das Repertoire der Globalgeschichtsschreibung ist hier aber noch nicht ausgeschöpft worden. Innovative globalhistorische Monographien, wie beispielsweise Sebastian Conrads Untersuchung zu „Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich“, liegen für die deutsche Zeitgeschichtsforschung noch nicht vor. Für das ‚lange 19. Jahrhundert‘ hat Conrad es verstanden, gerade das Deutsche Kaiserreich als nationales Gebilde in den Bezugsrahmen Internationaler Geschichte einzuspannen und hierbei den deutschen Nationalismus „auch als Produkt und Effekt von Interaktionen, Austausch und Zirkulation innerhalb einer zunehmend vernetzten Welt“ zu analysieren.
Mit dem vorliegenden Essay möchte ich in erster Linie vorstellen, was eine intersektionale Disability History leisten kann, welche neuen Fragen sie generiert und welche (inter-)disziplinären Anschlussmöglichkeiten sie bietet. Dazu ist es zunächst notwendig, einen Blick auf die Genese der Forschungslandschaft zur Geschichte und Gegenwart von Behinderung zu werfen, da bereits seit einigen Jahrzehnten insbesondere das Verhältnis der Ungleichheitskategorien Behinderung und Gender beschrieben und untersucht wird. Anschließend wird der Einfluss der Intersektionalitätsforschung auf die Disability History vorgestellt, um zu diskutieren, welchen analytischen und theoretischen Mehrwert eine dezidiert intersektionale Herangehensweise an die (Zeit-)Geschichte von Behinderung bieten kann. Am Ende des Beitrags wird eine Auseinandersetzung mit den normativen Implikationen stehen, die sowohl die Intersektionalitätsforschung als auch die Disability History kontinuierlich begleiten. Eine intersektional angelegte Erforschung von Behinderung kann – so mein Argument – erstens zur Reflexion normativer Zwischentöne beitragen und zweitens das methodische Instrumentarium der historischen Ungleichheitsforschung insgesamt bereichern.
In spite of the prevailing myth, neither the political self-conception of West Berlin that emerged soon after the war nor the city’s international image were mere by-products of the Cold War. They resulted, rather, from a binational campaign that was based on strategic considerations. Returned Social Democratic émigrés, sympathetic American officials, and certain journalists convinced the German and the American public of West Berlin’s heroic defence of democratic ideals with remarkable speed and success. They could rely on both tangible and intangible resources for their campaign of erecting an ›Outpost of Freedom‹ in what was left of the former Reichshauptstadt. While the heady Weimar days of pre-war Berlin provided countless images that appeared to authenticate this new narrative, the transatlantic network was also able to draw on considerable financial resources and media outlets to promote it. This article seeks to outline the historical actors behind the project and the narratives on which they drew.
»Es gibt ein Menschenrecht auf Bleiberecht!«, verkündete Sevim Dağdelen, damals Bundestagsabgeordnete für Die Linke, im März 2006. Dabei bezog sie sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall »Sisojeva u.a. gegen Lettland« vom Juni 2005. Es ging dabei um das Ehepaar Svetlana Sisojeva und Arkady Sisojev, die zur Zeit der Sowjetunion Ende der 1960er-Jahre nach Lettland gekommen waren und dort auch eine Tochter bekommen hatten. Ihr Aufenthaltsstatus blieb nach der Unabhängigkeit des baltischen Staates 1991 ungeklärt, da Lettland die Annexion des schon in der Zwischenkriegszeit unabhängigen Landes durch die Sowjetunion 1940 bzw. 1944 nicht anerkannte und die zur Sowjetzeit ins Land gekommenen Personen daher als Ausländer bzw. Staatenlose betrachtete, die gegebenenfalls das Land zu verlassen hätten. Aus einer Binnenmigration wurde somit quasi rückwirkend eine internationale Migration. In ihrer Beschwerde beim EGMR machte die Familie geltend, dass der lettische Staat durch seine Weigerung, ihren Aufenthaltsstatus zu regeln, ihr Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) verletze. Der EGMR schloss sich mehrheitlich dieser Auffassung an, woraus die Bundestagsabgeordnete Dağdelen folgerte: »Es gibt – unter bestimmten Bedingungen – ein Menschenrecht auf Bleiberecht, das der ausländerrechtlichen Allmacht der Nationalstaaten Grenzen setzt. Dieses Recht steht auch nicht im ›humanitären Ermessen‹ der Behörden. Es gilt absolut!«
Mein Ziel in diesem Essay ist es, die lokale Perspektive zu nutzen, um über die Begriffe »Ostalgie« und »Nostalgie« hinauszugehen. Der genauere Blick auf lokale Räume und Praktiken bietet die Möglichkeit, Erinnerungen, die gemeinhin als Nostalgie qualifiziert werden, als Teil einer schon länger bestehenden örtlichen Erinnerungskultur zu verstehen. Wie das Beispiel des sächsischen Dorfes Neukirch zeigt – vor und nach 1989/90 –, war eine ambivalente Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes ein Mittel, um die Stärke der Gemeinschaft zu beschwören. Entgegen der in Wissenschaft und Öffentlichkeit präsenten Überzeugung erscheint Nostalgie hier nicht als eine Flucht in die Vergangenheit, sondern als ein aktives Auseinandersetzen mit der Geschichte und ihren Auswirkungen in der Gegenwart.
Jenseits von Brutalisierung oder Zivilisierung. Schule und Gewalt in der Bundesrepublik (1970–2000)
(2018)
Gewalt an Schulen wird regelmäßig skandalisiert und erscheint oftmals als Symptom einer allgemeinen Verrohung von Gesellschaft. Demgegenüber haben viele Historiker/innen gerade die Schule in das Zentrum einer Zivilisierungsgeschichte der westdeutschen Gesellschaft seit 1945 gestellt. Der Beitrag nimmt diesen Deutungswiderspruch zum Ausgangspunkt einer Analyse schulischer Gewalt zwischen den frühen 1970er-Jahren und der Jahrtausendwende. Vorgeschlagen wird eine neue Lesart, die den Gegensatz der konkurrierenden Thesen von Gewaltzunahme und Gewaltabnahme aufhebt und stattdessen die sich wandelnden Vorstellungen dessen untersucht, was »Gewalt« eigentlich sei und wie sie überwunden werden könne. Seit den 1970er-Jahren mehrten sich die Arten von Gewalt, die mit Schule in Verbindung gebracht wurden. Eine Sensibilisierung gegenüber sehr unterschiedlichen Gewaltphänomenen war verbunden mit neuen Ansprüchen an Schule und schulische Kommunikation – Erwartungen, die von Lehrer/innen und Eltern als Fortschritt erfahren werden konnten, aber auch als Zumutung und Überforderung.
Das Ende des Kalten Krieges oder wie man alt wird. Man wird unwillkürlich zum Historiker der Zeit, deren Zeitgenosse man gewesen ist. Eine Epoche ist zu Ende gegangen, und wenn man diese beschreibt, beschreibt man zugleich auch ein Stück des eigenen Lebens, und umgekehrt: Das individuelle Leben fällt mit der historischen Zeit zusammen. Das hat nichts mit Selbstliebe oder Selbstüberschätzung zu tun. Man merkt es, wenn man mit jungen Leuten zusammen ist, mit denen man über Ereignisse spricht, die vor ihrer Geburt liegen, die man selbst aber miterlebt hat. Man berichtet aus der eigenen Zeit, die ihre Vorzeit ist. Es ist lohnend, sich dieser Zeit genau zu erinnern. Die subjektive Erinnerung bewahrt Details, Nuancen, Valeurs, die im Betrieb der Geschichtsforschung entweder gar nicht vorkommen oder später, wenn man deren Fehlen bemerkt, mühsam rekonstruiert werden müssen.
Jenseits von Zeit und Raum. Flugreisewerbung in den USA und Westdeutschland während der 1970er-Jahre
(2017)
»Getaway. To places you always wanted to see but never thought you could«, lautete die Überschrift einer Werbekampagne der amerikanischen Fluggesellschaft Trans World Airlines (TWA) im Jahr 1971. In großformatigen, mit Farbfiltern hervorgehobenen Bildern von Sehenswürdigkeiten wie dem britischen Parlamentsgebäude in London, dem amerikanischen Grand Canyon oder dem Taj-Mahal-Mausoleum im indischen Agra bewarb sie Reiseziele auf verschiedenen Kontinenten.
Als reale und symbolische Grenze zwischen Ost und West im Kalten Krieg hat die Berliner Mauer internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie ist historisch gut erforscht, und seit 2011 gibt es eine mehrfach prämierte Mauer-App, die Informationen über Bau und Verlauf der Mauer, über Fluchtversuche und das Grenzregime der DDR bietet. Die Jerusalemer Mauer – in weiten Teilen eher ein Stacheldrahtzaun –, erscheint dagegen als Marginalie: Sie markierte keine global bedeutsame Blockgrenze im Kalten Krieg, sondern »nur« die Grenze zwischen dem neuen jüdischen Staat und seinen arabischen Nachbarn. Ihre Lebensdauer war mit 19 Jahren auch kürzer als diejenige ihres Berliner Pendants. Seit die israelische Regierung 2002 mit dem Bau einer Mauer zwischen Jerusalem und dem palästinensisch verwalteten Westjordanland begann, ist diese erste Mauer weitgehend in Vergessenheit geraten.
Der Massenmord an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg gehört heute zu den am gründlichsten erforschten Themen der Neueren Geschichte. Vor der Publikation von Raul Hilbergs Dissertation »The Destruction of the European Jews« aus dem Jahr 1954, die erst 1961 im Druck erschien und noch heute zu Recht als Standardwerk der Holocaust-Forschung gilt, fehlte es zwar nicht an Untersuchungen zum Thema, doch waren diese zunächst ganz überwiegend aus einer nationalgeschichtlichen Perspektive verfasst und deckten daher immer nur Teilbereiche des Gesamtphänomens ab. Zu den wenigen Ausnahmen im deutschen Sprachraum, die früh die politischen Aspekte des Völkermordes in Südosteuropa analysierten und damit nachdrücklich auf dessen europäische Dimension aufmerksam machten, gehörte eine heute vergessene juristische Doktorarbeit, die im akademischen Jahr 1957/58 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. angefertigt wurde.
Anhand einer Anwaltsgruppe um Kurt Rosenfeld und Theodor Liebknecht wird gezeigt, wie sozialistische Anwälte Gerichtsverfahren sowie deren öffentliche Wahrnehmung mitprägten und im Sinne der eigenen politischen Bewegung nutzbar machen konnten. Wie setzten sie juristische Verfahrensmöglichkeiten für weitergehende Ziele ein? Nach Hinweisen zu den Ursprüngen dieses Anwaltstypus und den biographischen Hintergründen der Anwälte fokussiert der Beitrag das Fallbeispiel der Berliner »Spartakusprozesse«. In diesen Verfahren gegen (angebliche) Beteiligte am Januaraufstand 1919 klagten die untersuchten Anwälte die Rechtsprechung, die neue Regierung und die bewaffnete Macht an. Schon hier stellten sie die für die Weimarer Republik zentralen Fragen nach der Legitimität und Legalität der Regierung sowie nach einer alternativen Ordnung. Deutlich wird ferner der besondere Resonanzraum für politische Strafverteidigung in Umbruchszeiten und für Anwälte, die zugleich als Politiker öffentlichkeitswirksam arbeiteten. Sozialistische Anwälte können folglich nicht auf die Rolle von Kronzeugen gegen die einseitige Justiz der Weimarer Republik reduziert werden, sondern sie waren selbstbewusste Akteure, die zur Debatte um den rechtlichen und politischen Charakter der neuen Ordnung wesentlich beitrugen.
In der Fülle an Literatur über Strafprozesse gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher nimmt ein Buch einen besonderen Platz ein: Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“. Kaum ein anderes Werk zu diesem Thema hat derart kontrovers geführte und lange nachwirkende Diskussionen ausgelöst. Bis heute wird Arendts Buch als eines der ersten zur Hand genommen, wenn es um den 1961 in Jerusalem durchgeführten Prozess gegen Adolf Eichmann geht, den ehemaligen SS-Obersturmbannführer und Leiter des für die Organisation der Vertreibung und Deportation der Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamtes. Viele andere Arbeiten über den Fall Eichmann sind heute dagegen nahezu vergessen oder nur einem engeren Publikum bekannt.
In der gegenwärtigen Debatte über Imperien wird die konstitutive Bedeutung des Raumes hervorgehoben. Seine Repräsentation in Gestalt von Karten wird aber bisher selten zum Forschungsgegenstand gemacht, obwohl Untersuchungen zum British Empire auf den Zusammenhang von kognitiven und materiellen Karten für die Ausbildung eines Raumbewusstseins innerhalb des Imperiums und in Bezug zur Welt verweisen. In der Sowjetunion war die Produktion und Verbreitung von Karten von Anfang an ein grundlegender Bestandteil imperialer Politik, weil das dokumentierte Wissen über das Territorium, seine Strukturen und Bewohner eine Voraussetzung für eine umfassende Sowjetisierungspolitik darstellte. Einer der sowjetischen „Vermesser“ war der ungarische Kartograph Alexander (Sándor) Radó, der seit den 1920er-Jahren an der Produktion sowjetischer und europäischer Atlanten beteiligt war. Die Karten sind in mehrfacher Hinsicht Dokumente eines imperialen Konstruktionsprozesses, weil sie einerseits als Projektionsfläche genutzt wurden und andererseits die innenpolitische Entwicklung in der Sowjetunion spiegelten und beeinflussten.
Protagonisten der führenden Parteien in Katalonien mussten sich in den vergangenen Monaten allerlei Vorwürfe gefallen lassen. Die spanische Zentralregierung bezeichnete ihre Beschlüsse als offenen Rechtsbruch und Verstoß gegen die Verfassung. In der spanischen und der internationalen Presse war die Rede von einer gefährlichen Spaltung des ganzen Landes, die durch die katalanische Politik ausgelöst werde. Eines kann man den dortigen Akteuren jedoch nicht vorwerfen: Geschichtsvergessenheit. Diejenigen Personen, die sich selbst zur Unabhängigkeitsbewegung rechnen oder für eine größere politische Selbstständigkeit eintreten, bedienen sich gezielt der Geschichte als Rechtfertigungsmittel und Argumentationsressource. Das ist erst Anfang 2018 wieder deutlich geworden, als der abgesetzte katalanische Präsident Carles Puigdemont bei einer Tagung in Dänemark vom langen Schatten Francos sprach und damit auf das Verhalten der spanischen konservativen Volkspartei Partido Popular im Katalonienkonflikt anspielte. Die Instrumentalisierung der Geschichte ist für regionalistische oder nationalistische Bewegungen ein typisches Vorgehen. Zugleich macht dieser Sachverhalt klar, dass ein Beitrag, der die aktuellen Ereignisse in Katalonien aus zeithistorischer Perspektive zu deuten versucht, möglicherweise selbst Gefahr läuft, solche Narrative zu reproduzieren oder zu stärken. Dass Geschichte in dem Konflikt als Mittel der Auseinandersetzung dient, stellt Historiker/innen vor die Herausforderung, die Argumente der Akteure einerseits zu prüfen und andererseits einen eigenen Erklärungsansatz zu liefern.
Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit
(2019)
Das neu-alte Schloss steht bereits. Die Baugerüste sind Ende 2018 gefallen und haben den Blick auf die rekonstruierten Barockfassaden an der Nord-, West- und Südseite freigegeben. Lediglich die moderne Ostfassade lässt von außen erkennen, dass es sich bei dem Gebäude auf dem Berliner Schlossplatz nicht wirklich um das alte Stadtschloss handelt, sondern um eine Teilrekonstruktion. In deren Innerem soll ab Ende 2019, im 250. Geburtsjahr Alexander von Humboldts, das Humboldt Forum etappenweise eröffnen. Neben Sonderausstellungsflächen, Veranstaltungsräumen und einer Ausstellung zur Geschichte des Ortes im Erdgeschoss sowie Ausstellungen des Landes Berlin und der Humboldt-Universität im ersten Obergeschoss wird es im zweiten und dritten Obergeschoss die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst beherbergen, die beide zu den Staatlichen Museen zu Berlin gehören und damit Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind.
Seit dem erfolglosen Putsch am 15. Juli 2016 gilt in der Türkei der Notstand. Mitte April 2017 stimmten nun 51,4 Prozent der Wahlberechtigten für eine Verfassungsänderung, die dem Präsidenten weitreichende Befugnisse verleiht. Der Wahlkampf hatte das Land stark polarisiert, das Referendum war eine Abstimmung für oder gegen das »System Erdoğan«. Aber auch nach der Wahl hat sich die Lage nicht beruhigt – die Opposition zweifelt an der Rechtmäßigkeit der Abstimmung, unter anderem weil kurzerhand 2,5 Millionen ungestempelte Wahlzettel zugelassen wurden...
Es steht Wehler drauf, und es ist Wehler drin. Das Konzept der vorhergehenden Bände wird beibehalten, wenngleich mit der bereits des Öfteren kritisierten Verschiebung zugunsten des Primats der Politik in einigen Kapiteln. Im Vorwort verteidigt der Autor erneut seinen Ansatz: Gegenüber den eingeforderten Konzessionen an eine neue Kulturgeschichte weist er zum Beispiel darauf hin, dass eine Analyse struktureller Faktoren notwendig sei, bevor an eine mentalitätsgeschichtliche Auswertung gedacht werden könne. Das ist nachzuvollziehen, und Wehlers „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ liefert diese Strukturanalyse gesellschaftlicher Existenzbedingungen. Die Bevölkerungsentwicklung, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Schichtung und die kulturellen Institutionen ebenso wie das politische System bilden die Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Vorteil und die Tragfähigkeit dieses Ansatzes kommen an vielen Stellen zum Ausdruck und geraten zum analytischen Vorzug dieses Werkes gegenüber anders konzipierten Handbüchern. Mentalitätsgeschichte zu schreiben böte sich auf dieser Grundlage an, erforderte aber zweifellos einen eigenen Band und ist zudem nicht Wehlers Sache.
Keine Stunde Null. Sozialwissenschaftliche Expertise und die amerikanischen Lehren des Luftkrieges
(2020)
Alle Kriegsparteien bombardierten im Zweiten Weltkrieg Ziele, die lange Zeit als zivil gegolten hatten. Diese sogenannten strategischen Bombardierungen wurden im Auftrag der US-Regierung ab dem Kriegsende mit einem Stab von über 1.000 Mitarbeitern in Deutschland und Japan aufwendig evaluiert (United States Strategic Bombing Survey, USSBS). Mithilfe ambitionierter Sozialwissenschaftler gelang es der jungen US Air Force, den strategischen Luftkrieg als militärisch und psychologisch entscheidend darzustellen, und so taten sich für die Luftkriegsexperten auch nach 1945 attraktive neue Beschäftigungsfelder auf. Die Wissenschaftler argumentierten, sie seien in der Lage, methodisch abgesichert einen schnellen und vermeintlich »sauberen« Krieg aus der Luft zu planen. Der Aufsatz stellt die bisher kaum erforschten Logiken und Folgen dieser Kooperation sowie die behaupteten Lehren des Weltkrieges für den Korea- und den Vietnamkrieg dar. Damit hinterfragt er das gängige Verständnis einer radikalen Zäsur, die der erste Einsatz der Atombombe mit sich gebracht habe, und plädiert für einen neuen Blick auf die Militär-, Gewalt- und Wissensgeschichte des »Kalten Krieges«.
Unfreundliche Häme schüttete sich noch Ende des letzten Jahres in der Öffentlichkeit über einem vormals so vielgerühmten Berufsstand aus. Die Ökonomen wurden sehr unverblümt dafür kritisiert, dass sie vor der Wirtschaftskrise ahnungslos und in der Wirtschaftskrise orientierungslos gewesen seien. Lisa Nienhaus, Wirtschaftsredakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), bezeichnete sie als kollektive „Blindgänger“. Als „Starökonomen“ wurden plötzlich Wissenschaftler gelobt, die dem Fach zuvor als Außenseiter und Schwarzseher galten, wie der vor der Finanzkrise noch als „Dr. Doom“ verspottete Nouriel Roubini, der sich nun in Medien und Fachorganen zu Wort melden durfte, dabei aber nicht mehr als Vertreter der Zunft galt, sondern als in der Vergangenheit gegen die Wirtschaftswissenschaften angehender Einzelkämpfer. Gleichzeitig erhoben sich wortgewaltige Verfechter der Mainstream-Ökonomie wie der Münchener Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn: Er habe – ließ er die „FAZ“ und durch sie die Öffentlichkeit wissen – seit längerem auf die Probleme des Finanzmarktes hingewiesen und Veränderungen gefordert, und letztlich sei es das Problem der Journalisten, dass sie lieber über börsliche Höhenflüge als über mahnende wissenschaftliche Expertise berichtet hätten. Die Krise sei also gerade dadurch entstanden, dass die Welt nicht auf die Ökonomen gehört habe.
Im Jahr 1963 veröffentlichte der Religionssoziologe Thomas Luckmann ein nur 83 Druckseiten langes Buch mit dem eher unscheinbaren Titel „Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft“. Das schmale Bändchen war zunächst einmal ein Eingriff in eine aktuelle und kontrovers beurteilte Praxis: die Nutzung religions- und kirchensoziologischer Erhebungen und Daten als „Hilfswissenschaft“, deren „Probleme“, so Luckmann, „von den institutionellen Interessen religiöser Organisationen bestimmt“ würden. Damit spielte Luckmann, der selbst empirische Erhebungen zur religiösen Praxis in protestantischen Gemeinden durchgeführt hatte, auf den engen „positivistischen“ methodischen Rahmen vieler pastoralsoziologischer Untersuchungen an, die von katholischen wie protestantischen Bistümern seit Anfang der 1950er-Jahre durchgeführt worden waren. Solche Studien erhoben zum Beispiel Sozialdaten von Kirchenbesuchern oder Imagewerte verschiedener pastoraler Dienstleistungen, um den Bistumsleitungen Anhaltspunkte für die Neuordnung seelsorglicher Angebote zu liefern. Doch für Luckmann verfielen diese empirischen Erhebungen nicht nur wegen der kurzschlüssigen kirchlichen Verwertungsinteressen und ihrer Fokussierung auf klar operationalisierbare, durch Teilnahme am Ritual definierte Formen des Religiösen der Kritik. Problematisch erschien ihm mehr noch die damit verbundene Einschreibung in ein Säkularisierungsparadigma, das ganz eindimensional an der „zurückgehenden Reichweite der Kirchen“ orientiert war.
Klaus Theweleits literaturwissenschaftliche Dissertationsschrift „Männerphantasien“ von 1977/78 wurde in fünf Sprachen übersetzt und mehr als zweihunderttausend Mal verkauft. Der Aufsatz ordnet dieses außergewöhnliche Erfolgsbuch in seinen Zeitkontext ein - in das linksalternative Milieu der Bundesrepublik der späten 1970er-Jahre. Sechs Faktoren dürften zur Resonanz auf die „Männerphantasien“ beigetragen haben: Erstens vollzog das Buch den Wandel von klassisch marxistischer zu psychologisch-postmoderner Theoriebildung nach; zweitens lieferte es mit der Faschismusdeutung einen Beitrag zu dem zentralen Milieuthema; drittens verstand sich das Buch als ein Beitrag zur damals hochaktuellen Geschlechterdiskussion; viertens begleitete und förderte es den Wandel zu einer „Politik der ersten Person“; fünftens bediente Theweleit die linksalternative Ästhetik, und sechstens schrieb er über Gewalt und Terrorismus als hochaktuelles Thema. Im zweiten Teil des Aufsatzes werden die „Männerphantasien“ als historiographische Leistung zur Körper- und Geschlechtergeschichte des Faschismus aus der Perspektive der heutigen Geschichtswissenschaft kritisch gewürdigt.
Kolonialkrieg, Globalstrategie und Kalter Krieg. Die Emergencies in Malaya und Kenya 1948–1960
(2005)
Kein Staat der Welt hat während des Kalten Krieges öfter Krieg geführt als Großbritannien. Obwohl das Königreich ein Hauptakteur des Ost-West-Konfliktes und die größte Kolonialmacht der Erde war, erklären sich diese „heißen Kriege" im Kalten Krieg weder aus der Blockkonfrontation noch aus der Logik eines kolonialen Freiheitskampfes wirklich hinreichend. Man kann diese Kriege nur verstehen, wenn man sie als Resultate einer auf die Weltmachtrolle und das Selbstverständnis als Imperialmacht zentrierten Kollektivmentalität in den politischen und militärischen Eliten des Mutterlandes begreift. Die „heißen Kriege" waren in erster Linie ein Ausfluss globalstrategischen Sicherheitsdenkens. Der Artikel zeigt dies am Beispiel der Emergencies (Ausnahmezustände) in Malaya und Kenya, die für die strategische Verteidigung der Indikregion bedeutsam waren.
Kommerzielle Bildanbieter entledigen sich zunehmend ihrer analogen Fotoarchive. Dabei geht es nicht selten um Millionen von Fotografien. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie es bei solchen Anbietern um die Wertschätzung ihres analogen Fotoerbes steht. Die Antwort scheint entsprechend einfach zu sein: Solche Bestände werden gering geschätzt. Die Fotoarchive werden abgegeben oder gar vernichtet, weil sie für ihre Besitzer mehr Verlust als Profit einbringen. In manchen Fällen übernehmen öffentliche Gedächtnisinstitutionen wie Archive, Museen und Bibliotheken die Bestände und widmen sie von Gebrauchs- zu historischen Fotoarchiven um. Dies hat im Zusammenspiel mit der allgemeinen Digitalisierung der Fotografie das Bewusstsein für die Historizität alter Pressefotografien und damit für ihren kulturellen sowie wissenschaftlichen Wert geschärft. Die einst massenhaft für den Verkauf hergestellten Gebrauchsbilder gelten heute als zeithistorische Dokumente. In der medialen Öffentlichkeit wird vollmundig vom »visuellen« oder vom »fotografischen« Gedächtnis eines ganzen Landes geschrieben.
Kompromissgeschichte, serviert auf dem "Tablet". Das Haus der europäischen Geschichte in Brüssel
(2018)
Im Mai 2017 wurde im Brüsseler Leopoldpark, im Zentrum des Europaviertels, das Haus der europäischen Geschichte eröffnet. Zehn Jahre nach seiner Initiierung durch den damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, den deutschen CDU-Politiker Hans-Gert Pöttering, erwartet den Besucher eine Ausstellung, die als geradezu idealtypische Inkarnation EU-europäischer Kompromisslogik gedeutet werden kann. Seit Pötterings Idee, einen Ort zu schaffen, »der unsere Erinnerung an die europäische Geschichte und das europäische Einigungswerk gemeinsam pflegt und zugleich offen ist für die weitere Gestaltung der Identität Europas durch alle jetzigen und künftigen Bürger der Europäischen Union«, wurde über die inhaltliche wie gestalterische Ausrichtung des »Hauses« (das sich bewusst nicht als »Museum« bezeichnet) heftig debattiert.
Die Frage nach den sozialen Effekten des Massenkonsums spielte für Marktforschung, Marketing, Werbung, Konsumkritik, Verbraucherschutz und Verbraucherpolitik in der Bundesrepublik eine entscheidende Rolle. Der Aufsatz nimmt die 1960er- und 1970er-Jahre in den Blick: Die zuvor populäre These, der Massenkonsum habe nach dem Zweiten Weltkrieg die sozialen Hierarchien eingeebnet, verlor nun an Bedeutung. Stattdessen entwickelten Marktforscher, Werbefachleute und Verbraucherschützer das Modell einer Gesellschaft, die sich durch die symbolische Dimension von Konsumgütern erneut ausdifferenziere. Im vorliegenden Beitrag werden die Theoreme der sozialen Nivellierung bzw. Differenzierung als zeitgebundene Deutungsmuster herausgearbeitet sowie mit der Praxis der zeitgenössischen Marktforschung, des Marketings und des Verbraucherschutzes in Beziehung gesetzt. Den Höhepunkt der Auseinandersetzung um Konsum und Gesellschaft markierten die 1970er-Jahre, als massive Konsumkritik die Werbung in eine Krise führte, während der Verbraucherschutz seinen Durchbruch erlebte.
Taylors Name steht heute – mit dem Begriff „Taylorismus“ – für Arbeitszerlegung und Dequalifizierung. In seinem vielfach nachgedruckten Hauptwerk „The Principles of Scientific Management“ fasste der amerikanische Ingenieur und Rationalisierungsberater Frederick Winslow Taylor (1856–1915) vorhandene heterogene Rationalisierungsvorschläge und -maßnahmen sowie eigene Überlegungen zu einer plakativen Lehre zusammen. An ihr entzündeten sich in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg heftige Auseinandersetzungen um die Organisation der Fabrik und die Gestaltung industrieller Arbeit.
Korporatismus und Lobbyismus vor 50 Jahren und heute. Theodor Eschenburgs „Herrschaft der Verbände?"
(2005)
Als zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs Theodor Eschenburgs kleine, aber einflussreiche Schrift über die besorgniserregende Zunahme von Verbandsinteressen und Gruppenegoismen im noch jungen demokratischen Gemeinwesen der Bundesrepublik erschien, waren Verbände weder hinsichtlich der Organisationsmacht noch mit ihren Einflussversuchen auf politische Entscheidungsprozesse neuartige Phänomene. Man mag an den Alldeutschen Verband oder den Bund der Landwirte im Kaiserreich denken, an die Gewerkschaften der Weimarer Republik oder die mächtige industrielle Verbandslobby, die auch während des Nationalsozialismus weitgehend erhalten blieb: In modernen Massengesellschaften zählt die Artikulation partikularer Gruppeninteressen spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Alltag.
Dieses Themenheft trägt den Titel „Die 1970er-Jahre - Inventur einer Umbruchzeit“. Wie schwierig ihre Bilanzierung ist, deutet schon der am Ende des Jahrzehnts von Jürgen Habermas lancierte Versuch einer Ortsbestimmung mit dem Titel „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘“ an. Die Beiträger dieser Sammelbände versuchten „Begriff und Würde der Moderne“ gegen eine befürchtete konservative Wende zu verteidigen. Weit weniger Aufmerksamkeit widmeten die meisten von ihnen dem Beginn eines fundamentalen Strukturwandels, der das Ende der klassischen Industriegesellschaft signalisieren und das sozialliberale Zukunftsprojekt gefährden sollte. Aus heutiger Sicht vermitteln die Essays von 1979 eher den Eindruck einer verbreiteten Ratlosigkeit, als dass sie zum Verständnis der beginnenden ökonomisch-sozialen Strukturkrise beitragen würden. Originelle Denker wie Claus Offe erkannten durchaus bestimmte Tendenzen des Wandels, fassten ihre Beschreibungen und Deutungen aber in höchst zeitgebundene und normativ aufgeladene Begriffe („Spätkapitalismus“ etc.).
Ganz im Freud’schen Sinne war die deutsche Sprache für Theodor W. Adorno das von Anfang an Vertraute, das vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, der Erfahrung von Verfolgung und Exil sowie dem Wissen um die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden jedoch zum Unvertrauten wurde. Gerade deshalb, so könnte man meinen, hielt Adorno beharrlich am Ideal eigener, »authentischer« Sprachverwendung als Muttersprachler fest, als sei seine Sprache ein autonomer Bereich. Zugleich richtete sich seine Sprachkritik aber gleichsam »objektiv« auf den mit formelhafter Sprachverwendung einhergehenden gesellschaftlichen Erfahrungsverlust. Unter dieser spannungsreichen Doppelperspektive reflektierte Adorno sein Verhältnis zur deutschen Sprache und die Funktion von Sprache als Medium des Denkens in einer Vielzahl von Texten. Während in einigen davon das Deutsche als Muttersprache vor allem ein identitätsstiftendes Moment bedeutet und als biographische Klammer nach der Zäsur von Exil und Holocaust eine Verbindung zur Kindheit herstellt, steht einem solchen emphatischen Verständnis des Deutschen die Analyse entleerter, formelhafter Sprachverwendung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft gegenüber. So deutet sich an, dass der Remigrant Adorno in der verwalteten Welt nach dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) in der deutschen Sprache sprachmächtig agieren konnte, während er zugleich einen allgemeinen Erfahrungsverlust konstatierte. Der Spannung, ja dem Changieren Adornos zwischen radikaler Sprachkritik einerseits und Idealisierung der deutschen Muttersprache andererseits möchte ich hier in fünf Schritten nachgehen.
Der Text markiert eine Zeitenwende. Mit ihm wurde der gängigen Rede von der „Vergangenheitsbewältigung“, die den politischen und moralischen Diskurs der Nachkriegsrepublik als Cantus firmus begleitete, ein kritisches Konzept entgegengesetzt. Adornos Leistung war es, mit diesem Aufsatz die Unangemessenheit des „Bewältigungs-Diskurses“ aufzuzeigen und ein alternatives Programm der Aufklärung über die NS-Zeit zu etablieren. In seiner Urform war „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ ein im Herbst 1959 vor dem Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gehaltener, im November des Jahres publizierter Vortrag. Seine subkutane Wirkung war immens, nicht zuletzt aufgrund einer historischen Koinzidenz: Kurz nach der Veröffentlichung schändeten Rechtsradikale die gerade neu eingeweihte Kölner Synagoge – ein Akt, der die von Adorno analysierte Persistenz des nazistischen Syndroms in das Bewusstsein der Öffentlichkeit hob. Dass es sich bei der Gewalttat aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Aktion der Stasi handelte, gibt uns heute Anlass – ähnlich wie im Fall Kurras –, neu über das manchmal verwirrende Zusammenspiel ostdeutscher Delegitimierungsstrategien der Bundesrepublik mit den Aktivitäten der westdeutschen intellektuellen Opposition gegen den Adenauerstaat nachzudenken.
Wie wirkte sich die materielle Beschaffenheit von Kunstgegenständen auf den Kunstmarkt und seine Akteure aus? Alarmiert durch den schlechten Zustand, in dem sich die öffentlichen Kunstsammlungen präsentierten, entwickelte sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein naturwissenschaftlich-technologischer Fachbereich zur Analyse von Kunstmaterialien, der durch stete Innovationen bis heute dynamisch geblieben ist. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse steigerten den Aufwand immens, der betrieben wurde, um Kunstwerke sachgerecht unterzubringen, zu versorgen und zu transportieren. Folglich beeinflussten sie auch die Sichtbarkeit und den ökonomischen Wert von Werken bildender Kunst. Die naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden unterstützten zudem die Authentifizierung. Damit verringerten sie den Bestand anerkannter Originalwerke und vergrößerten zugleich die Sicherheit bei Kaufentscheidungen. Da sie dem Wahrnehmungsapparat der Menschen in dieser Frage teilweise überlegen waren, erschütterten die neuen Technologien das menschliche Selbstverständnis dabei grundlegend. Eindeutige Urteile ließen auch die naturwissenschaftlichen Befunde allerdings längst nicht immer zu.
Der Beitrag untersucht den Wandel der Freizeit- und Kurinfrastruktur für behinderte Menschen und ihre Angehörigen in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz. In der Bundesrepublik und in der DDR waren diese Maßnahmen sehr unterschiedlich organisiert und an die jeweiligen Familienideale angelehnt. Während das westdeutsche Müttergenesungswerk seit den 1950er-Jahren Sonderkuren für besonders belastete Hausfrauen anbot, blieben staatliche Freizeiten in der DDR zunächst Werktätigen vorbehalten. Gerade für Mütter behinderter Kinder ließ die DDR-Staatsführung der Diakonie eine Nische. Trotz solcher divergierenden Trägerstrukturen verlief der Wandel ost- und westdeutscher Angebote in ähnlichen Phasen. Im Westen war es der Contergan-Skandal Anfang der 1960er-Jahre, der eine stärkere Aufmerksamkeit auf die betroffenen Familien lenkte. Der Ausbau von Erholungsangeboten setzte sich auch »nach dem Boom« fort. Im Osten erkannte die SED-Führung ab den 1960er-Jahren die Versorgung der Angehörigen behinderter Menschen als Staatsaufgabe an und intensivierte ihr Engagement auch auf Druck von Eingaben Betroffener. Auffällig ist für beide deutsche Staaten, dass Väter lange Zeit eher abwesend blieben. Eine andere Gemeinsamkeit waren die fortbestehenden Barrieren an vielen Urlaubsorten.
Am 1. Oktober 1973 nahmen die Hochschulen (seit 1985 Universitäten) der Bundeswehr in Hamburg und München ihren Lehrbetrieb auf. Hervorgegangen aus jahrelangen Diskussionen über Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr, sollten sie allen Offizieren ein vollwertiges wissenschaftliches Studium bieten, um sie für ihre militärischen Führungsaufgaben sowie für den zivilen Arbeitsmarkt nach ihrer Dienstzeit zu qualifizieren. Neben der Attraktivität der soldatischen Laufbahn kamen zwei weitere Argumente hinzu: zum einen die militärische Effektivität unter den Vorzeichen der wissenschaftlich-technischen Systemkonkurrenz im Kalten Krieg, zum anderen die integrative Funktion akademischer Bildung für Soldaten als »Staatsbürger in Uniform«. Erst das Ineinandergreifen dieser drei Argumentationsstränge ermöglichte die Gründung der Hochschulen, gegen die Kritik von konservativen Militärs und aus der Studentenbewegung. Der Aufsatz ordnet die verschiedenen Motivationen für die Akademisierung der Offizierslaufbahn seit den frühen 1960er-Jahren historisch ein und erklärt die Spannungen der Gründungsgeschichte im Kontext der allgemeinen Hochschulexpansion.
Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im „New Age“ (Westdeutschland 1970–1990)
(2008)
Das „New Age“ wird üblicherweise als Ergebnis oder Ereignis der Privatisierung und Pluralisierung der Religion nach „1968“ begriffen. Der vorliegende Beitrag betrachtet diese Zuordnung als erweiterungsbedürftig und unterzieht einige der zentralen Deutungsmuster innerhalb des „New Age“ einer diskursgeschichtlichen Relektüre. Auf diese Weise geraten drei Transformationsprozesse in den Blick, die das „New Age“ in den 1970er- und 1980er-Jahren als „Neue Religion“ in das Zentrum des gesellschaftlichen Wandels rückten: Somatisierungs-, Orientalisierungs- und Kybernetisierungsprozesse. In einem weitgehend unbekannten Ausmaß wurde insbesondere die Sorge um den „eigenen“ Körper zum Referenzpunkt religiöser Kommunikation. Entgegen der Säkularisierungsthese verlor die Religion in diesem Kontext keineswegs an gesellschaftlicher Relevanz.
In der westdeutschen Universitätsmedizin galt Stress zunächst als deskriptive Laborbeobachtung und nur wenig origineller Versuch des Hormonforschers Hans Selye, die Regulationsmechanismen des Körpers mit einem ganzheitlichen Konzept zu beschreiben. Selyes in Kanada entwickelte Ansätze fanden in der Bundesrepublik kaum positive Resonanz; das Stresskonzept schien in den 1950er-Jahren keine Zukunft zu haben. Dies änderte sich in den 1960er-Jahren, als Stress über das Risikofaktoren-Modell mit der Diskussion um Herz- und Kreislauferkrankungen verbunden wurde. Stress wurde nun Leitbegriff und Forschungsressource von Disziplinen wie Sozialmedizin, Psychosomatische Medizin, Arbeitsmedizin und Präventivmedizin. Um 1970 trat zu den Bezugsebenen »Zivilisation« und »Gesellschaft« noch »Umwelt« hinzu. Insbesondere drei Bedrohungsszenarien erwiesen sich als Stimuli der medizinischen Stressforschung: Überbevölkerung und Verstädterung, Verkehr und Lärm sowie der Wandel der Arbeitswelt. Weit über wissenschaftliche Verwendungen hinaus wurde der Stressbegriff populär, weil er zeitdiagnostisches Deutungspotential gewann und sich als eine Verständigungsplattform der Verunsicherten eignete.
Laughing at the Dictator. Franco and Franco’s Spain in the Spanish Blockbuster „Mortadelo y Filemón“
(2004)
The Spanish motion picture “La Gran Aventura de Mortadelo y Filemón” (2003) is not a historical film, no matter what definition of ‘historical film’ one might use. Instead, “Mortadelo y Filemón” (M&F) is the cinematic adaptation of the most successful Spanish comic book series ever published2 its significance to Spanish popular culture reflected by the spectacular box office records achieved by its cinematic counterpart. Moreover, and in contrast to the things we usually understand as ‘historical film’ - as well to the conventions of cinematic realism -, M&F is a cartoon-like histrionic comedy like no other; characters get smashed to the ground by a falling piano, only to later be “inflated” back to life, much in the style of the Warner Brothers’ „Loony Toons.“
Die Ausgangsfrage der – hier notwendig kursorischen – Analyse des persönlichen Sachbesitzes einer Schenkerin für die Sammlung eines Museums war diejenige nach dem Quellencharakter der Dingsammlung und ihrer sozialen Dimension. Der erhebliche Umfang der Schenkung könnte, so die Hypothese, ein von den Dingen ausgehendes Bild von einem Leben in der DDR ermöglichen. In der Tat zeigen sich mehrere lebensweltliche Dimensionen, die als Sedimente nunmehr im Museumsdepot zu finden und damit der Forschung zugänglich sind: soziale Praktiken und soziale Beziehungen, Informationen zur Arbeitswelt und zur Einstellung gegenüber der DDR, dazu Fragen eines kommunikativen Gedächtnisses in Dingensembles und biographische Hinweise, die auf die historischen Kontexte eines Lebensverlaufs Bezug nehmen. Die Überlieferungsstruktur ist nach den Aufbewahrungsorten organisiert, reicht aber deutlich über eine Lebensspanne hinaus. Damit wird erkennbar, dass der historisch-analytischen Ordnung eine lebensweltliche voranging, die schließlich zur Übergabe an eine öffentliche Institution führte.
»Aktiv gegen Streß« – mit dieser Schlagzeile informierte »Der Scheibenwischer«, die Werkszeitung der IG Metall für die Beschäftigten der Daimler-Benz AG und der Mercedes-Benz AG am Standort Stuttgart, im Mai 1990 über die laufenden Tarifverhandlungen. Arbeitstempo und Leistungsdruck nähmen rasant zu, diesem Trend müsse man gemeinsam entgegenwirken. Dazu habe die IG Metall für die Tarifrunde ein »Anti-Streß-Paket« geschnürt, in dessen Mittelpunkt die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche »für mehr freie Zeit und Lebensfreude« stehe. Die insgesamt acht Seiten des Hefts, das vor allem an die Angestellten in den Verwaltungszentralen des Konzerns verteilt wurde, informierten über Probleme wie Personalabbau, psychische Gründe für steigende Fehlzeiten und drohende Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen durch das von der Unternehmensberatung McKinsey eingeführte Programm zur »Optimierung der Gemeinkosten« (OGK). Hervorgehobene Kästchen definierten zentrale Begriffe der Artikel, darunter »Streß«. Mit Verweis auf das seit 1976 in vielen Auflagen erschienene Buch »Phänomen Streß« von Frederic Vester wurden in knappen Worten medizinischer Hintergrund und psychisch-soziale Folgen der modernen Industriegesellschaft für den »natürlichen Verteidigungsmechanismus des Körpers« zusammengefasst.
Ein Denkmal in Gursuf, einem Schwarzmeerküstenort auf der Krim – man könnte es betiteln mit »Lenin spannt aus«. Statt der gewohnten Lenin-Statuen aus sowjetischer Zeit, die aufrecht stehend mit großer Geste den Weg in eine »strahlende Zukunft« (so auch ein weiterer Romantitel Sinowjews) weisen, finden wir in Gursuf einen ebenso überlebensgroßen, erhabenen Lenin vor; er sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen, fast in Urlaubshaltung auf einer Bank vor einer prunkvollen Villa, die in der UdSSR dem Sanatorium des Verteidigungsministeriums zugeordnet war. Bereits in der frühen Sowjetunion – in den 1920er-Jahren – hatte Lenin dekretiert, die Kurorte der Krim seien für die Arbeiter und Bauern zu nutzen sowie die Villen und Besitztümer der Adligen in entsprechende Sanatorien umzuwandeln. Die gesamte Schwarzmeerküste der Sowjetunion wurde als Kurregion entwickelt. So ließ Stalin einst Sotschi – 2014 die Stadt Putins subtropischer Winterolympiade – als Modell-Kurstadt und Prestigeprojekt ausbauen. Die Krim, deren Badeorte bereits auf das 19. Jahrhundert zurückgingen, und vor allem die Gegend um Jalta – auch russische Riviera genannt – wurde zur wichtigsten Erholungs- und Sanatorienregion der UdSSR.
Seit der Industrialisierung gehören Auslandsreisen zu den bevorzugten Informations- und Wissensquellen deutscher Unternehmer. Wichtigstes Reiseland war in der Frühphase der Industrialisierung zunächst England als „first industrial nation“. Deutsche Unternehmer importierten von dort technische Innovationen und Know-How, auf legalem oder auch auf illegalem Wege und in Form von Industriespionage. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden die USA für deutsche Unternehmer interessanter, wohingegen Japan erst weit nach dem Zweiten Weltkrieg ins Blickfeld geriet. Während zwischen den „westlichen“ Industrienationen der Informationsfluss vergleichsweise unproblematisch verlief, gab es im japanischen Fall erhebliche interkulturelle Hürden zu überwinden.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schien eine europäische Neuordnung im Sinne internationaler Zusammenarbeit, gemeinsamer liberaler Werte und demokratischer Regierungsformen greifbar zu sein. Kaum jemand ahnte, wie rasch die ideellen Grundpfeiler des westlichen Modells, die US-Präsident Wilson in seinem 14-Punkte-Plan skizziert hatte, durch multiple Krisen erschüttert würden. Die Situation unterschied sich sehr deutlich von den epochalen Zäsuren der Jahre 1945 oder 1989, als die liberale Ordnung in Westeuropa eine historische Legitimation für sich beanspruchte. Nach 1918 zeichnete sich bald ab, dass kein Spielraum für eine selbstgewisse liberaldemokratische Verortung am „Ende der Geschichte“ vorhanden war. Anstelle einer Rückkehr zum optimistischen Fortschrittsparadigma drohte allenthalben Regression.
Cognac, Zigarren, Wackelpudding und wechselnde Damenbekanntschaften gehörten zur Standardausstattung der von 1986 bis 1998 in fünf Staffeln mit insgesamt 58 Folgen ausgestrahlten SFB/ARD-Anwaltsserie »Liebling Kreuzberg«. Mit einer Einschaltquote von bis zu 47 Prozent in der ersten Staffel1 verdankte die Serie ihren Erfolg nicht zuletzt dem Hauptdarsteller Manfred Krug (1937–2016). Als Anwalt der »kleinen Leute«, von seinem langjährigen Freund und Kollegen Jurek Becker als »einzige[r] Kleinbürger im deutschen Fernsehen mit Sexappeal« bezeichnet, verkörperte Krug den zuweilen raubeinigen, lebenserfahrenen und hilfsbereiten Rechtsanwalt Robert Liebling.
Menschen schreiben, Menschen notieren. Papierne (heute auch digitale) Gedächtnisstützen halten fest, was sich im Kopf der oder des Schreibenden abspielt, um es für kurze oder längere Zeit zu sichern und zu übertragen. Termine, Kontakte und Adressen werden besonders oft verschriftlicht, da es sich um Informationen handelt, die präzise wiedergegeben werden müssen. Jeder einzelne Datensatz (eine Adresse, Telefonnummer, Ort und Zeit eines Treffens, Kontakte zu einer bestimmten Person) ist in sich eher trocken und schwer zu merken, die Verschriftlichung verwaltet also und assistiert unserer Erinnerung. An der Schnittstelle zwischen Alltagslogistik, Sozialleben und Erinnerung sind Adressbücher Hilfsmittel und Kulturtechnik zugleich. Das Adressbuch als Gegenstand dient im Sinne Bruno Latours der Delegation, da sein*e Benutzer*in Informationen auslagern kann. Dadurch werden Adressbücher fester Bestandteil von Netzwerken, welche ohne diese Niederschrift nicht aufrechtzuerhalten wären. Das lässt sich am Beispiel europäischer Netzwerke in London während des Zweiten Weltkrieges darlegen: anhand eines edierten »Who’s Who« und des persönlichen Adressbuches des Juristen René Cassin.
Seit Oktober 2010 ist die Datenbank LONSEA („League of Nations Search Engine“) im Internet unter http://www.lonsea.org zu erreichen. Das Projekt, das am Exzellenzcluster „Asia and Europe in a Global Context“ der Universität Heidelberg angesiedelt ist, erschließt Informationen zu internationalen Organisationen, ihrem Personal und ihren Aktivitäten in der Zeit zwischen 1918 und 1945.1 Durch die Sammlung dieser Angaben in einer relationalen Datenbank ist es erstmals möglich, die von der bisherigen Forschung beschriebenen Netzwerke in größerem Rahmen nachzuweisen und zu visualisieren. LONSEA ermöglicht damit eine neue Sicht auf den Völkerbund, die herkömmliche institutionen-, personen- und nationalgeschichtliche Ansätze erweitert. Der vorliegende Beitrag soll einerseits neue Möglichkeiten zur Verknüpfung von Quellenmaterial vorstellen und andererseits einen Zugang zu einer netzwerkbasierten Globalgeschichte aufzeigen.
Längst beerdigt und doch quicklebendig. Zur widersprüchlichen Geschichte der »autogerechten Stadt«
(2017)
Das Automobil steht gegenwärtig wieder einmal im Brennpunkt breiter gesellschaftlicher Debatten um Themen wie Elektromobilität, Car-Sharing, »autonomes Fahren« und verwandte Fragen. Darin kommt ein tiefer Umbruch der automobilen Kultur zum Ausdruck. Wie Konflikte um Fahrverbote in den Innenstädten, den Abriss automobiler Infrastrukturen oder die Erweiterung autofreier Zonen zeigen, erfasst dieser Umbruch auch und gerade die (großen) Städte. Vor dem Hintergrund eines sich andeutenden Abschieds von der Automobilität der Hochmoderne in den metropolitanen Räumen Europas und Nordamerikas gewinnt auch die retrospektive Reflexion über Entwicklungslinien und Wendepunkte der Raumentwicklung im Zeichen des Automobils in »seinem« 20. Jahrhundert stark an Interesse. Dies gilt umso mehr, als der epochemachende Leitbegriff der »autogerechten Stadt« die Genese und die Probleme städtischer Automobilität mehr verdeckt als freilegt.
Während des Zweiten Weltkrieges flüchteten etwa 150.000 Europäer vor Krieg und Besatzung nach Großbritannien. Unter ihnen waren Angehörige der vormaligen europäischen Regierungen, Verwaltungen, politischen Eliten, Militärs und Königshäuser. Aus ihren Reihen bildeten sich Nationalkomitees und Exilregierungen, die die nationale Souveränität ihrer Länder trotz deutscher Besatzung aufrechterhalten und als Alliierte für einen gemeinsamen Sieg über Hitler eintreten wollten. Im Zentrum Londons lebten und arbeiteten sie in enger Nachbarschaft. Rechtlich betrachtet erreichten die Mitglieder der Exilregierungen London meist als individuelle Flüchtlinge; sie verließen die Stadt überwiegend als Angehörige anerkannter Regierungen. Eine genauere Untersuchung des »London Moment«, dieser formativen Phase europäischer Politik, bricht den vermeintlichen Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht auf und trägt so zur Reflexion über Flucht und Flüchtende bei. Der Aufsatz erläutert die Entwicklung des rechtlichen Status der Exilanten und folgt vier Fallbeispielen von der Ankunft zur Etablierung in London.
Die Diskursgeschichte, die sich im Zuge des linguistic turn auch in Deutschland recht erfolgreich etabliert hat, eröffnet vielschichtige Zugänge, die auch für die Erforschung des Nationalsozialismus und des Holocaust wichtige Impulse zu geben vermögen. Dies gilt etwa für die Rolle von Homosexualitätsdiskursen in NS-Organisationen, für sprachliche Ausformungen genozidaler Gewalt und für narrative (Überlebens-)Strategien von Verfolgten. Besonders deutlich geworden sind die Verbindungen von sprachlichen Praktiken und Gewalt in der Diskussion über die 1995 veröffentlichten Tagebücher des Romanisten Victor Klemperer (1881–1960) aus der NS-Zeit. Diese Tagebücher hatten Klemperer, der den Holocaust in Dresden überlebte, als Vorarbeiten seiner Studie zur Sprache des „Dritten Reiches“ gedient. In dieser bereits 1947 erstmals erschienenen Arbeit argumentierte Klemperer, dass „der Nazismus […] in Fleisch und Blut der Menge […] durch die Einzelworte, die Redewendungen“ übergegangen sei, die ein Großteil der Bevölkerung „mechanisch und unbewußt übernommen“ habe. Während Klemperers Studie gerade in den letzten 15 Jahren wieder verstärkte Beachtung gefunden hat, bleibt ihre bedeu-tendste westdeutsche Parallelarbeit heute auffällig unterbelichtet: das von Dolf Sternberger (1907–1989) federführend konzipierte „Wörterbuch des Unmenschen“.
The paper explores representations of economic reform in Czechoslovakia immediately before and after the fall of the centrally planned economy in 1989/90. By what means was the concept of rapid economic transition towards a liberal market setting mediated into the academic and the public sphere? How did it achieve wide public consent? In the first part, the paper analyzes the Czechoslovak academic discussion about perestroika in the late 1980s, where a rapid liberal transition was cast by a distinct group of younger scholars as the only possible way of reforming the socialist economy. Their training was based above all on Paul A. Samuelson’s canonical textbook Economics, which presented this discipline almost as a natural science with universal standards. Immediately after 1989/90, when some of these scholars assumed executive positions within the new Czechoslovak government, what were at first purely economic ways of reasoning merged with certain images of the national past, creating a mixture of liberal economic knowledge and national exceptionalism.
Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise hat nicht nur wegen ihres Ausmaßes vielfach Verweise auf die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre provoziert, insbesondere aber auf die deutsche Bankenkrise des Sommers 1931. Die zunehmende Unsicherheit in breiten Teilen der deutschen Bevölkerung nährte Zweifel an der Handlungsfähigkeit von Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik. Nicht nur notorische Skeptiker sind der Überzeugung, dass bei einer anhaltenden Krise das Vertrauen in das System der Sozialen Marktwirtschaft und die politische Stabilität des Landes nachhaltig unterminiert werden könnten. Der Vergleich der jüngsten Ereignisse mit der wirtschaftlich und schließlich auch politisch verheerenden Krise der frühen 1930er-Jahre fördert, bei allen durch die Quellenlage begründeten Einschränkungen, tatsächlich gewisse Parallelen zutage; er zeigt aber auch gravierende Unterschiede auf. Im Folgenden soll dies – schon aus Platzgründen auf den deutschen Fall beschränkt – in drei Abschnitten skizziert werden, die sich nacheinander mit den potenziellen Verursachern der Krisenerscheinungen beschäftigen: Managern, Märkten und Politik.