Zeithistorische Forschungen
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Der erstmals 1942 und 1944 in stark erweiterter Form erschienene „Behemoth“ Franz Leopold Neumanns bildete einen Höhepunkt der NS-Interpretation exilierter deutscher Wissenschaftler. Neumann, Jahrgang 1900, hatte in Frankfurt am Main bei Hugo Sinzheimer studiert, war 1928 nach Berlin gekommen, hatte dort eine Anwaltspraxis eröffnet und an der Deutschen Hochschule für Politik gelehrt. Er stand dem linken Flügel der SPD nahe, war ein unnachgiebiger Kritiker des Nationalsozialismus und wurde gleich nach dem 30. Januar 1933 verhaftet. Wenige Wochen später gelang ihm die Flucht nach Großbritannien, wo er an der London School of Economics ein (Zweit-)Studium der Politischen Wissenschaften aufnahm. 1936 übersiedelte Neumann in die USA und trat in Max Horkheimers Institute of Social Research ein, das nach New York verlegte Frankfurter Institut für Sozialforschung.
Friedensforschung und Gewalt. Zwischen entgrenzter Gewaltanalyse und epistemischer Gewaltblindheit
(2018)
In der Gegenwart werden geradezu eruptiv und medial befeuert »alte« Gewaltphänomene zu Tage gefördert: Die Kampagne »#MeToo« lässt ein soziales Gewaltproblem sichtbar werden, welches lange Jahre ahnungsvoll präsent war, ohne im Detail öffentlich-politisch oder auch durch die Friedensforschung angemessen adressiert worden zu sein. Gleichzeitig drohen die Machthaber von Atomwaffenstaaten unverblümt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen, während weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit autonome Waffensysteme entwickelt werden, die gar nicht mehr auf eine/n Gewalttäter*in angewiesen sind, sondern allein aufgrund von dafür entwickelten Algorithmen Gewalt anwenden und Menschen töten. Bei einem derart entgrenzten Gewaltverständnis hat die Friedensforschung alle Hände voll zu tun, die unterschiedlichen Gewaltphänomene der Gegenwart im Blick zu behalten, über deren Entstehungsbedingungen aufzuklären und Ansätze zu ihrer Eingrenzung oder Überwindung zu entwickeln. Doch verdeutlichen die genannten Beispiele, dass auch die Friedensforschung nicht ohne weiteres aus den »Denkcontainern« der jeweiligen Gegenwart aussteigen kann und deshalb nicht vor epistemischer Gewaltblindheit, der wissenschaftlichen Unaufmerksamkeit für gesellschaftlich bedeutsame Gewalterfahrungen, gefeit ist. Wie bearbeitet die Friedensforschung das Spannungsverhältnis zwischen entgrenzter Gewaltanalyse einerseits und epistemischer Gewaltblindheit andererseits? Welche Rolle spielt dabei ihre Abhängigkeit von staatlicher finanzieller Förderung? Welche Gewaltverhältnisse werden aus welchen Motiven untersucht – und welche nicht? Ein Blick in die Geschichte der bundesdeutschen Friedensforschung kann hier erhellend wirken.
Im offiziellen Selbstverständnis von Staat und Partei war die DDR eine Arbeitsgesellschaft - die (Aufbau-)Arbeit für den Sozialismus bildete eine zentrale Sinnressource. Wer sich diesem übergreifenden Prinzip nicht unterordnen wollte, aus welchen Gründen auch immer, sah sich oft beruflich diskriminiert. Besonders in den 1970er- und 1980er-Jahren versuchte der SED-Staat berufliche Ausgrenzung als politisches Kontroll- und Erziehungsmittel einzusetzen. Vielfach führte diese Strategie jedoch zum Gegenteil des Gewünschten: Beruflich Benachteiligte wurden gerade durch die Praxis der Ausgrenzung stärker politisiert und schufen sich neue widerständige Handlungsräume. Anhand von zwei Beispielen des individuellen Umgangs mit beruflicher Diskriminierung wird das Wechselverhältnis zwischen dieser Diskriminierung und politischer Gegnerschaft untersucht - ein Aspekt, der in bisherigen Forschungen zur DDR-Opposition kaum berücksichtigt wurde und der zu einer stärker gesellschaftsgeschichtlichen Fundierung solcher Forschungen beitragen kann.
Friedliches Auseinanderwachsen. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der Entspannung 1960–1980
(2007)
Der Artikel skizziert die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaften Ost- und Westeuropas in der Ära der Entspannungspolitik. Die Hauptthese lautet, dass die diplomatische Annäherung der beiden Blöcke von einem gegenläufigen Auseinanderwachsen der west- und osteuropäischen Länder begleitet war. Während die westlichen Gesellschaften neue politische Aktionsmöglichkeiten in Form von sozialen Bewegungen erlebten, blieb dies im Osten wegen des Machtmonopols der kommunistischen Parteien unmöglich bzw. war mit weitaus größeren Schwierigkeiten verbunden. Auch neue (jugend)kulturelle Erscheinungsformen wie bestimmte Mode- und Musikströmungen konnten im Westen eine Normalität erreichen, die im Osten nicht möglich war. Die Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre führte im Westen zu einem Ab- bzw. Umbau der fordistischen Produktionsweise, während die realsozialistischen Staaten an alten Strukturen festhielten. Während diese Trends der 1970er-Jahre heute fast teleologisch auf den Zusammenbruch des Kommunismus vorauszudeuten scheinen, war dies für die Zeitgenossen nicht der Fall. Im Gegenteil: Viele Beobachter sahen eine mögliche Konvergenz der beiden Systeme.
Fritz Bauer und das Radio
(2019)
»Bauer ging nicht gerne in die Öffentlichkeit«, meinte Detlev Claussen rückblickend. Claussen, in den späten 1960er-Jahren Student in Frankfurt am Main, fügte seiner Charakterisierung des hessischen Generalstaatsanwalts jedoch sofort hinzu: »[…] aber die Verfolgung seiner Pflichten nötigte ihn dazu, öffentlich über die von ihm angeregten spektakulären Prozesse zu sprechen und in Hörfunk und Fernsehen, mit Aufsätzen und Vorträgen für eine Reformierung des Strafrechts zu kämpfen.« Der Soziologe Claussen ging noch weiter und urteilte: »Fritz Bauer musste contre coeur aus dem schützenden Schatten der Privatheit eines entre nous heraustreten, um seinen Auftrag zu erfüllen, nämlich Licht auf das Fortleben der Mörder unter uns zu werfen.« Die biographische Forschung unterstreicht das öffentliche Wirken des Juristen mittlerweile durch vielfältige Publikationen. Zu den Editionen von Vorträgen und kleineren Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften gesellen sich seit 2014 die Ausgaben der »Gespräche, Interviews und Reden« aus den Fernseharchiven und seit 2017 ein Hörbuch mit Tondokumenten unter dem Titel »Fritz Bauer. Sein Leben. Sein Denken. Sein Wirken«.
Seit dem von Ingrid Gilcher-Holtey 1998 herausgegebenen Sammelband, der das schillernde Ereignisbündel „1968“ erstmals systematisch historisierte, hat sich die deutsche Geschichtswissenschaft diesem Thema eingehend zugewendet. Zehn Jahre später gibt der Publikationsschub zu dem neuerlichen runden Jahrestag Anlass zu einer Zwischenbilanz. Das auffälligste Ergebnis ist dabei die im Grunde banale Erkenntnis, dass auch die historiographische Perspektive weder „objektiv“ noch homogen ist, sondern von wechselnden, zum Teil konkurrierenden Konjunkturen nationaler und zunehmend auch internationaler Geschichtskulturen beeinflusst wird. Dass der Wissenschaftsanspruch mit der Involvierung der Akteure in die Konflikte der Gegenwartsgesellschaft strukturell kollidiert, gehört zu den Selbstverständlichkeiten zeithistorischer Forschung. Dies gilt nicht nur für ehemalige Akteure, deren Beteiligung häufig bekannt ist und in die Bewertung ihrer publizistischen Produktion einfließt. Auch der angebliche Objektivitätsvorsprung der so genannten „Nachgeborenen“ macht deren empathische Distanz nicht automatisch wett, sondern erweist sich erst in der diskursiv zu ermittelnden Überzeugungskraft des jeweiligen Produkts. Insofern ist die Kontroverse um die aktuellen Neuerscheinungen zu begrüßen, während die immer wieder repetierten Hinweise auf die generationelle Zugehörigkeit ihrer Autoren in den Nebel vager Evidenzen führen. Dass sich beim Thema „1968“ professionelle Intellektualität und autobiographische Motive stark vermischen, ändert daran nichts.
Christian Geulen geht es darum, neue begriffsgeschichtliche Impulse in die Diskussion zu schleusen und nichts Geringeres als eine „Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts“ zu lancieren. Konkret soll der semantische Wandel untersucht werden, den die politisch-soziale Sprache seit dem späten 19. Jahrhundert erfahren hat. Die Suche nach der Herkunft unserer Gegenwart würde sich dann, vereinfacht gesagt, auf die in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ ignorierte Zeitspanne von etwa 1900 bis 2000 erstrecken. Als distinktives Merkmal hierfür wird ein Wechsel des Primats im Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont angenommen. Hatte seit der Sattelzeit die Erwartung zunehmend den Erfahrungsraum aufgerissen und die Führung übernommen, zeichnet sich nach Geulen in der Gegenwart eine Verkehrung ab, indem die Erwartung gleichsam von der Erfahrung dirigiert wird.
Die DDR verstand die gesellschaftliche Rehabilitation von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen als sozialstaatliche Aufgabe. Während die Integration in die Arbeitswelt vergleichsweise gut erforscht ist, sind zu den Bereichen Wohnen und Mobilität noch viele Fragen offen. Welche Maßnahmen ergriff der Staat, um körperlich eingeschränkte Menschen in diesen Bereichen zu fördern? Welche Rolle spielten hierbei Kreisärzte und Stadtarchitekten? Welche Ergebnisse wurden in der Praxis erzielt? Erkennbar war vor allem seit Mitte der 1970er-Jahre das staatliche Bemühen, den Betroffenen mit Hilfsmitteln und Baumaßnahmen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Doch die begrenzten Ressourcen und die planwirtschaftlichen Strukturen des SED-Staates erschwerten dies. Zudem konnte der Abbau materieller Hürden neue Barrieren hervorrufen – etwa in Fußgängerzonen. Betroffene entwickelten deshalb eigene, durchaus erfolgreiche Initiativen. Anhand von Beispielen aus Karl-Marx-Stadt, Halle an der Saale und Greifswald bietet der Aufsatz Einblicke in einen Alltag von Menschen mit Behinderungen, der von Ambivalenzen und Handlungsspielräumen ebenso geprägt war wie von Beschränkungen seitens staatlicher Stellen.
Von Bundeskanzler Adenauer in den 1950er-Jahren initiiert, vom Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen (VdH) in den 1960er-Jahren realisiert, stellt die „Friedland-Gedächtnisstätte“ eines der monumentalsten westdeutschen Denkmäler der Nachkriegszeit dar. Der Beitrag rekonstruiert ihre Geschichte, wobei zum einen nach Form und Inhalt des Denkmals gefragt, zum anderen ein besonderes Augenmerk auf den Kontext der Entstehung, auf beteiligte Akteure und auf Konflikte gerichtet wird, die sich zwischen den ersten Plänen im Jahr 1957 und der Einweihung im Jahr 1967 ergaben. Die Planung und Errichtung der „Friedland-Gedächtnisstätte“ fällt in eine Phase, in der sich der Umgang mit der NS-Zeit zu wandeln begann. Neben der bis dahin dominanten, auf Kriegsgefangenschaft, Flucht und Vertreibung, Bombenkrieg und Wiederaufbau fokussierten Erinnerung entstand eine kontroverser und (selbst)kritischer werdende öffentliche Bezugnahme auf die NS-Zeit.
Gegen Entmischung und Monotonie der Städte. Alexander Mitscherlichs »Anstiftung zum Unfrieden«
(2015)
50 Jahre ist es nun her, dass Alexander Mitscherlichs Buch »Die Unwirtlichkeit unserer Städte« erstmals erschienen ist. Es umfasst mehrere Vorträge, die sich auf den bis dahin erfolgten Stadterneuerungsprozess bezogen. Mitscherlich betrachtete den Wiederaufbau nach 1945 als verpasste Chance. Besonderer Dorn im Auge waren ihm die städtebaulich dominanten, an funktionalistischen Prinzipien orientierten Strategien zur Entmischung des Stadtraums,[1] weil dies eine Bindung der Menschen an Räume behindere und weil der »Unsinn einer Entmischung« den Verfall städtischer Öffentlichkeit bewirke.