Zeithistorische Forschungen
Welches Maß an Gleichheit muss eine sozialistische Gesellschaft garantieren, und wie viel Ungleichheit benötigt sie, um nicht in Stagnation zu versinken? Solche Fragen beschäftigten die sowjetischen Bürger nicht erst seit der perestrojka, aber in dieser Phase wurde der von der Kommunistischen Partei vorgegebene Diskursrahmen erweitert und schließlich gesprengt. Die Privilegien der Nomenklatura boten das Feld, auf dem über Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit gestritten wurde. Briefe von Bürgern an die Deputierten des Obersten Sowjets aus den Jahren 1989/90, die in diesem Aufsatz erstmals näher erschlossen werden, geben Einblick in unterschiedliche Positionen. Deutlich wird, dass nicht die Prinzipien der Verteilung als ungerecht galten (Leistungen für Staat und Gesellschaft als primäres Kriterium), aber ihre Ergebnisse. Ausgehend von Fragen sozialer Gerechtigkeit erweiterte sich die Debatte um Fragen politischer Gerechtigkeit; sie mündete in eine grundlegende Kritik an der Parteiherrschaft und beschleunigte den Zusammenbruch der bisherigen Ordnung.
Soziale Ungleichheit hat viele Gesichter und stellt sich in verschiedenen Gesellschaftsformationen jeweils unterschiedlich dar.1 China ist ein besonders interessanter Fall, weil dort eine Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft unter der Ägide der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) abläuft. Sozialistisches Erbe und kapitalistische Gegenwart gehen also eine ungewöhnliche Verbindung ein. Vor diesem Hintergrund soll der vorliegende Beitrag zeigen, dass die heutigen sozialen Ungleichheiten in China nicht allein das Produkt der Hinwendung zum Kapitalismus sind. Gemäß der Humankapitaltheorie müsste in einer marktbasierten Gesellschaft die individuelle Bildung den größten Beitrag zur Erklärung bestehender Einkommensungleichheit liefern. In der Praxis sind aber auch in kapitalistischen Gesellschaften die Startvoraussetzungen der Einzelnen nicht gleich: Sie hängen stark von der sozioökonomischen Stellung der Eltern ab, sprich von deren ökonomischem und kulturellem Kapital. Über die Weitergabe des Status von einer Generation zur nächsten bilden sich typischerweise soziale Schichten heraus, die je nach Gesellschaft mehr oder weniger Durchlässigkeit aufweisen. In China kommt noch ein dritter Faktor hinzu: Die im Staatssozialismus angelegten sozialen Differenzierungen bilden die Basis für heutige soziale Ungleichgewichte. „Politisches Kapital“ spielt nach wie vor eine wichtige Rolle – Verbindungen zur Herrschaftselite und die Stellung im offiziellen politischen Diskurs besitzen entscheidenden Einfluss auf die Schichtungsergebnisse.
Der untergegangene Staatssozialismus war eine Gesellschaft der Gleichen. Mit ihrer Gleichheit war es aber so eine Sache. Wie es in Orwells „Farm der Tiere“ heißt: „Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher.“ Trotz dieses Einwandes erscheint manchem die Unterscheidung zwischen vergangener Gleichheit und heutiger Ungleichheit plausibel, weil es seit 1989/90 eine rasante soziale Ausdifferenzierung gab. Sie hat den Staatssozialismus nachträglich in ein milderes Licht getaucht. Der vorliegende Essay wird sich mit dem sozialen Wandel und der Entstehung der gegenwärtigen Ungleichheit in Osteuropa beschäftigen – die einigen als gerecht, anderen aber als ungerecht erscheint. Um genauer verstehen zu können, was die Ungleichheit für die Politik und den Alltag in diesen Gesellschaften bedeutet, soll gefragt werden: Wie stand es mit Gleichheit und Ungleichheit im Spätsozialismus? Welche Art von sozialer Ungleichheit bildete sich nach 1989 heraus, und welche Aufgaben für deren politikwissenschaftliche und zeitgeschichtliche Analyse lassen sich identifizieren?
In den 1970er-Jahren lief im westdeutschen Fernsehen eine Serie der Augsburger Puppenkiste, deren Held und Titelgeber der kleine König Kalle Wirsch war. Kalle Wirsch, König der Erdmännchen, war, wie sein Name sagte: ein freundliches kleines Männchen, alles andere als unwirsch. Der Name aber irritierte – wer benutzt schon das Wort „wirsch“? Das Wort gibt es tatsächlich, es ist aber kein Gegenbegriff zu „unwirsch“, sondern eine Verballhornung von „wirr“. Zu „unwirsch“ gibt es keinen Gegenbegriff. Der kleine König Kalle Wirsch mag einem bei „Gleichheit und Ungleichheit“ in den Sinn kommen. Denn viel wird gesprochen von Ungleichheit, und dies vor allem im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit. Aber Gleichheit? Nur ganz wenige Autoren haben über deren Geschichte nachgedacht. Einer davon ist der Zürcher Historiker Jörg Fisch. Er fasst, bezogen auf das späte 19. Jahrhundert, Gleichheit vor allem als einen Anspruch, als eine Forderung. Sie ist also etwas, was (noch) nicht ist. „Gleichheit“ blieb als die bürgerliche Forderung nach rechtlicher und politischer Gleichberechtigung stehen und wurde (jedenfalls in Europa) im späten 19. und im 20. Jahrhundert zumindest teilweise eingelöst. Die Forderung nach sozialer Gleichheit jedoch, die aus revolutionären Bewegungen kam, ließ sich nicht einmal als Anspruch durchhalten, wurde als staatsgefährdend identifiziert und erbittert bekämpft. Soziale Gleichheit erhielt das Stigma des Utopismus und behielt lediglich in der Forderung nach Abbau (und nicht Abschaffung) sozialer Ungleichheit eine gewisse Berechtigung.
Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sowjetimperiums. Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen
(2013)
Der Mythos vom „neuen Menschen“ ist keine sowjetische Erfindung, sondern Teil der europäischen Ideengeschichte seit dem 18. Jahrhundert. Er nahm unterschiedliche Formen und Gestalten an, um zahlreichen politischen Ideologien zu überwältigenden Zielen und damit zu gesellschaftlichem Zuspruch zu verhelfen. In keinem anderen Land hatte der Mythos vom „neuen Menschen“ aber einen so starken Einfluss auf soziale Identitäten und politisches Handeln wie in der Sowjetunion. Die in den 1930er-Jahren zementierte Konzeption vom „Homo Sovieticus“ war zentral für die triumphale Selbstdarstellung des ersten sozialistischen Staats. Sie brachte eine historische Mission der Weltbefreiung und -eroberung und damit einen kollektiven Erlösungsglauben eindrucksvoll zur Anschauung. Darin ging sowohl das klassische marxistische Bild vom kämpferischen, siegreichen Proletariat ein als auch die überlieferte Vision von einer besonderen historischen Bestimmung des russischen Volks. Das sich aus den „neuen Sowjetmenschen“ bildende „Sowjetvolk“ werde aller Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende bereiten und neben der Freiheit auch den hehren revolutionären Idealen der Gleichheit und Brüderlichkeit den Weg in die Wirklichkeit ebnen.
Der ostdeutsche Fotograf Christian Borchert (1942–2000) verstand sich als „Chronist seiner Zeit“. Seine Serie „Familienporträts“ wurde schon vor 1989 in der DDR und in der Bundesrepublik im Kontext bildender Kunst gezeigt – trotz oder sogar wegen der sachlichen, dokumentarischen Perspektive auf die DDR-Gesellschaft. Mittlerweile ist Borchert unverrückbar in den kunsthistorischen Kanon eingegangen, und seine Bilder fehlen auf kaum einer Ausstellung zur Fotokunst in der DDR. Besonders 2009 fand anlässlich der 20-jährigen Jubiläen des Mauerfalls und der „friedlichen Revolution“ eine Fülle von Ausstellungseröffnungen zur DDR-Fotografie statt. Sozialdokumentarische Bilder konnten – als vermeintlich ideologiefreie „Wirklichkeitsbilder“ rezipiert – problemlos im Kunstkontext untergebracht und zugleich als aussagekräftige Quellen der Vergangenheit präsentiert werden. Der Interessenschwerpunkt lag dabei auf der „inoffiziellen“ Fotografie aus der DDR. Diese Tendenz hält bis heute an, und so ließ auch die 2012 eröffnete Ausstellung „Geschlossene Gesellschaft“ in der Berlinischen Galerie, wo einige der „Familienporträts“ vertreten waren, die „offiziellen Bildwelten“, den Bereich der angewandten Fotografie und der Amateurfotografie außen vor. Zwar bildete die sozialdokumentarische, erzählerische Fotografie, die sich ab den 1970er-Jahren als Autorenfotografie emanzipiert hatte, in der DDR tatsächlich den Kern der künstlerischen Fotografie, doch haben sich deren Spezifika grundlegend aus der sozialistischen Fotografieästhetik entwickelt. Dass zwischen „non-konform“ und „offiziell“ nicht klar zu trennen ist, lässt sich mit Christian Borcherts Familienbildern sehr gut belegen.
Der Beitrag befasst sich mit dem „Peckham-Experiment“, einem Forschungsprojekt, das in den 1930er- und 1940er-Jahren im „Pioneer Health Centre“ (PHC) durchgeführt wurde, einem Freizeit- und Gesundheitszentrum im Londoner Stadtteil Peckham. Im Fokus der Fallstudie steht die Genese neuen präventionsmedizinischen Wissens und neuer vorsorgebezogener Praktiken. Die beteiligten Experten versuchten, das „natürliche“ Potential von Individuen und die sozialen Beziehungen zwischen Familien zu nutzen, um ein gesundheitsförderliches Verhalten zu stimulieren. Das „Peckham-Experiment“ wird im Kontext der britischen wohlfahrtspolitischen Debatten und der biologisch-medizinischen Theorien seiner Gründungszeit analysiert. Gezeigt wird aber auch, dass der neue, stark auf Selbstverantwortung gerichtete Ansatz des PHC sich zudem aus den spezifischen Herausforderungen der „Laborsituation“ ergab, die im Laufe des Experiments zur Revision interventionistischer Vorannahmen führten. Allerdings waren andere Wissenschaftler skeptisch gegenüber den in Peckham gewonnenen Erkenntnissen. Zudem ließ sich das PHC nicht in den neuen „National Health Service“ integrieren. Beides bewirkte 1950 letztlich die Schließung des Centres.
Vorsorge war immer. Bereits in der Frühgeschichte stoßen wir auf Kulturtechniken, mit denen Menschen Risiken vorbeugen und Gefahren verhüten wollten. Schon das Anlegen von Vorräten, die Präparierung von Landschaften oder die Anrufung von Schutzgöttern waren Konzepte und Praktiken der Vorsorge. In der Moderne jedoch wuchs die Vielfalt an Befürchtungen und Ängsten, die eine nicht minder große Vielfalt an Vorsorgekonzepten und -maßnahmen mit sich brachte. Spürbar wurde dieser Anstieg in einem Boom an Versicherungen, in der Popularisierung medizinischer, sozialreformerischer und pädagogischer Maßnahmen, in der Verbreitung von Diäten, in den Sport- und Turn- oder den Anti-Tabak- und Anti-Alkohol-Bewegungen.
Wie für viele neue Staaten und »Entwicklungsländer« in der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg spielten transnationale Dynamiken des Wissenstransfers auch für das 1948 gegründete Israel eine wichtige Rolle. Eine geradezu staatstragende Funktion kam dabei der entstehenden Raumplanung zu. Die israelischen Planungseliten waren durch ihr Studium und durch Grundannahmen des »Social Engineering« eng mit der deutschen Wissenskultur und speziell mit der Raumordnung verflochten – auch über die Zäsur von 1945 hinweg. Der Aufsatz untersucht die Rezeption der Theorie »zentraler Orte« im Kontext des ersten, meist als »Sharonplan« bezeichneten israelischen Nationalplans von 1951. Die 1933 durch Walter Christaller publizierte Theorie hatte auch einen konzeptionellen Eckpfeiler des »Generalplans Ost« gebildet, den die SS bzw. der »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« (RKF) nach 1939 zur »Germanisierung« der eroberten Ostgebiete entwickelt hatte. Die Ambivalenz der israelischen Rezeptionslinie wird anhand der Biographien dreier Planer geschildert (Eliezer Brutzkus, Artur Glikson, Ariel Kahane).
The centennial of the outbreak of World War I in the summer of 1914 has already produced a wave of new books, exhibitions, documentaries, films, articles, websites, and research projects on the war and will continue to do so over the course of the next years, at least until the centenary of the armistice in 2018. One might witness this rising tide with mixed feelings: the arbitrariness of anniversaries and the ambivalent suggestive power of round numbers are a topic which merits reflection in and of its own. But the First World War has continued to be of lasting and even growing interest for historians over the past decades independently of anniversaries. Jay Winter and Antoine Prost have noted that the number of volumes that were catalogued in the British Library under the rubric of ›The World War, 1914 to 1918‹ quadrupled between 1980 and 2001, and Roger Chickering gathered further evidence for the ›enduring charm of the Great War‹ in 2011. At the same time, these last decades have witnessed a number of methodological shifts and changes within the historical profession, which also affected the study of the First World War. The centennial might therefore be a good opportunity for taking stock of the current state of affairs in World War I studies and for pondering their possible future directions. This is why our journal has decided to contribute to the rising tide of World War I publications with a roundtable discussion.