Visual-History
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Der einstmals weitverbreitete Zeitvertreib der Philatelie gilt – ob zu Recht oder zu Unrecht sei einmal dahingestellt – als verstaubte Sammelleidenschaft von Stubenhockern und Philistern. Übersehen wird indes, dass zwei prominente Wegbereiter der kulturwissenschaftlichen Wende in der Geschichtswissenschaft und somit auch der visual history zu dieser im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftretenden Spezies gehörten. Denn sowohl Aby Warburg als auch Walter Benjamin waren passionierte Briefmarkensammler.
In der Kriegsbildberichterstattung ging NS-Deutschland – so die gängige Meinung in den Geschichtswissenschaften – gänzliche neue Wege, indem Bilder nicht nur zensiert, was bereits im Ersten Weltkrieg üblich gewesen war, sondern durch einen eigenen Propagandaapparat umfassend diszipliniert worden seien. Durch ein eigenes Ministerium, das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, einerseits und militärisch organisierte Propagandatruppen andererseits, deren bekannteste die Propagandakompanien (PK) waren, sei bereits auf der Ebene der Bildproduktion und -distribution interveniert worden. Nimmt man allerdings die visuelle Kriegspropaganda des faschistischen Italien zu dieser Zeit vergleichend in den Blick, gerät die These der Einzigartigkeit und internationalen Vorreiterfunktion der deutschen Kriegsbildberichterstattung im Allgemeinen und der PKs im Speziellen ins Wanken.
Die älteste bekannte antijüdische Karikatur ist eine Zeichnung – eigentlich ein detailliertes Gekritzel – am oberen Rand eines königlichen englischen Steuerprotokolls von 1233. Sie zeigt drei merkwürdig aussehende Juden, die sich in einem schematisch dargestellten Schloss befinden, das von einer Gruppe karikaturesker, gehörnter Dämonen mit schnabelartigen Nasen angegriffen wird. Ein weiterer größerer Dämon in der Mitte des Schlosses zeigt auf die sonderbar langen Nasen zweier Juden, als ob er die Ähnlichkeit zwischen ihren Profilen und seinem eigenen betonen wollte. Diese kleine Kritzelei ist so etwas wie eine Celebrity unter Historiker*innen.
Wir leben in einem Zeitalter, in dem das Visuelle über andere Kommunikationsformen dominiert. Daher ist es kaum überraschend, dass auch in der Geschichtsforschung die visuellen Quellen wie Fotografien derzeit Hochkonjunktur haben. Der Blick der militärgeschichtlichen Forschung wiederum ist heute auf die Perspektive und Erfahrung von Einzelpersonen fokussiert. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die persönlichen Fotografien und Fotoalben der Kriegsteilnehmer mittlerweile häufiger als Quelle für Forschungen sowie als Material für verschiedene Ausstellungen herangezogen werden.
Der Dresdner Kunst- und Fotohistoriker Wolfgang Hesse forscht seit vielen Jahren zur proletarischen Amateurfotografie. Seine hier vorliegende Internet-Publikation befasst sich mit dem „Roten Abreißkalender“ der KPD der Weimarer Republik. Sowohl die Arbeiter- wie die Abreißkalender gehen in ihrer Tradition auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurück. Die ersten Arbeiterkalender sind 1867 in Budapest und 1868 in Berlin nachweisbar. Die wichtigsten inhaltlichen Änderungen gegenüber dem traditionellen „Volkskalender“ bestanden darin, dass die geschichtlichen Teile statt der bisherigen „Heldengeschichtsschreibung“ Daten der allgemeinen Weltgeschichte, der demokratischen und der deutschen Arbeiterbewegung enthielten. Um 1880 tauchten in Deutschland die ersten (nicht-politischen) Abreißkalender auf, die, dem englischen Vorbild der date blocks folgend, literarische, religiöse oder Texte aus dem Alltagsleben auf den Kalenderblättern anboten. Sie inspirierten, unter neuem Vorzeichen, auch Unternehmungen wie das hier vorgestellte.
Natürlich gibt es Bilder der Shoa, die voll des Grauens sind und auf den ersten Blick Einhalt gebieten. Die Gewalt, die in ihnen ist – die Gewalt, die die Bilder zeigen und/oder die das Machen der Bilder ausdrückt – springt sofort ins Auge. Der Fotograf oder (viel seltener) die Fotografin war Teil der Tat oder stand den Tätern nahe. Die Kamera war zur Waffe geworden, die die Betroffenen zusätzlich entwürdigte. Oft ist die abgebildete Gewalt solcherart, dass die Betroffenen sie nicht überlebt haben können. Sie können also ihre Zustimmung zum Zeigen der Fotos nicht mehr gegeben haben. Doch wurden auch jene, die überlebt haben, in der Regel nicht gefragt, was sie von einer Veröffentlichung der Fotos halten.
In einer Notiz von Joseph Goebbels findet sich der Hinweis auf eine Sentenz des Reichspresseleiters Max Amann, dass die Zeitschrift „Signal“ „wertvolle Blockadebrecherarbeit gegen den frühen beherrschenden antideutschen Zeitschrifteneinfluß in Europa geleistet“ habe – und das bereits im April 1940. Der Einfluss dieser Zeitschrift auf die offizielle Kriegspropaganda vieler Staaten kann kaum überschätzt werden. Denn im Vergleich selbst zu großen Magazinen wie „Life“, „Picture Post“ oder auch „USSR im Bau“ war „Signal“ einfach ein grafisch wie vom Bildmaterial her gut gemachtes Blatt, gerade in jenem vorsprachlichen Jargon der Designer, die zu jener Zeit für das Machen von Zeitschriften verantwortlich waren. Noch in den 1980er Jahren bekannte der Bildjournalist Robert Lebeck, in „Signal“ mehr gute Bilder gesehen zu haben als in „Life“ oder „Paris Match“ zur selben Zeit.
Der Zweite Weltkrieg ist bis heute in der deutschen und europäischen Erinnerungskultur präsent und wird auf individueller wie kollektiver, medialer Ebene mit ganz bestimmten Bildern assoziiert. Auf deutscher Seite waren vor allem die Propagandakompanien (PK) der Wehrmacht die wichtigsten Bildlieferanten zeitgenössischer Medien. Ihre Fotografien durchliefen eine doppelte Zensur: eine militärische sowie die durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP). Die PK-Fotografen waren aber zumeist aufgrund ihrer Ausbildung, oft auch ihrer ideologischen Prägung nach, in ihrer fotografischen Praxis darauf ausgerichtet, vom Regime gewünschte Bildvorstellungen umzusetzen.
Die argentinische Erinnerungskultur an die Militärdiktatur von 1976-1983 und ihre Opfer dominiert seit Jahrzehnten die Narrative der zivilgesellschaftlichen Organisationen der Angehörigen der „Verschwundenen“: die Afectados. Ihr Agieren lässt sich nicht mit (west-)europäischen Konzepten von Erinnerungskultur begreifen. Die Mitglieder der Organisationen sind zumeist von einem persönlichen oder vererbten Trauma betroffen, das ihr Engagement beeinflusst. Um sie hat sich eine affiliative Gemeinschaft beziehungsweise Bewegung gebildet, die diese Vergangenheit und das Trauma als ihre eigene Geschichte begreift.
Ein antisemitisches Gespenst im Advent. Der Adventskalender der „Deutschen Apotheker Zeitung“
(2019)
Mit einer Figur, die in Reinform klassische Merkmale des modernen Antisemitismus trägt, rechnet man im Adventskalender der „Deutschen Apotheker Zeitung“ (DAZ) zunächst einmal nicht. Hat sich ein Gespenst aus der Vergangenheit in die Gegenwart verirrt? Oder liegt das Problem im Auge der Betrachter*in, in einer Déformation professionelle, die in einer aktuellen Karikatur ein altes antisemitisches Bild sieht und so Vergangenheit und Gegenwart zu schnell in einen Topf wirft? Der Historiker David Nirenberg warnt in seinem Buch „Anti-Judaismus“ vor solchen vereinfachenden Kontinuitätserzählungen des Antisemitismus: „Wir wissen […], dass Historiker uralte Haken finden können, um darauf neue Hüte zu hängen.“ Betrachtet man jedoch den „DAZ-Adventskalender“ von 2019, hat man den Eindruck, die Apotheker*innen hätten den uralten Haken der Judenfeindschaft gefunden, um Probleme ihres Standes daran aufzuhängen.
Die Ästhetik der Ausstellungsgestaltung im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, verweist beim Betreten der Räume sofort auf das Thema: Ein aufdringliches Teppichblau konkurriert mit Ausstellungswänden aus hellgrauen Lochblechsegmenten. Die Kapiteltexte sind auf verschiedenfarbige Tafeln aufgezogen und stehen locker im Raum verteilt, ebenso wie einige Spiegel, Vitrinen, Tische, Regale und Medienstationen. Alles trägt zum vorläufigen, werkstatthaften und uneinheitlichen Charakter des ersten Eindrucks der Ausstellung zum Medium Amateurfotografie bei.
Sicher fühlen sich einige Besucher*innen von diesem Anblick leicht abgeschreckt, bei mir löste er eher eine euphorische Goldgräberstimmung aus. Eine Ausstellung kleinformatiger Amateurfotografie, alle einheitlich einzeln gerahmt hinter Passepartouts wie kleine kunsthistorische Preziosen, hätte ich in diesem Zusammenhang als unpassend empfunden. Wenn sie auch in diesem Fall nicht völlig vermieden wurden: Auf diese Weise werden hier beispielsweise die Fotografien des Bauhauses präsentiert.
Eine Woche, bevor der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2019 an den brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado verliehen wurde, lud das Kulturwissenschaftliche Institut Essen (KWI) zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion ein, um Salgados fotografische Praxis zu diskutieren. Das Podium besetzten die Organisator*innen und Moderator*innen Matthias Gründig, Folkwang Universität Essen, und Dr. Anja Schürmann, KWI Essen, sowie als eingeladene Diskutierende Prof. Elisabeth Neudörfl, Folkwang Universität Essen, Prof. Dr. Elke Grittmann, Hochschule Magdeburg-Stendal, und ich, Dr. Evelyn Runge, CAIS Center for Advanced Internet Studies Bochum.
Von einem ganz ähnlichen Verständnis visueller Zeugnisse ist auch die gegenwärtige Sonderausstellung der Stiftung Topographie des Terrors geleitet. Nur nimmt sie anstelle der weit häufiger fixierten osteuropäischen Perspektive auf den Holocaust erstmalig ein westeuropäisches Land in den Blick. „Fotografien der Verfolgung der Juden. Die Niederlande 1940-1945“ ist aus einer Kooperation mit dem Amsterdamer NIOD Instituut voor Oorlogs-, Holocaust- en Genocidestudies und dem Joods Cultureel Kwartier / Nationaal Holocaust Museum i.o. hervorgegangen, in dem die Ausstellung zuvor zu sehen war.
Der Titel des Buches „Bilder als Botschaft“ greift eine vielzitierte Formel auf, die Marshall McLuhan bereits vor mehr als 50 Jahren geprägt hat. Danach ist das Medium die eigentliche Botschaft und nicht unbedingt deren Inhalt. Angewandt auf die Illustrierten bedeutet dies, dass sie vor allem via Bilder Botschaften transportieren. Im Unterschied zur Praxis der Visual History, die bislang vor allem die Bildikonen im Blick hatte, geht es Dussel demgegenüber um das Durchschnittliche und Alltägliche des Massenmediums Bild.
Der erste Band der 2015 von Costanza D’Elia gegründeten Zeitschrift „Visual History. Rivista internazionale di storia e critica dell’immagine” wird mit einem Zitat aus „L’orologio“ („Die Uhr“) eingeleitet, einer der bedeutendsten politischen Romane der italienischen Nachkriegszeit, den der Schriftsteller und Maler Carlo Levi 1950 veröffentlichte. Die Auswahl der Zeilen erfolgte nicht zufällig: Ein Mensch, verzweifelt ob der „Unfähigkeit zu leben“, stößt „in immer neue Wissensgebiete vor, auf der ständigen Suche nach etwas, das ihm hoffnungslos verborgen bleiben würde“.
Das Titelbild, ein Standfoto aus dem Film Mooi Holland von 1915, zeigt eine junge Frau in Tracht mit der weißen Haube, die bei Leser*innen in Deutschland wahrscheinlich Assoziationen an die Werbefigur Frau Antje und deren Karikatur wachrufen. Auf welchen historischen Grundlagen solche Klischees basieren, hat Sarah Dellmann auf der Basis von (Bewegt-)Bildern aus dem langen 19. Jahrhundert untersucht.
Als bekannt wurde, dass Sebastião Salgado als erster Fotograf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2019 bekommt, hatte ich das Gefühl, dass er medial vor allem durchgewinkt wurde, obwohl seine Art zu fotografieren innerhalb der Fotografie und Fototheorie stark polarisiert, weil er wie kaum ein zweiter Künstler die Fotografie mit ihren Dichotomien konfrontiert. Er ist Amateur und Profi, Fotojournalist und Kunstfotograf; er produziert nicht nur Fotografie, er vertreibt und kuratiert sie auch; er ist – zusammen mit seiner Frau – seine eigene Agentur und thematisch sowohl konservativ und religiös, als auch an zeitgenössischen Diskursen interessiert. Andere Dualismen sind die zwischen barock und schwarz-weiß, zwischen emotional und ästhetisch distanziert. Sie zeigen sich auch in der Rezeption, je nachdem, von welcher Seite er betrachtet wird. Denn dokumentarische Praktiken werden im Fotojournalismus anders diskutiert als im Kunstbetrieb.
„Ich war damals in Marburg nicht ganz unbekannt durch 24 Farbfotografien, die ich als Postkarten veröffentlicht hatte“ (S. 21). Schlicht und bedeutungsvoll zugleich sind die Worte, die der Apotheker und Drogerie-Fabrikant Georg Heinrich Mylius (1884-1979) in einem der letzten Briefe 1978 seinen 1911 entstandenen Aufnahmen widmete. Als erste fotografische Darstellungen Marburgs in Farbe und als solche seinerzeit ein öffentlich stark beachtetes technisches Novum können diese sogenannten Autochrome (S. 18) nach wie vor einiges Interesse für sich beanspruchen.
Nachrichten, Blogs, Online-Zeitschriften, Websites von Museen, von Gedenkstätten und anderen Bildungseinrichtungen, Online-Ausstellungen, Social Media – sie alle zeigen Bilder: groß aufgezogen, als Fotostrecke, in kleineren Formaten, mit oder ohne Bildunterschrift. Visuelle Informationen gehören im Netz dazu. Häufig dienen Bilder der Illustrierung von Texten; sie sind ästhetische Elemente, die visuell die Inhalte der Website kommunizieren sollen. Selten steht ihr eigener Quellenwert im Vordergrund. Bilder – und hierzu zählen auch historische Fotografien – sind niedrigschwellig durch Bildagenturen, Online-Bildarchive, Bilddatenbanken und Social Media zugängig, darunter auch solche, die diskriminierende Inhalte zeigen. Wie aber können wir mit Bildmaterial umgehen, das negative oder ausgrenzende Zuschreibungen aufweist und etwa die Persönlichkeitsrechte eines Menschen verletzt? Auseinandersetzungen über bildethische Fragestellungen in der Verwendung von (historischen) Fotografien finden zwar intern in einer Redaktion, in einem Ausstellungsteam, bei der Planung eines Buches immer wieder statt, allerdings werden diese noch kaum dokumentiert. Eine Diskussion in der Fachöffentlichkeit hat sich darüber noch nicht etabliert. Der Workshop „Bildethik – zum Umgang mit Bildern im Internet“ wollte genau hier ansetzen und einen Austausch von Erfahrungen, Methoden und Strategien im Umgang initiieren.