21. Jahrhundert
Refine
Year of publication
Document Type
- Journal Article (120)
- Online Publication (109)
- Part of a Book (2)
- Book (1)
Language
- German (232) (remove)
Has Fulltext
- yes (232) (remove)
Keywords
- Dossier (1)
- Historiker (1)
- Russisch-Ukrainischer Krieg (1)
Im Jahr 2012 kam der Film »Fetih 1453« in die türkischen Kinos. Das Heldenepos um den 18-jährigen Sultan Mehmed II., dessen Truppen die oströmische Hauptstadt einnahmen, war unter Einsatz neuester Computertechnik, Animationen und vielerlei Effekten hergestellt worden. Der Kinostart in Istanbul war – damit die geschichtsträchtige Symbolik sich auch jedem Türken deutlich erschließe – um 14.53 Uhr. Der Film entwickelte sich rasch zum Kassenschlager. Er war nicht nur der teuerste in der Türkei jemals gedrehte Film – seine Produktionskosten beliefen sich auf 17 Mio. US-Dollar –, sondern zog auch die meisten Besucher an.
Anfang 2014 konnte der rund 50.000 Aufnahmen umfassende Nachlass des Fotografen Wolfgang G. Schröter (1928–2012) zusammen mit zahlreichen Arbeitsabzügen, Belegexemplaren, der Handbibliothek und biographischen Dokumenten von der Deutschen Fotothek für das »Archiv der Fotografen« übernommen werden. Schröter gehörte zu den paradigmatischen Ausnahmefotografen der frühen DDR. Unter Nutzung der Methoden von Wissenschafts- und experimenteller Fotografie entwickelte er eine eigene Bildsprache, die avantgardistische internationale Fotografie-Entwicklungen aufgriff, ohne diese zu imitieren. Schröters frühe farbfotografische Experimente wurden 1977 im Zuge der Nobilitierung der Fotografie als künstlerisches Medium in der Hallenser Ausstellung »Medium Fotografie« gewürdigt. Bis heute werden seine Aufnahmen in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt.
Kommerzielle Bildanbieter entledigen sich zunehmend ihrer analogen Fotoarchive. Dabei geht es nicht selten um Millionen von Fotografien. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie es bei solchen Anbietern um die Wertschätzung ihres analogen Fotoerbes steht. Die Antwort scheint entsprechend einfach zu sein: Solche Bestände werden gering geschätzt. Die Fotoarchive werden abgegeben oder gar vernichtet, weil sie für ihre Besitzer mehr Verlust als Profit einbringen. In manchen Fällen übernehmen öffentliche Gedächtnisinstitutionen wie Archive, Museen und Bibliotheken die Bestände und widmen sie von Gebrauchs- zu historischen Fotoarchiven um. Dies hat im Zusammenspiel mit der allgemeinen Digitalisierung der Fotografie das Bewusstsein für die Historizität alter Pressefotografien und damit für ihren kulturellen sowie wissenschaftlichen Wert geschärft. Die einst massenhaft für den Verkauf hergestellten Gebrauchsbilder gelten heute als zeithistorische Dokumente. In der medialen Öffentlichkeit wird vollmundig vom »visuellen« oder vom »fotografischen« Gedächtnis eines ganzen Landes geschrieben.
Was vor einigen Jahren ein Schreckensszenario war, ist längst eingetreten. Für den wissenschaftlichen Nachwuchs gilt schon heute: »Quod non est in google, non est in mundo.« Freilich, eine verkürzte Sicht. Der Aufbau elektronischer Findmittel zur Durchforstung von Archiv-, Bibliotheks- und Museumsbeständen hat in den vergangenen Jahren ein starkes wissenschaftliches Interesse gefunden. Die Gesellschaft vernetzte sich, es entstanden viele nützliche Service-Angebote, neue Begehrlichkeiten wurden geweckt. Heute geht es nicht mehr darum, Inhalte nur zu erschließen, sondern darum, sie online zu vermitteln. In sozialen Medien werden diese Inhalte »getaggt«, »geliked«, empfohlen oder gar kommentiert. Die sammelnden Institutionen stehen damit vor einer gewaltigen Herausforderung – technisch, finanziell und vor allem konzeptionell. Mit dem Aufkommen von Bits und Bytes befindet sich die Kulturtechnik des Sammelns und Präsentierens in einem tiefgreifenden Umbruch. Der digitale Wandel impliziert die Frage, ob Gedächtnisinstitutionen künftig noch derselbe Stellenwert zukommen wird, zukommen muss wie heute: Schaffen entmaterialisierte Kulturgüter eine neue Kulturgesellschaft?
Fotografien haben für die historische Forschung zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dienten sie vormals zumeist der Textillustration, werden sie inzwischen als eigenständige historische Quellen ernstgenommen. Die einschlägigen Publikationen, die sich entweder theoretisch mit der Visual History auseinandersetzen oder aber an konkreten Beispielen sich bildhafter Quellen annehmen, sind kaum mehr zu überblicken. Eine Gemeinsamkeit ist dabei: Nicht mehr nur der Bildinhalt spielt für die Geschichtswissenschaft eine Rolle; gefragt wird auch nach dem Entstehungskontext, der Überlieferung und der Rezeption der Bilder. Damit gerät zugleich die bisher übliche Aufbewahrungspraxis der Fotografien im Archiv in den Fokus: Die meist thematische Ordnung der Materialien lässt häufig keine Rückschlüsse auf diese neuen Fragen zu.
Der Ruf des Marktes ist lädiert. Die internationalen Finanzkrisen der letzten Jahre haben Ängste vor einem offenbar politisch unbeherrschbaren, globalisierten Hochgeschwindigkeits-Kapitalismus geschürt; zugleich verweist das seit geraumer Zeit gewachsene Unbehagen an einer anhaltenden »Ökonomisierung« von Arbeitsbeziehungen, sozialen Sicherungs- oder Bildungssystemen auf die Schattenseiten eines hochflexiblen Informations- und Konsumgüterangebots, auf das allerdings kaum jemand verzichten möchte. Wie plausibel solche Zeitdiagnosen auch immer erscheinen mögen, sie dürften immerhin das gewachsene Interesse einer Zeitgeschichtsschreibung, die sich wieder stärker der »Problemgeschichte« oder den »Anfängen der Gegenwart« widmet, an jenen ökonomischen Faktoren miterklären, die in der kulturhistorischen Hochkonjunktur der 1990er-Jahre in den Hintergrund gerückt waren.
Trauer, Patriotismus und Entertainment. Das »National September 11 Memorial & Museum« in New York
(2016)
Downtown Manhattan, 15. Mai 2014: Mit einer würdevollen Feierstunde eröffnen Michael Bloomberg und Barack Obama – in Anwesenheit der nationalen und lokalen Politprominenz, von Überlebenden, Ersthelfern und Angehörigen der Opfer der Anschläge – das National September 11 Memorial Museum. Der Name der Institution am ehemaligen Standort des World Trade Centers (WTC) ist Programm: Sie soll zugleich Gedenkort und Museum sein. Die gemeinnützige Stiftung, die unter dem Vorsitz des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters Bloomberg und der Leitung des Managers und Juristen Joe Daniels die Einrichtung verantwortet, hat es sich zum Ziel gesetzt, diese zentralen erinnerungskulturellen Aufgaben an einem Ort zu vereinen. Hier soll der Toten und der Überlebenden der Anschläge gedacht und an die Ersthelfer erinnert werden, die in den USA als Helden gelten. Die Institution richtet sich an eine breite Öffentlichkeit und soll diese auch historisch-politisch über die Auswirkungen des Terrorismus informieren.
In den heutigen »wissens- und technologieintensiven« Zeiten, so könnte man annehmen, drehen sich Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr um Immaterielles. Manche hoffen sogar, dass diese post-industrielle Revolution der Weltwirtschaft den Schub geben wird, den sie braucht, um weiterhin auf einem Wachstumspfad zu bleiben und – dieses kleine Detail bleibt oft unerwähnt – weiterhin eine asymmetrische Verteilung von Produktivität und Einkommen sicherzustellen. Warum sollte sich also ein Themenheft der »Zeithistorischen Forschungen« ausgerechnet jetzt mit dem »Wert der Dinge« beschäftigen, wo diese doch gerade zusammen mit der industriellen Produktion an Bedeutung zu verlieren scheinen? Gewählt haben wir dieses Thema nicht primär aufgrund der Konjunktur, welche die dinglichen Dimensionen der Vergangenheit momentan in der Geschichtswissenschaft genießen, sondern eben aufgrund der Rede vom Bedeutungsverlust des Materiellen. Sie macht es notwendig, den vermeintlichen Gegensatz zwischen Dingen und Menschen oder zwischen Stoffen und Gedanken neu zu fassen.
»Alternative Fakten«, »erinnerungskulturelle Wenden«, Konflikte um Museen und Gedenkstätten, historische Sehnsüchte und Ressentiments – es nimmt nicht Wunder, dass der Aufstieg des Populismus1 überall in Europa auch von der Geschichtswissenschaft als Herausforderung verstanden wird. Das gilt in besonderem Maße für Deutschland, wo die politische Ordnung so sehr mit einer spezifischen Geschichtserfahrung und Geschichtsdeutung verbunden ist. Seit den Mobilisierungserfolgen von »Pegida« ab 2014 und der »Alternative für Deutschland« (AfD) ab 2015 steht der liberale Basiskonsens mit seiner um selbstkritische Reflexion und historische Verantwortung modellierten Erinnerungspolitik öffentlich unter Druck wie selten zuvor.
Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit
(2019)
Das neu-alte Schloss steht bereits. Die Baugerüste sind Ende 2018 gefallen und haben den Blick auf die rekonstruierten Barockfassaden an der Nord-, West- und Südseite freigegeben. Lediglich die moderne Ostfassade lässt von außen erkennen, dass es sich bei dem Gebäude auf dem Berliner Schlossplatz nicht wirklich um das alte Stadtschloss handelt, sondern um eine Teilrekonstruktion. In deren Innerem soll ab Ende 2019, im 250. Geburtsjahr Alexander von Humboldts, das Humboldt Forum etappenweise eröffnen. Neben Sonderausstellungsflächen, Veranstaltungsräumen und einer Ausstellung zur Geschichte des Ortes im Erdgeschoss sowie Ausstellungen des Landes Berlin und der Humboldt-Universität im ersten Obergeschoss wird es im zweiten und dritten Obergeschoss die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst beherbergen, die beide zu den Staatlichen Museen zu Berlin gehören und damit Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind.
Das Ziel der 1787 geschriebenen US-Verfassung sei es, so heißt es in der Präambel, »to form a more perfect union«. Damals war offen, ob das politische Experiment auf dem nordamerikanischen Kontinent erfolgreich sein oder ob es aufgrund von inneren und äußeren Konflikten schon bald scheitern würde. Entsprechend nannte das 1782 entstandene Great Seal of the United States, auf dem auch das bekannte Präsidentensiegel basiert, eine bis heute nicht völlig eingelöste Aufgabe: »E pluribus unum«, »Out of Many, One«, also aus vielen Einzelstaaten einen gemeinsamen Staat zu machen.
Museumspolitik – hier das Handeln des österreichischen Staates, der Länder und Kommunen zum Erhalt und zur Förderung der Museen – hat als Teil der Kulturpolitik in der öffentlichen Wahrnehmung keinen herausragenden Stellenwert. Dabei gab es in den letzten Jahren selbstverständlich zahlreiche museumspolitische Entscheidungen, die der sich wandelnden institutionellen Bedeutung von Museen Rechnung getragen und internationale Tendenzen zu Fragen des Sammelns, Bewahrens und Vermittelns von Kultur, Kunst und Natur nachvollzogen haben. Ein Resultat jüngerer Museumspolitik ist beispielsweise die neugestaltete Ausstellung in Mauthausen, dem ehemals größten Konzentrationslager des nationalsozialistischen Regimes auf österreichischem Boden, inklusive der Etablierung eines zeitgemäßen Bildungsprogramms.
Blickt man vom Ufer der Motława in Gdańsk Richtung Norden, schiebt sich ein Bauwerk in den Blick, das sich deutlich von seiner Umgebung abhebt: ein schräg stehender langgestreckter Quader, der dem Anschein nach gleich umkippen wird. Statisch droht zwar kein Unglück, die Schieflage des Gebäudes verdeutlicht aber im übertragenen Sinn, wie es um das Innenleben des Bauwerkes steht. Es beherbergt das Museum des Zweiten Weltkrieges. Kein anderes Museum in Polen hat in den vergangenen Jahren mehr Kontroversen ausgelöst als das Projekt in Gdańsk. Obwohl in Polen zu Recht von einem Museumsboom gesprochen werden kann und es durchaus weitere Steine des Anstoßes gegeben hätte, ist nur der Streit um das Museum in Gdańsk so eskaliert.
Seit den 1980er-Jahren erleben wir in der Bundesrepublik und auch in anderen Ländern einen Museumsboom, der noch lange nicht abgeschlossen zu sein scheint. Er zeichnet sich nicht allein durch immer neue Museumsgründungen und hohe Besuchszahlen aus, sondern auch durch eine umfassende mediale Begleitung und öffentliche Diskussion von Museums- und Ausstellungseröffnungen. Gleichzeitig wandeln sich Funktion und Selbstverständnis vieler Museen seit Beginn des 21. Jahrhunderts: weg von elitären Bildungseinrichtungen, hin zu Orten des zivilgesellschaftlichen Austauschs und der Partizipation. Dieser Wandel in der Museumswelt trifft gegenwärtig auf ihrerseits gewandelte geschichtspolitische Ansprüche, die an die Museen herangetragen werden.
Der 88-jährige Dokumentarfilmer Frederick Wiseman hat seinen neuesten Film „Ex Libris“ einer Einrichtung gewidmet, die nur unwesentlich älter ist als er selbst: der im Jahr 1911 gegründeten Public Library in New York. Wie in seinen 41 Filmen zuvor verzichtet er auch dieses Mal auf Kommentare aus dem Off und geht stattdessen mit seiner Kamera hinein in die Lesesäle, die Diskussionen und die Arbeitsprozesse. Seine Beobachtungen sind so erwartbar wie überraschend und zeigen vor allem eins: die Bibliothek ist ein wichtiger Lernort für die Demokratie.
Am 6. Dezember wird Timothy Snyder der Hannah-Arendt-Preis im Bremer Rathaus verliehen. Sein Buch „Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin“, das 2010 in den USA und 2011 in deutscher Übersetzung erschien, hat die Geschichtsschreibung nachhaltig verändert.
Erstmals hat ein Historiker explizit die Massenmorde des nationalsozialistischen und stalinistischen Regimes in Beziehung gesetzt und jene ostmitteleuropäische Region von Zentralpolen, der Ukraine und den baltischen Staaten bis Weißrussland in den Mittelpunkt gestellt, in der von 1917 bis 1947/48 etwa 14 Millionen Menschen starben, keine Soldaten, sondern wehrlose Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder – die „Bloodlands“.
Radio San Remo
(2018)
Als im Mai 2018 die „Süddeutsche Zeitung“ eine Karikatur des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu veröffentlichte, waren zahlreiche Leser*innen schockiert. Sie sahen in der Zeichnung einen Wiedergänger einer „Stürmer“-Zeichnung in einem Leitmedium der deutschen Presselandschaft. Andere konnten darin keinen Antisemitismus erkennen, sondern beurteilten die Zeichnung als israelkritisch, nicht jedoch als antisemitisch. Vor allem Tagespresse und soziale Medien führten diese Auseinandersetzung, mehrere Beschwerden gingen beim deutschen Presserat ein. In der medialen und presserechtlichen Auseinandersetzung wurde die jeweilige Klassifikation mit verschiedenen Argumenten begründet, ohne grundsätzliche Kriterien für die Beurteilung einer karikaturistischen Darstellung als antisemitisch oder nicht zu formulieren. Dies verwundert nicht: Skandalisierung bzw. Legitimierung waren die Ziele in den unmittelbaren Reaktionen auf die Karikatur und nicht eine möglichst differenzierte Auseinandersetzung.
»Man erinnert sich nicht, sondern man schreibt das Gedächtnis um, wie man die Geschichte umschreibt. Wie sollte man sich an den Durst erinnern?«, fragt sich der Schriftsteller, Fotograf und Regisseur Chris Marker (1921–2012) in seinem Filmessay »Sans Soleil« (1983). Damit weist er auf die Kluft zwischen Erfahrung und Erinnerung hin, die stets das Ergebnis reflexiver Prozesse ist. Er deutet des Weiteren einen Aspekt an, der für Historiker*innen von beträchtlicher Relevanz ist: den konstruktiven Charakter des Selbstzeugnisses. Nicht erst die historische Erzählung, sondern schon das Elementarteilchen der Geschichtsschreibung, das (Selbst-)Zeugnis, ist seit jeher das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses der Neu- bzw. Umschreibung. Denn auf der einen Seite unterliegen Zeugnisse selektiven Wahrnehmungs- und Gedächtnismechanismen, auf der anderen ändern sie sich im Laufe der Zeit durch die Interaktion mit neu eingetretenen Erfahrungen und kollektiven Anstößen. Die negative Kehrseite dieser Verformbarkeit kommt bei der Manipulation und Instrumentalisierung von Zeugen durch Politik und Medien ans Licht, worüber Historiker*innen in den letzten Jahrzehnten intensiv reflektiert haben. Jedes (Selbst-)Zeugnis muss daher als eine Momentaufnahme in einem Prozess der Erinnerungsverarbeitung angesehen und entsprechend kritisch im Kontext seiner Entstehung und späteren Rezeption analysiert werden. Ohne Zeugnisse damit dem Bereich des Fiktiven zuzuordnen, bezweckt diese kritische Auseinandersetzung, ihnen die Qualität der Reinheit, Ursprünglichkeit und Beständigkeit, der Unmittelbarkeit des Zugangs zur Vergangenheit und der Individualität abzusprechen und sie in den Horizont sinnbildender Prozesse zurückzuführen.