21. Jahrhundert
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Im 20. Jahrhundert fanden es die Deutschen kaum verwunderlich, dass es wenig Zuwanderung aus den (ehemaligen) Kolonien gab. Aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft kam niemand auf die Idee, überhaupt die Frage nach (post-)kolonialer Einwanderung zu stellen. Die ausbleibende Verwunderung lässt sich durch die Selbstverständlichkeit erklären, mit der man annahm, Weiß-Sein sei eine Bedingung für Deutschsein und die deutsche Nation „kein Einwanderungsland” (Zitat Helmut Kohl, 1992). Beim Blick nach Frankreich und Großbritannien hätte man zwar ein Defizit bei der nachkolonialen Einwanderung nach Deutschland feststellen können (1974 gab es in Frankreich regulär über eine Million Menschen allein aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien). Das Gegenteil war jedoch der Fall. Man bemühte in Deutschland den Vergleich mit Frankreich und Großbritannien lediglich, um zu behaupten, dass das deutsche Kolonialreich nur kurze Zeit existierte und zeitlich zu weit zurück lag, um einen dauernden Einfluss zu hinterlassen. Kohls Zitat, das deutsche Einwanderungsbehörden schon seit 1945 zum Leitmotiv ihrer Arbeit gemacht hatten, war weniger deskriptiv als präskriptiv gemeint. Bei der Zuwanderung nach Deutschland sollte es weder einen „Kolonialbonus“ für Auswanderungswillige aus den ehemaligen Überseegebieten geben, noch kam die deutsche Regierung auf die Idee, durch Bevorzugung von Migrant:innen oder „Gastarbeiter:innen“-Rekrutierung aus den ehemaligen Kolonien Wiedergutmachungspolitik zu betreiben, wie es zum Beispiel die englische Regierung mit der Einladung an die „Windrush-Generation“ aus karibischen Ländern zwischen 1948 und 1971 getan hatte.
Vergangene Zukunft? Der russisch-ukrainische Krieg und die Rückkehr der modernen Zeiterfahrung
(2024)
Seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine überbieten sich die Prognosen über den Anbruch einer neuen (oder alten?) Zeit der Geopolitik. Es prägen die Sorgen des „Krieges in Europa“ beziehungsweise eines „Dritten Weltkrieges“, in dem sich die Kategorien des Westens und Ostens, der Demokratie und Diktatur (wieder) feindselig gegenüberstehen.
Die Bedrohungskulisse des Krieges suggeriert die Reaktivierung einer Zukunftsperspektive, die sich als genuin modern bezeichnen lässt: erstens und ganz banal, weil sich darin die moderne Geschichte des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts zu wiederholen scheint; zweitens aufgrund der wiedergewonnenen Bedeutung des historischen Ost-West-Konfliktes, die die bereits länger diskreditierte These eines postmodernen Endes der Geschichte nach 1989 endgültig archiviert; und schließlich, weil der Krieg einen Erwartungshorizont eröffnet, dessen Gestaltung allein in den Händen der Menschen – nicht Gottes, der Viren oder des Klimas – liegt und somit eine völlig menschliche „Machbarkeit“ der eigenen Geschichte voraussetzt.
Erleben wir aber wirklich eine Rückkehr der Moderne oder wie können wir die Zeiterfahrung sonst begreifen, die durch den Diskurs über den Krieg gerade ausgelöst wird? Ich möchte hier einige Überlegungen über diese Fragen zusammentragen, die mich in den letzten Tagen und Wochen begleitet haben.
In diesem Essay begeben wir uns auf die Spurensuche in den Rayon Chojniki, der teilweise zur 30-km-Sperrzone von Tschernobyl gehört. Im ersten Teil wird die Geschichte von Chojniki vor und vor allem nach dem Jahr 1986 zusammenfassend geschildert. Anschließend reflektiert die aus dem Rayon Chojniki stammende Germanistin Ekaterina Jadtschenko die aktuelle Lage und ihren eigenen Weg von einer Sympathisantin des Präsidenten Lukaschenka zur Aktivistin der demokratischen Protestbewegung.
Die Industriestadt Schlobin (Gebiet Homel) liegt im Südosten der Republik Belarus und galt im August 2020 als eine der Hochburgen der Protestbewegung gegen das Lukaschenka-Regime. Zwei der vielen Schlobinern und Schlobinerinnen, die sich gegen die Diktatur auflehnten, waren der 18-jährige Jauhen Kachanouski und der drei Jahre ältere Dzmitryj Hopta. Am 5. Februar 2021 wurden sie wegen Beteiligung an „schweren Unruhen“ und „Widerstand gegen die Miliz (Polizei)“ vom Rayongericht Schlobin zu einer Haftstrafe verurteilt: Kachanouski, der noch im August festgenommen worden war, soll dreieinhalb Jahre im Gefängnis verbringen; Hopta, der vor dem Prozess auf freiem Fuß geblieben war, zwei Jahre. Obschon Hopta milder als Kachanouski bestraft wurde, rückte vor allem der 21-jährige Schlobiner ins Blickfeld belarusischer Medien: Die in Schlobin als regimetreu und hart bekannte Richterin Iryna Pradun stellte sich auf die Seite des wenig überzeugenden Staatsanklägers Andrej Anoschka, der die drastischen Haftstrafen für die Angeklagten (dreieinhalb Jahre für Kachanouski und zweieinhalb Jahre für Hopta) gefordert hatte. Während Kachanouski seine Schuld bestritten und außerdem über polizeiliche Folter berichtet hatte, zeigte sich Hopta reumütig, wodurch seine Haftstrafe etwas verkürzt wurde. Hoptas geistige Behinderung und die Tatsache, dass sich der Beschuldigte seit Jahren in psychiatrischer Behandlung befindet, wurden hingegen außer Acht gelassen.
Ist der Fall Hopta eher ein Betriebsunfall der „übereifrigen Provinzjustiz“ oder verdeutlicht er vielmehr, dass die belarusische Diktatur in ihrer Repressionspolitik eine weitere rote Linie überschritten hat? Welche Rolle spielen Menschen mit Behinderung im Kontext der Protestbewegung? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages.
In diesem Essay werden zunächst die Entwicklung der Corona-Pandemie in Belarus und der „belarusische Sonderweg“ beleuchtet. Anschließend werden die Rezeption und Auswirkungen des „Sonderweges“ sowie dessen Einfluss auf die Protestbewegung gegen Lukaschenka untersucht. Die Analyse beruht in erster Linie auf offiziellen Mitteilungen des Gesundheitsministeriums der Republik Belarus, Pressepublikationen belarusischer und ausländischer Provenienz und veröffentlichten Zeitzeugenberichten, ebenso auf mündlichen und schriftlichen qualitativen Interviews, die der Verfasser mit insgesamt 24 Männern und Frauen unterschiedlichen Alters (22 bis 75 Jahren) und sozialen Hintergrundes (Studenten, Hochschuldozenten, Mediziner, Rentner etc.) aus Minsk und aus der Provinz im Oktober und November 2020 durchgeführt hat.
In dem Forschungsprojekt „Künstlerische Strategien zur Befragung von Geschichtsbildern seit den 1990er Jahren“ geht es um den Erkenntnisbereich der Geschichte in der Kunst nach dem Ende des Kalten Kriegs. Es knüpft damit an die Tradition des Historienbildes an, das im 20. Jahrhundert seinen Niedergang erfuhr. Doch nach seinem Ende beschäftigen sich Künstler*innen in ihren Arbeiten weiterhin mit geschichtlichen Ereignissen aus Vergangenheit und Gegenwart – das Historienbild ist von noch genauer zu definierenden Geschichtsbildern abgelöst worden.
Wie aus einer anderen Ära wirken meine Aufzeichnungen und Fotos von Reisen nach Russland und Zentralasien, die ich in diesen Tagen durchgehe. Sie erinnern mich etwa an eine Konferenz der Central Eurasian Studies Society im Sommer 2016. In Kazan trafen sich im Sommer 2016 Wissenschafter:innen und Aktivist:innen aus der Russischen Föderation, Tadschikistan, Kirgistan, Usbekistan, Kasachstan, Polen und Tschechien, aus dem Iran, Indien, den USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Italien. Wir Teilnehmer:innen wurden das Gefühl nicht los, dass unsere Gespräche in englischer Sprache vor Ort kaum wahrgenommen wurden. Auch damals schon durchzog der Krieg in der Ukraine die Diskussionen. Es fühlte sich falsch an, diese Konferenz in einem Staat durchzuführen, der seit zwei Jahren einen Teil des Nachbarlandes besetzt hatte. Welches war also unsere Rolle als Wissenschaftler:innen in diesem Staat, in dem muslimische Migrant:innen aus Zentralasien wie Angehörige einer niederen Kaste behandelt wurden, dessen Einwohner:innen sich angesichts der Besetzung der Krim von einem neuen Hurrapatriotismus hatten mitreißen lassen und in dem kürzlich ein Politiker wie Boris Nemcov, der sich offen gegen die Politik Putins gewandt hatte, ermordet worden war?
»[…] wenn ›die Quelle‹ die Reliquie historischen Arbeitens ist – nicht nur Überbleibsel, sondern auch Objekt wissenschaftlicher Verehrung –, dann wäre analog ›das Archiv‹ die Kirche der Geschichtswissenschaft, in der die heiligen Handlungen des Suchens, Findens, Entdeckens und Erforschens vollzogen werden.« Achim Landwehr wirft in seinem geschichtstheoretischen Essay den Historikern ihren »Quellenglauben« vor – diese Kritik ließe sich im digitalen Zeitalter leicht auf die Heilsversprechen der Apostel der »Big Data Revolution« übertragen. Zwar regen sich mittlerweile vermehrt Stimmen, die den »Wahnwitz« der digitalen Utopie in Frage stellen, doch wird der öffentliche Diskurs weiterhin von jener Revolutionsrhetorik dominiert, die standardmäßig als Begleitmusik neuer Technologien ertönt. Statt in der intellektuell wenig fruchtbaren Dichotomie von Gegnern und Befürwortern, »First Movers« und Ignoranten zu verharren, welche die Landschaft der »Digital Humanities« ein wenig überspitzt auch heute noch kennzeichnet, ist das Ziel dieses Beitrages eine praxeologische Reflexion, die den Einfluss von digitalen Infrastrukturen, digitalen Werkzeugen und digitalen »Quellen« auf die Praxis historischen Arbeitens zeigen möchte. Ausgehend von der These, dass ebenjene digitalen Infrastrukturen, Werkzeuge und »Quellen« heute einen zentralen Einfluss darauf haben, wie wir Geschichte denken, erforschen und erzählen, plädiert der Beitrag für ein »Update« der klassischen Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft. Die kritische Reflexion über die konstitutive Rolle des Digitalen in der Konstruktion und Vermittlung historischen Wissens ist nicht nur eine Frage epistemologischer Dringlichkeit, sondern zentraler Bestandteil der Selbstverständigung eines Faches, dessen Anspruch als Wissenschaft sich auf die Methoden der Quellenkritik gründet.
A radical process of standardization of tourist destinations around the globe, particularly in urban contexts, has been described by numerous scholars during the last decades. Indeed, the reinvention of many cities as tourist destinations has made evident ‘an odd paradox: whereas the appeal of tourism is the opportunity to see something different, cities that are remade to attract tourists seem more and more alike’. In such a context, both scholars and practitioners point to abstract elements such as images, identities, flairs, and experiences, as the main elements defining destinations’ profiles. The American historian Catherine Cocks argued that the attribution of a ‘personality’ to the city was a key aspect in the transformation of American cities into tourist destinations. Urban personalities made the city easily available, readable and intelligible, transformed it into a salable commodity, and offered a compelling reason to visit it and to come back. Similarly, contemporary European cities can be seen as bearers of specific local urban identities that remain relatively fixed even when information, stereotypes and attributes may prove to be inaccurate or simply false. Wolfgang Kaschuba has in this sense described the production of urban identities as a cultural technique that is predominantly performed in certain societal spaces such as literature, tourism, mass media, pop culture, and history marketing. This article focuses on one of such spaces, tourism, and explores how tourist communication transforms Berlin into a distinct and unique destination. It asks how the city is enacted by tourism as a singular and bounded entity, to which multiple orderings of identity are attributed.
Caricature can be defined as an art engagé which aims to transmit a social or political message. In order to achieve this goal, the satirical picture triggers an emotional reaction in the audience and guides it through a cathartic coming-of-awareness process. The feelings evoked by caricature must not necessarily be expressed through laughter; but they are a joyful or indignant shock reaction to gazing at something absurd. William A. Coupe, following Schiller, therefore defines the nature of caricature as the outcome of a dialectical struggle between the ideal and the real: ‘This conflict of ideal and real may, however, be seen and expressed in two different ways, in an emotional and serious or in a humorous and jesting fashion.’