Zeitzeugen
The Language of Eichmann in Jerusalem. Nazi German and Other Forms of German in the 1961 Trial
(2024)
The Eichmann trial granted the German language a degree of audibility unprecedented in the short history of the State of Israel, with the defendant, the judges, prosecutors, and witnesses frequently resorting to speaking in German. Drawing on archival materials, protocols, footage, and press reports, this article shows how the Eichmann trial brought to the surface several historical tensions around the postwar status of the German language. The various forms of German heard in the courtroom challenged notions of German as a Nazi language and contributed to a gradual mitigation of its status as a tainted language. The article concludes by reassessing Hannah Arendt’s 1963 Eichmann in Jerusalem and specifically her postulate that Eichmann’s language faithfully reflected his mindset. It is argued that Arendt’s understanding of Eichmann’s language echoed prewar ideas on German’s distinctive power.
How have Jewish intellectuals reflected on the German language both in relation to and in the aftermath of the ›catastrophe‹? This essay explores one perspective, that of H.G. Adler (Prague, 1910 – London, 1988), a scholar, author, and survivor of the Shoah. Adler’s relationship to and reflections on the German language offer insights into the experience of persecution and survival as well as into the memory and representation of the Holocaust. His vast body of work testifies to both the possibility and the necessity of writing ›after Auschwitz‹, and indeed to the necessity of writing in German after the Holocaust. A survivor of Theresienstadt, Auschwitz, and two satellite camps of Buchenwald (Niederorschel and Langenstein-Zwieberge), Adler went on to write in various forms, from the analytic to the poetic, about National Socialism, antisemitism, and life and death in the concentration and extermination camp system. His scholarly work made an important contribution to establishing the international and interdisciplinary field of Holocaust Studies, and his poetry and novels bear witness to his own personal experiences in the camps, albeit not in a directly autobiographical form.
Sprachkritik und Autobiographie. Über Victor Klemperers »LTI. Notizbuch eines Philologen« (1947)
(2024)
Victor Klemperers Schrift »LTI. Notizbuch eines Philologen« wurde bereits in der Erstauflage zu 10.000 Exemplaren gedruckt, aber sie wurde nicht gleich zu dem Erfolg, den sich ihr Autor erhofft hatte. An Silvester 1947, nachdem ihm der Verlag das Geschenk eines eigens für ihn gebundenen Exemplars des ansonsten kartonierten Werks zugeschickt hatte, notierte er bedrückt in sein Tagebuch: »In diesem schönen Band […] tritt die Jämmerlichkeit des Papiers u. des Druckes noch krasser hervor. Im übrigen ist es ganz still von der LTI. Wo sind die 10.000 Exemplare? In keiner Buchhandlung, in keiner Redaktion. Keine Zeitung hat davon Notiz genommen.« Heute ist diese früh geäußerte Enttäuschung zu einer Fußnote geworden, denn das Buch gehört längst zu den Klassikern der Sprachkritik, liegt in sechsstelliger Auflagenhöhe und in vielen Übersetzungen vor. Das Nachdenken über die linguistische Korruption der modernen öffentlich-politischen Rede wurde durch wenige Werke so sehr angeregt wie durch dieses. LTI wurde dabei einerseits als »bedeutendes zeithistorisches Dokument« für die Ära des »Dritten Reiches« betrachtet, andererseits als »Wissensspeicher« für die Analyse der Funktionsweise einer Diktatur im Allgemeinen interpretiert. Beide Lesarten finden im Buch ihre Belege. Der ironische Latinismus »LTI« (für »Lingua Tertii Imperii«, »Sprache des Dritten Reiches«) war Kommentar und Deckkürzel zugleich; er persiflierte die nazistische Sucht nach Abkürzungen; und er war auch die »Geheimformel« (S. 20) in Klemperers Tagebuch der Jahre 1933–1945, mit der er seine Sprachbeobachtungen markierte. Ob nun mit dem Akzent auf die Zeugenschaft des Autors oder mit dem Blick auf die analytischen Angebote des Buches: Es ist in keiner dieser Perspektiven eine vergessene Schrift, sondern ein kanonisch gewordenes Werk, das im doppelten Wortsinne Geschichte geschrieben hat.
By analysing oral history interviews with industrial workers in Poland, this article adds some nuance to the study of post-industrial and post-socialist nostalgia. It presents diverse vernacular memories of the post-1989 systemic change from state socialism to neoliberal capitalism, and shows that nostalgia for an industrial ›golden age‹, although significant, is not the only way of making sense of this change. Rather, a distinctive feature of vernacular memory is the ambiguity about both socialism and capitalism. Recognising the variety of memories, the article underlines the critical potential of nostalgic currents for highlighting what is felt to be wrong with contemporary work culture. The article also differentiates between the vernacular memories of industrial communities recorded in oral history and institutionalised political memories in order to stress that the critical potential of nostalgic memories has been largely absent in the latter. In Poland, nostalgia for industrial life has been given little opportunity to become a reflective and critically useful mechanism to protect values that remain relevant in the present, such as the importance of sociability and agency in the workplace.
Die Restitution von Wohneigentum stellte ein großes Konfliktfeld im deutschen Einigungsprozess dar, das zugleich durch eine lange Vorgeschichte geprägt war. Eigentumsideen und -notationsformen aus dem 19. Jahrhundert sowie Praktiken aus der DDR spielten nach 1990 in die Entscheidungen der Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen hinein; sie prägten Erfahrungen und Bewertungen des 1990 eingeführten Prinzips »Rückgabe vor Entschädigung«. Das zugrundeliegende Vermögensgesetz wurde in den 1990er-Jahren modifiziert und berücksichtigte vermehrt DDR-Praktiken. Trotzdem dominieren in den öffentlichen Darstellungen Verlusterzählungen, vor allem aufgrund der langen Zeit der Unsicherheit bis zur endgültigen Entscheidung. Das für den ersten Teil des Aufsatzes gewählte Beispiel Kleinmachnow, das unmittelbar an das frühere West-Berlin angrenzte, stand in den 1990er-Jahren besonders im Medieninteresse. Unklar blieb aber, welche Aussagekraft es für Ostdeutschland hat. Im zweiten Teil wird deshalb nach dem Typischen dieses Falles gefragt. Zugleich wird dafür auf die besonderen Quellen der Transformationsgeschichte eingegangen: Die Sozialwissenschaften produzierten seit 1990 eine Vielzahl qualitativer und quantitativer Daten, die nun auch der Geschichtswissenschaft als Quellen zur Verfügung stehen. Vor einer Sekundäranalyse müssen sie aber wissensgeschichtlich eingeordnet werden: Die Sozialwissenschaften beobachteten den Transformationsprozess nicht nur, sondern gestalteten ihn mit. Vorgeschlagen wird hier ein integratives Verfahren, um quantitative und qualitative Ergebnisse für die Geschichtswissenschaft zu verbinden und somit zu einem besseren Verständnis der komplexen Transformationsgeschichte zu gelangen.
»Man erinnert sich nicht, sondern man schreibt das Gedächtnis um, wie man die Geschichte umschreibt. Wie sollte man sich an den Durst erinnern?«, fragt sich der Schriftsteller, Fotograf und Regisseur Chris Marker (1921–2012) in seinem Filmessay »Sans Soleil« (1983). Damit weist er auf die Kluft zwischen Erfahrung und Erinnerung hin, die stets das Ergebnis reflexiver Prozesse ist. Er deutet des Weiteren einen Aspekt an, der für Historiker*innen von beträchtlicher Relevanz ist: den konstruktiven Charakter des Selbstzeugnisses. Nicht erst die historische Erzählung, sondern schon das Elementarteilchen der Geschichtsschreibung, das (Selbst-)Zeugnis, ist seit jeher das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses der Neu- bzw. Umschreibung. Denn auf der einen Seite unterliegen Zeugnisse selektiven Wahrnehmungs- und Gedächtnismechanismen, auf der anderen ändern sie sich im Laufe der Zeit durch die Interaktion mit neu eingetretenen Erfahrungen und kollektiven Anstößen. Die negative Kehrseite dieser Verformbarkeit kommt bei der Manipulation und Instrumentalisierung von Zeugen durch Politik und Medien ans Licht, worüber Historiker*innen in den letzten Jahrzehnten intensiv reflektiert haben. Jedes (Selbst-)Zeugnis muss daher als eine Momentaufnahme in einem Prozess der Erinnerungsverarbeitung angesehen und entsprechend kritisch im Kontext seiner Entstehung und späteren Rezeption analysiert werden. Ohne Zeugnisse damit dem Bereich des Fiktiven zuzuordnen, bezweckt diese kritische Auseinandersetzung, ihnen die Qualität der Reinheit, Ursprünglichkeit und Beständigkeit, der Unmittelbarkeit des Zugangs zur Vergangenheit und der Individualität abzusprechen und sie in den Horizont sinnbildender Prozesse zurückzuführen.
Strafgefangenenarbeit ist ein Merkmal des modernen Gefängniswesens in unterschiedlichen politischen Systemen. Seit einigen Jahren wird in Wissenschaft und Öffentlichkeit verstärkt diskutiert, welche Rolle sie in der DDR spielte und ob der Begriff der Zwangsarbeit dafür geeignet ist – dies nicht zuletzt deshalb, weil auch tausende politische Gefangene von ihr betroffen waren. Der Beitrag untersucht, ob die Arbeitsbedingungen politischer Häftlinge schlechter waren als diejenigen krimineller Insassen und ob die Strafgefangenen insgesamt gegenüber Zivilarbeitern in der DDR diskriminiert wurden. Das Ergebnis ist differenziert: Zwar mussten die Häftlingsarbeiter zum Teil schwerere Tätigkeiten als Zivilarbeiter ausführen, doch gab es je nach Branche und Haftort durchaus Unterschiede. Eine zentral angewiesene Benachteiligung politischer Häftlinge in Bezug auf die Arbeitsbedingungen lässt sich nicht belegen, doch konnte sie eine Folge der Gefängnishierarchie sein, die nicht zuletzt der Kontrolle der politischen Häftlinge diente.
Trauer, Patriotismus und Entertainment. Das »National September 11 Memorial & Museum« in New York
(2016)
Downtown Manhattan, 15. Mai 2014: Mit einer würdevollen Feierstunde eröffnen Michael Bloomberg und Barack Obama – in Anwesenheit der nationalen und lokalen Politprominenz, von Überlebenden, Ersthelfern und Angehörigen der Opfer der Anschläge – das National September 11 Memorial Museum. Der Name der Institution am ehemaligen Standort des World Trade Centers (WTC) ist Programm: Sie soll zugleich Gedenkort und Museum sein. Die gemeinnützige Stiftung, die unter dem Vorsitz des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters Bloomberg und der Leitung des Managers und Juristen Joe Daniels die Einrichtung verantwortet, hat es sich zum Ziel gesetzt, diese zentralen erinnerungskulturellen Aufgaben an einem Ort zu vereinen. Hier soll der Toten und der Überlebenden der Anschläge gedacht und an die Ersthelfer erinnert werden, die in den USA als Helden gelten. Die Institution richtet sich an eine breite Öffentlichkeit und soll diese auch historisch-politisch über die Auswirkungen des Terrorismus informieren.
Am 8. Mai 2015 jährte sich die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und damit das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zum 70. Mal. Dieser Termin ist zugleich der 30. Jahrestag eines gedächtnispolitischen Schlüsselereignisses in der bundesrepublikanischen Geschichte, nämlich der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (1920–2015) zum 40. Jahrestag des Kriegsendes vor dem Deutschen Bundestag in Bonn. In Nachdrucken, Ton- und Filmaufnahmen bald millionenfach verbreitet und zumal an Schulen intensiv thematisiert, wurde sie anlässlich Weizsäckers Tod zu Beginn dieses Jahres noch einmal nachhaltig im öffentlichen Bewusstsein verankert: Von der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« bis zum »neuen deutschland«, von der LINKEN bis zur CSU – kaum ein Nachruf verzichtete auf eine Würdigung der Rede, als deren normativer Kern seit jeher die Erklärung des im bundesrepublikanischen Gedächtnisdiskurs traditionell umstrittenen 8. Mai 1945 zum ›Tag der Befreiung‹, ein klares Bekenntnis zur Notwendigkeit einer anhaltenden Auseinandersetzung mit dem NS-Regime sowie des Gedenkens an dessen Opfer gelten.
Wohl selten hat ein knapper, achtseitiger Text eine profundere Wirkung ausgeübt als Hans Rothfels’ Aufsatz über „Zeitgeschichte als Aufgabe“. Mit ihm verfolgte der Autor einen doppelten Zweck: Einerseits begründete er den Start einer neuen Zeitschrift; andererseits reflektierte er die möglichen wissenschaftlichen Grundlagen einer zeitgemäßen deutschen „Zeitgeschichte“, die es im Schatten des Nationalsozialismus überhaupt erst zu etablieren galt. Beide Ziele sind, vereinfacht gesagt, erreicht worden. Die „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ avancierten zur auflagenstärksten geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift in Deutschland. Bald schon übten sie beträchtlichen fachlichen Einfluss aus und wurden auch international stark beachtet. Überdies wirkten die Leitmotive, die Rothfels in die wissenschaftliche Diskussion warf, geradezu stilbildend. Über Generationen hinweg prägten sie das Verständnis von Zeitgeschichte, wie sie sich in der Bundesrepublik Deutschland höchst spezifisch herausbildete. Damit erfüllte sich auch der von Rothfels geäußerte Wunsch, die deutsche Forschung in „nachholender“ Weise an internationale Standards heranzuführen, die er während seiner Exiljahre in den USA kennengelernt hatte.