Wissen
„Unhappy is a society that has run out of words to describe what is going on“, schrieb Daniel Bell 1973 in „The Coming of Post-Industrial Society“ (S. 294). Bell war diesbezüglich um Worte nicht verlegen, und hier liegt die historische Relevanz des Buches: Es handelt sich um einen bis heute einflussreichen Versuch, einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel westlicher Industriegesellschaften zu beschreiben und intellektuell zu erfassen, während er sich noch vollzog. Bell, der sich schon in seiner Studienzeit als „Spezialist für Generalisierungen“ bezeichnet hatte, wagte damit den großen Wurf, ordnete gesellschaftliche Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg in weiter Perspektive historisch ein und identifizierte langfristige Trends. Die zukünftige Gesellschaft werde eine postindustrielle sein, und die USA hätten diese Schwelle zum Beginn der 1970er-Jahre bereits überschritten. Unter den zeitgenössischen gesellschaftstheoretischen Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsentwürfen nimmt Bells Konzept der postindustriellen Gesellschaft auch deshalb eine Sonderstellung ein, weil es sich umgehend als ein bekanntes, wenn auch verkürzendes Schlagwort etablierte.
In den 1980er-Jahren erweiterte die In-vitro-Fertilisation (IVF) nicht nur die Möglichkeiten der Familienplanung, sondern eröffnete auch neue, rasch expandierende Forschungs- und Geschäftsfelder für Mediziner in der Bundesrepublik. Die Vermarktlichung der menschlichen Reproduktion war Gegenstand eines breiten Aushandlungsprozesses über das technisch Machbare und das ethisch Vertretbare. Der Aufsatz stellt die Reproduktionsmediziner in den Mittelpunkt: Als Anbieter von innovativen Dienstleistungen verfolgten sie neben einem wissenschaftlichen Fortschrittsstreben auch ökonomische Interessen. Über die Medien sowie als Mitglieder von Ethikkommissionen nahmen sie politischen Einfluss. Sie verstärkten die öffentliche Wahrnehmung der Reproduktionsmedizin und waren an der Erstellung von gesetzlichen Richtlinien für ihr Tätigkeitsfeld beteiligt. Die medial geübte Kritik betonte die Gefahren einer technokratisch-politischen Steuerung und mögliche Kontinuitäten zur NS-Zeit. Mit der Verabschiedung des – im internationalen Vergleich restriktiven – Embryonenschutzgesetzes von 1990 kam die Debatte zu einem vorläufigen Ergebnis, war und ist jedoch keineswegs beendet.
Am 1. Oktober 1973 nahmen die Hochschulen (seit 1985 Universitäten) der Bundeswehr in Hamburg und München ihren Lehrbetrieb auf. Hervorgegangen aus jahrelangen Diskussionen über Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr, sollten sie allen Offizieren ein vollwertiges wissenschaftliches Studium bieten, um sie für ihre militärischen Führungsaufgaben sowie für den zivilen Arbeitsmarkt nach ihrer Dienstzeit zu qualifizieren. Neben der Attraktivität der soldatischen Laufbahn kamen zwei weitere Argumente hinzu: zum einen die militärische Effektivität unter den Vorzeichen der wissenschaftlich-technischen Systemkonkurrenz im Kalten Krieg, zum anderen die integrative Funktion akademischer Bildung für Soldaten als »Staatsbürger in Uniform«. Erst das Ineinandergreifen dieser drei Argumentationsstränge ermöglichte die Gründung der Hochschulen, gegen die Kritik von konservativen Militärs und aus der Studentenbewegung. Der Aufsatz ordnet die verschiedenen Motivationen für die Akademisierung der Offizierslaufbahn seit den frühen 1960er-Jahren historisch ein und erklärt die Spannungen der Gründungsgeschichte im Kontext der allgemeinen Hochschulexpansion.
Blickt man vom Ufer der Motława in Gdańsk Richtung Norden, schiebt sich ein Bauwerk in den Blick, das sich deutlich von seiner Umgebung abhebt: ein schräg stehender langgestreckter Quader, der dem Anschein nach gleich umkippen wird. Statisch droht zwar kein Unglück, die Schieflage des Gebäudes verdeutlicht aber im übertragenen Sinn, wie es um das Innenleben des Bauwerkes steht. Es beherbergt das Museum des Zweiten Weltkrieges. Kein anderes Museum in Polen hat in den vergangenen Jahren mehr Kontroversen ausgelöst als das Projekt in Gdańsk. Obwohl in Polen zu Recht von einem Museumsboom gesprochen werden kann und es durchaus weitere Steine des Anstoßes gegeben hätte, ist nur der Streit um das Museum in Gdańsk so eskaliert.
»I Have Diabetes. Am I to Blame?«, fragte Rivers Solomon im Oktober 2016 in der »New York Times«. Der Artikel war von der Redaktion mit »Disability« getaggt worden, und in ihm verschränkten sich die Beschreibungen von erlebten und zugewiesenen körperlichen und mentalen Defiziten. Solomon war 26 Jahre alt, Afroamerikanerin, dick. Sie kritisierte, dass ihre Krankheit anderen deshalb als selbstverschuldet gelte, als Resultat von mangelndem Wissen und Willen.
Ein knappes Jahrhundert zuvor wäre Solomons Erkrankung anders verstanden worden, folgt man Arleen Marcia Tuchmans 2020 veröffentlichter Geschichte von Diabetes in den USA. Tuchman zeigt, dass die Krankheit zwar schon am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Folge von übermäßigem Essen und mangelnder Bewegung erklärt, gleichzeitig aber mit spezifischen Befähigungen in Verbindung gebracht wurde. Diabetes galt als typische Krankheit der Erfolgreichen und Modernen. 1936 beschrieb ein Artikel im Magazin »Collier’s« Diabetiker*innen als »bessere Bürger«, die besonders selbstständig und intelligent sein mussten, um ihre Krankheit managen und mit ihr überleben zu können. Galten Afroamerikaner*innen noch zu diesem Zeitpunkt als kaum anfällig für Diabetes (weil sie nicht für »zivilisiert« genug gehalten wurden), wurden sie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu typischen Diabetes-Patienten. Die Krankheit wandelte sich zum Zeichen von Verantwortungslosigkeit und ungesundem Lebensstil.
Das Beispiel zeigt, wie historische Phänomene von unterschiedlichen Fähigkeitsnormen durchzogen sind. Im Vordergrund meiner Skizze steht dabei nicht der behinderte oder von Behinderung »bedrohte« Körper. Vielmehr interessiere ich mich für die Geschichte der Normen und Prämissen »fähiger« Körper und Subjekte, die bestimmten Menschen bzw. Menschengruppen zu- oder abgesprochen werden. Die ganz knappe Historisierung von Diabetes steht exemplarisch für den Blickwechsel, der sich mit einer Critical Ability History vornehmen lässt.
Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit
(2019)
Das neu-alte Schloss steht bereits. Die Baugerüste sind Ende 2018 gefallen und haben den Blick auf die rekonstruierten Barockfassaden an der Nord-, West- und Südseite freigegeben. Lediglich die moderne Ostfassade lässt von außen erkennen, dass es sich bei dem Gebäude auf dem Berliner Schlossplatz nicht wirklich um das alte Stadtschloss handelt, sondern um eine Teilrekonstruktion. In deren Innerem soll ab Ende 2019, im 250. Geburtsjahr Alexander von Humboldts, das Humboldt Forum etappenweise eröffnen. Neben Sonderausstellungsflächen, Veranstaltungsräumen und einer Ausstellung zur Geschichte des Ortes im Erdgeschoss sowie Ausstellungen des Landes Berlin und der Humboldt-Universität im ersten Obergeschoss wird es im zweiten und dritten Obergeschoss die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst beherbergen, die beide zu den Staatlichen Museen zu Berlin gehören und damit Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind.
Seit den 1980er-Jahren erleben wir in der Bundesrepublik und auch in anderen Ländern einen Museumsboom, der noch lange nicht abgeschlossen zu sein scheint. Er zeichnet sich nicht allein durch immer neue Museumsgründungen und hohe Besuchszahlen aus, sondern auch durch eine umfassende mediale Begleitung und öffentliche Diskussion von Museums- und Ausstellungseröffnungen. Gleichzeitig wandeln sich Funktion und Selbstverständnis vieler Museen seit Beginn des 21. Jahrhunderts: weg von elitären Bildungseinrichtungen, hin zu Orten des zivilgesellschaftlichen Austauschs und der Partizipation. Dieser Wandel in der Museumswelt trifft gegenwärtig auf ihrerseits gewandelte geschichtspolitische Ansprüche, die an die Museen herangetragen werden.
Es ist ein Jahrhundertbuch. 1901 mit über 800 Seiten erstmals veröffentlicht – bei späteren Auflagen waren es meist über 1.000 –, erreichte das Buch 1913 die erste Million. 1929 folgte eine „Neue Dritte Millionen-Ausgabe“, die zu dieser Zeit allerdings eher eine Absicht anzeigte als die tatsächlich erreichte Auflage. Denn 1969, nach mehreren Neuauflagen, Volks- und Buchgemeinschaftsausgaben meldete das Süddeutsche Verlags-Institut Julius Meyer, in dem „Die Frau als Hausärztin“ seit 1901 erschienen war, eine Gesamtauflage von „nur“ 3.365.000 Exemplaren. Die letzten Auflagen publizierte 1979, 1985 und 1993 der inzwischen von Random House aufgekaufte und eingestellte Falken Verlag.
This article explores the connection between genocide, language and language consciousness by tracing the strange biography of one Yiddish neologism: shabreven. During the Holocaust, the word came to mean both ›looting‹ and ›taking ownerless property‹. It stoked moral and etymological debate among Yiddish speakers in the Warsaw ghetto, while also occupying a prominent position in postwar Polish and Zionist discourses. The term shifted between different semantic, ethical and cultural fields, navigating a delicate balance between various meanings and norms. The discussions around this term help to shed light on key questions: What were the motivations for the study of Holocaust Yiddish neologisms? How did this early postwar Yiddish philological discourse differ from its parallel in German? Shabreven became both a symbol of the genocidal collapse of language and a tool for regaining victim agency in speech.
Der Kampf gegen Kindersterblichkeit wurde für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den 1970er-Jahren noch wichtiger als zuvor. Armut, Bevölkerungswachstum, Dekolonisierung und Menschenrechte waren prägende Themen auf der Agenda Internationaler Organisationen. In der WHO kam der »Teufelskreis« aus Mangelernährung und Krankheiten in den Blick. 1978 machte die WHO die Bekämpfung von Durchfall-Erkrankungen – eine der häufigsten Todesursachen bei Kindern – zum Gegenstand eines globalen Programms. Bei der Ausgestaltung verschränkten sich medizinische Wissensproduktion, sozialwissenschaftliche Annahmen und politische Deutungskämpfe über adäquate Maßnahmen und Prioritäten. Neben Angehörigen medizinischer Berufe rückten Mütter als Akteurinnen in den Mittelpunkt. Betont wurde ihre Verantwortung für die Prävention von Kindersterblichkeit und Mangelernährung. Insbesondere das Stillen wurde aufgewertet, weil es gegenüber anderen Formen der Säuglingsernährung belegbare Vorteile für die gesundheitliche Entwicklung hatte. Während dies den Blick auf die Handlungsmacht von Frauen schärfte, konnte es zugleich eine Festschreibung auf die (exklusive) Rolle von Müttern in der Kinderpflege bedeuten. Programme gegen Mangelernährung und Kindersterblichkeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erlauben somit eine Analyse von Geschlechterverhältnissen in Entwicklungspolitik, Medizin und sozialer Praxis.
The fight against child mortality became even more important for the World Health Organisation (WHO) in the 1970s than before. Poverty, population growth, decolonisation and human rights were defining issues on the agenda of international organisations. At the WHO, the focus turned to the ›vicious circle‹ of malnutrition and disease. In 1978, the WHO made the fight against diarrhoeal diseases – one of the most frequent causes of death among children – the subject of a global programme. Medical knowledge production, social science assumptions and political battles over appropriate measures and priorities were intertwined in the design of the programme. In addition to members of the medical profession, mothers were now acknowledged as central actors with a responsibility for the prevention of child mortality and malnutrition. Breastfeeding in particular was valorised due to its proven advantages for child health development compared to other forms of infant nutrition. While this sharpened the focus on women’s agency, it could also imply a fixation on the (exclusive) role of mothers in child care. Programmes to combat malnutrition and child mortality in the last third of the 20th century thus allow an analysis of gender relations in development policy, medicine and social practice.