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Zeitgeschichte neurodivers? Standpunktepistemologie und (geschichts-)wissenschaftliche Kommunikation
(2022)
In der akademischen wie der breiteren Öffentlichkeit ist der Begriff der Diversität gegenwärtig nahezu universal anschlussfähig. Der Gründungsdirektor des Göttinger Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften Steven Vertovec stimmt gar Loretta Lees zu, die schon 2003 bemerkte, mit Diversität verhalte es sich wie mit Mutterschaft oder Apfelkuchen: Man könne nur mit größeren Schwierigkeiten dagegen sein. In den letzten dreißig Jahren ist Diversität zunächst in den USA und dann auch in Westeuropa sowohl als sozialwissenschaftliche Analysekategorie wie auch als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und zur Aushandlung von Teilhabeansprüchen immer bedeutsamer geworden. Diversität ist das normative Leitbild staatlicher und internationaler Antidiskriminierungsprogramme, die, wie etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 in der Bundesrepublik, »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität […] verhindern oder […] beseitigen« sollen (§ 1). Das öffentliche Bekenntnis zu Diversität ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit in Unternehmen und Organisationen, die oft Strategien des Diversitätsmanagements entwickeln. Der Ursprung dieser gesellschaftlichen Diversitätsbejahung liegt in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, der zweiten Frauenbewegung, aber auch der Gay-, Lesbian- und Transgender-Bewegung sowie der Behindertenrechtsbewegung, die vor allem seit den 1970er-Jahren in den USA und in Westeuropa für die Anerkennung ihrer marginalisierten und diskriminierten Subjektpositionen stritten.
In seiner Geschichte der jüngsten Vergangenheit Amerikas, die 2011 unter dem Titel »Age of Fracture« erschien, begreift der Historiker Daniel T. Rodgers die wirtschaftlichen Veränderungen, die sich seit den 1970er-Jahren vollzogen, in ideengeschichtlicher Perspektive als »Wiederentdeckung des Marktes«. Paradoxerweise sei die Idee und Rhetorik des Marktes, als eines abstrakten und dekontextualisierten Prinzips, das auf eine Vielzahl menschlicher Lebensbereiche angewendet werden könne, gerade zu dem Zeitpunkt populär geworden, als allenthalben Marktversagen zu beobachten gewesen sei.[1] Die entscheidende Veränderung der letzten Jahrzehnte, die sich im Bereich der akademischen Wirtschaftswissenschaften vollzogen habe, fasst Rodgers als »an effort to turn away from macroeconomics’ aggregate categories and try to rethink economics altogether from microeconomic principles outward«.[2] Mit der Erklärung makroökonomischer Phänomene auf der Basis mikroökonomischen Verhaltens sei zugleich versucht worden, immer weitere Gesellschaftsbereiche über die Prinzipien individueller Nutzenmaximierung zu erklären.
Ein Gespenst geht um in der Geschichtswissenschaft: das Gespenst der Quantifizierung. Ringsum wird geklagt, dass Drittmittelbilanzen und Bibliometrie, Evaluierungen und Rankings immer wichtiger werden. Dies gehört zu einer allgemeinen Entwicklung nicht nur in der Geschichtswissenschaft, die Universitäten und außeruniversitäre Forschungsinstitute gleichermaßen betrifft. In Deutschland wird sie besonders mit Bologna-Reformen und Exzellenz-Initiative in Verbindung gebracht, wenngleich die Anfänge dieses Prozesses weiter zurückreichen. Die Geschichtswissenschaft, so scheint es, wurde also bereits mehr oder weniger sanft über die Türschwelle jener von Steffen Mau so bezeichneten »Bewertungsgesellschaft« geschubst, »die alles und jeden einer Bewertung mittels quantitativer Daten unterzieht und damit zugleich neue Wertigkeitsordnungen etabliert«
Wann und wie wandelten sich in der DDR-Gesellschaft langfristig politische Einstellungen und Wertorientierungen, wie sie dann 1989 in der Herbstrevolution sichtbar wurden? Anknüpfend an Konrad H. Jarauschs These von der »Umkehr« als fundamentalem Demokratisierungsprozess im geteilten Nachkriegsdeutschland untersucht der Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen der Stellvertreterbefragungen, die das westdeutsche Meinungsforschungsunternehmen Infratest im Auftrag der Bundesregierung von 1968 bis 1989 durchgeführt hat. Befragt wurden westdeutsche Besucher der DDR über die Ansichten eines von ihnen definierten Gesprächspartners im ostdeutschen Staat, den sie besucht und mit dem sie ausführlich gesprochen hatten. Dieser Serie zufolge stand eine breite und wachsende »schweigende Mehrheit« der DDR-Einwohner dem System distanziert gegenüber, war aber weder im westlichen noch im östlichen Sinne besonders ideologisch präformiert. Sie maß die DDR vor allem an ihren praktischen Leistungen im Hinblick auf Lebensstandard und Perspektiven. Das Interesse an Politik sank ab Mitte der 1970er-Jahre, stieg dann aber wieder an und orientierte sich zunehmend an westlichen Politikformen.
Kaum einer hat nachdrücklicher, vollmundiger und mit größerem Anspruch gegen die Katastrophe des Zeitalters der Weltkriege angeschrieben als Hans-Ulrich Wehler, der sich - paradoxerweise - bislang aber weitgehend aus der Historiographie dieser deutschen Krisenperiode herausgehalten hat. Der vierte Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ ist deshalb Prüfstein für Wehlers vorangegangene Arbeiten über das lange 19. Jahrhundert. Hier muss sich bewähren, was in jenen angelegt ist.
»WAS IST WAS« – hinter diesem etwas kryptischen Titel verbarg sich für Kinder und Jugendliche der 1960er- bis 1980er-Jahre das Wissen der Welt. Mindestens einige dieser etwa 40-seitigen Bildbände über »Dinosaurier«, »Das Weltall«, »Seeschlachten«, »Das Mittelalter«, »Autos« »Päpste« oder »Insekten« standen in so gut wie jedem westdeutschen Kinderzimmer. Und wer sie besaß, wird zugeben müssen, noch heute von diesem Wissen zu zehren. »WAS IST WAS« war die deutsche Variante einer amerikanischen Kindersachbuchreihe, die unter dem Titel »How and Why – Wonderbooks« seit den 1950er-Jahren erschien. Der Nürnberger Tessloff-Verlag erwarb die Rechte an diesem Titel, übersetzte ihn in »WAS IST WAS« und brachte die ersten vier Kindersachbücher 1961 heraus (zunächst als Zeitschriftenreihe, ab 1963 dann in Buchform). Über 140 Bände sind bisher erschienen, und viele von ihnen sind in aktualisierten Neuauflagen weiterhin lieferbar. Die Reihe ist nicht abgeschlossen, inzwischen aber multi-medialisiert – und sie hat Konkurrenz bekommen.
Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sowjetimperiums. Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen
(2013)
Der Mythos vom „neuen Menschen“ ist keine sowjetische Erfindung, sondern Teil der europäischen Ideengeschichte seit dem 18. Jahrhundert. Er nahm unterschiedliche Formen und Gestalten an, um zahlreichen politischen Ideologien zu überwältigenden Zielen und damit zu gesellschaftlichem Zuspruch zu verhelfen. In keinem anderen Land hatte der Mythos vom „neuen Menschen“ aber einen so starken Einfluss auf soziale Identitäten und politisches Handeln wie in der Sowjetunion. Die in den 1930er-Jahren zementierte Konzeption vom „Homo Sovieticus“ war zentral für die triumphale Selbstdarstellung des ersten sozialistischen Staats. Sie brachte eine historische Mission der Weltbefreiung und -eroberung und damit einen kollektiven Erlösungsglauben eindrucksvoll zur Anschauung. Darin ging sowohl das klassische marxistische Bild vom kämpferischen, siegreichen Proletariat ein als auch die überlieferte Vision von einer besonderen historischen Bestimmung des russischen Volks. Das sich aus den „neuen Sowjetmenschen“ bildende „Sowjetvolk“ werde aller Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende bereiten und neben der Freiheit auch den hehren revolutionären Idealen der Gleichheit und Brüderlichkeit den Weg in die Wirklichkeit ebnen.
Die Redaktion lud Doktorandinnen des Zentrums für Zeithistorische Forschung (Potsdam) dazu ein, über ihre Erfahrungen im Wissenschaftsbetrieb zu sprechen. Anna Junge, Anna Katharina Laschke, Caroline Peters, Florentine Schmidtmann und Henrike Voigtländer erklärten sich dazu bereit und verabredeten sich zu einem Gespräch. Ihre Diskussion fassten sie für Zeitgeschichte|online zusammen.
Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Benno Gammerl bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.