Verfassung
Seit sich die republikanische Regierungsform in Frankreich endgültig durchgesetzt hatte (1875), waren vier Gruppen von Franzosen Diskriminierungen ausgesetzt, die im Staatsangehörigkeitsrecht festgeschrieben waren: französische Frauen, die Ausländer heirateten; algerische Muslime, Eingebürgerte und Juden. Die Republik erkannte sie als Franzosen an, gewährte ihnen aber nicht in jeder Hinsicht gleiche Rechte. Heute sind diese Diskriminierungen verschwunden. Doch zwei der vier Gruppen – die Juden und die algerischen Muslime – tragen weiterhin die gelebte Erfahrung und die Erinnerung früherer Diskriminierungen, auch wenn sie inzwischen völlig gleichberechtigt sind und zum Teil Anerkennung oder Reparationen erhalten haben. Der Aufsatz soll verstehen helfen, warum dies so ist, und greift dafür auf psychoanalytische Erklärungsansätze zurück. In beiden Fällen gab es ein zweites Ereignis, das die schmerzliche Vergangenheit reaktivierte: eine Rede de Gaulles 1967 bzw. die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 1993. Dieses zweite Ereignis geschah in einer Zeit formaler Rechtsgleichheit und wies dennoch auf die Zeit der Diskriminierung zurück.
Staatssymbole sind ein unverzichtbares Attribut souveräner Nationalstaaten. Als visuelle und audiovisuelle Medien geben sie Aufschluss über den Kern staatlichen Selbstverständnisses, was sie zu einer interessanten Quelle für die historische Forschung macht. Symbole wie Flagge, Staatswappen und Nationalhymne repräsentieren den Staat nach außen und unterstreichen seine Souveränität, während sie nach innen der Integration und der Identitätsbildung dienen. Weil Staatssymbolik auf Beständigkeit angelegt ist, wird sie nur selten Modifikationen unterworfen. Meist sind es Systemwechsel, die Veränderungen der symbolischen Ordnung nach sich ziehen. In solchen Umbruchsituationen gilt den üblicherweise kaum bewusst wahrgenommenen Staatssymbolen verstärktes öffentliches Interesse. In der jüngeren Vergangenheit war dies am Beispiel der postsozialistischen Staaten gut zu beobachten. Deren Staatssymbolik lässt wie in einem Brennglas den Wandel des politischen und des Wertesystems erkennen, der seit dem Ende des Staatssozialismus stattgefunden hat.
Mit dem „rheinischen“ Kapitalismus ist in den vergangenen Jahren auch das bundesdeutsche Modell der Sozialpartnerschaft in die Krise geraten. Dies wirft neue Fragen nach seiner Entstehung als eines westeuropäischen Sonderfalls auf. Ein wichtiges, bisher jedoch wenig beachtetes Problem bestand in der ideellen und institutionellen Einbindung der Industriearbeiter, die der neuen bundesdeutschen Ordnung zunächst vielfach distanziert gegenüberstanden. Anhand einer Fallstudie zur kommunistischen Bewegung im Ruhrgebiet beleuchtet der Aufsatz den mentalen und habituellen Wandel der Arbeiterschaft nach 1945 sowie die institutionellen Konsequenzen dieses Wandels. Die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz mit dem „Arbeiterstaat“ DDR hatte dabei besondere Bedeutung. Die „nationale“ Deutschlandpolitik der DDR zerstörte einerseits ungewollt das kommunistische Betriebsmilieu und förderte den Niedergang direkten, autonomen Betriebshandelns. Andererseits verstärkte die kommunistische Herausforderung Bemühungen um eine positive Einbindung der Arbeiterschaft durch Gewerkschaften, Industrie und Staat. Angesichts einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber der politischen Reife der Arbeiter und in Abwehr der SED-Politik erneuerte sich die gewerkschaftliche Arbeit; sie verstand sich zunehmend als institutionalisierte Konfliktbewältigung durch professionelle Verbändepolitik. Infolgedessen waren die westdeutschen Gewerkschaften nicht länger Weltanschauungsgemeinschaften.
„Seine Darstellung wird keiner politischen Gruppe der Gegenwart viel Freude machen“, prophezeite Klaus Epstein 1963 in der „Historischen Zeitschrift“. Gemeint war die im Jahr zuvor erschienene Habilitationsschrift des jungen Politikwissenschaftlers Kurt Sontheimer, der sich in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre intensiv mit dem rechten „antidemokratischen Denken“ in der Weimarer Republik auseinandergesetzt hatte. In der Tat: Vor allem national-konservativen Kreisen in Wissenschaft und Publizistik musste Sontheimers Buch ein Ärgernis sein. Sein Gegenstand war eben nicht rein historischer Natur. Das Buch handelte von Deutschlands erstem ernstzunehmendem Experiment mit liberaler Demokratie, das gerade einmal 30 Jahre zuvor gescheitert war. Weimar war - mal mehr, mal weniger evident - integraler Bestandteil des bundesrepublikanischen Erfahrungs- und Deutungshorizonts.
Die Zeit der weitreichenden antikommunistischen Repression in den USA zwischen 1947 und 1954, verkürzt als McCarthyism bekannt, ist bis heute ein bedeutsamer Bezugspunkt - sowohl in politischen Debatten wie innerhalb der Historiographie. Während ein erster Abschnitt des Beitrags einen Überblick zum McCarthyism gibt und dabei den Stellenwert von Denunziationen diskutiert, widmet sich ein zweiter Teil am Beispiel des Theater- und Filmregisseurs Elia Kazan konkret der Frage, wie Denunziationen in zeitgenössischen Debatten als liberale, staatsbürgerliche Akte gedeutet und gerechtfertigt wurden. Unter Bezugnahme auf Michel Foucaults Theorie der Gouvernementalität wird erkennbar, dass die zur patriotischen Tat umgedeutete Denunziation für den antikommunistischen Liberalismus nach 1945 die Funktion einer maßgeblichen Selbsttechnologie besaß.
Berlin-Moabit, 1971: Drei Anwälte sitzen im Gerichtssaal – der eine, Horst Mahler, als Angeklagter, dem die Mitgliedschaft in der Roten Armee Fraktion (RAF) vorgeworfen wird; die beiden anderen, Hans-Christian Ströbele und Otto Schily, als seine Verteidiger. Ein Foto dieser Szene wählt die Regisseurin Birgit Schulz als Einstieg für ihren Dokumentarfilm „Die Anwälte“ über die Lebensläufe von Mahler, Ströbele und Schily, die sich damals in jenem Gerichtssaal kreuzten, in dem sie nun für den Film interviewt wurden. Doch geht Schulz weit über diesen Schnittpunkt hinaus. Sie nutzt das Foto als Ausgangspunkt für eine filmische Parallelbiographie, die den Werdegang der drei Anwälte bis in die Gegenwart verfolgt. Die Protagonisten werden nicht allein als „RAF-Anwälte“ beschrieben – eine Kennzeichnung, gegen die sie sich auch selbst verwahren. So betont Schily, wie unsinnig das Label „Terroristenanwalt“ sei. Man werde ja auch nicht zum „Mörderanwalt“, wenn man einen Mörder verteidige, oder zu einem „Flick-Untersuchungsanwalt“, nur weil man den gleichnamigen Untersuchungsausschuss geleitet habe. Damit gibt Schily das Stichwort für eine weitere zentrale Episode der jüngeren bundesdeutschen Zeitgeschichte, die der Film in biographisch verdichteter Form erzählt. „Eine deutsche Geschichte“ lautet schließlich auch der Untertitel des Films, dessen Protagonisten die Geschichte der Bundesrepublik gleichermaßen entscheidend mitgestaltet haben, wie sie umgekehrt von ihr geprägt wurden.
Von „Ruhe und Ordnung“ zur „inneren Sicherheit“. Eine Historisierung gesellschaftlicher Dispositive
(2010)
Die „innere Sicherheit“ ist seit den 1970er-Jahren zu einem Leitbegriff der politischen Kultur der Bundesrepublik geworden. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, den Begriff und die Politik der „inneren Sicherheit“ in zweifacher Weise zu historisieren. Erstens wird „innere Sicherheit“ als ein politisches Schlagwort verstanden, welches in einer langfristigen Perspektive den Topos „Ruhe und Ordnung“ abgelöst hat. Zweitens wird anhand des kritischen politischen Diskurses der 1970er-Jahre auf die psychologische Dimension der Semantik der „inneren Sicherheit“ aufmerksam gemacht, die als neue Konzeption des Verhältnisses zwischen Staat und Individuum wahrgenommen wurde. Während mit „Ruhe und Ordnung“ die Vorstellung einer disziplinär-militärisch und obrigkeitsstaatlich verfassten Ordnung einherging, kann das neue Sicherheitsdispositiv neben seinem stabilitätsbetonenden und repressiven Charakter auch ein zivilgesellschaftliches Verständnis implizieren, welches Sicherheit weniger garantiert, sondern sie als Abwägung von Freiheiten und Risiken versteht.
Historiker und Historikerinnen, zumal jene der jüngeren deutschen Geschichte, beschäftigen sich am liebsten mit Recht, wenn es nicht weh tut. Der Boom der Menschenrechtshistoriographie steht dieser Diagnose ebensowenig entgegen wie die Flut an Behördengeschichten der NS-Zeit. Beide Trends bestätigen vielmehr den Befund, versteckt sich hinter den Etiketten doch nicht selten eine klassische Politikhistorie, oft in der Gestalt einer Gesetzgebungsgeschichte, aufgelockert durch und verwoben mit ideen- und diskurshistorischen Elementen. Dies erlaubt es einerseits, sich von der etablierten, meist juristisch definierten Rechtsgeschichte abzusetzen, der vorgeworfen wird, zu einer sterilen Dogmengeschichte erstarrt zu sein. Andererseits hält man an tradierten Arbeitsteilungen fest: Die lästige, wiewohl notwendige Pflichtaufgabe, sich in die technischen Einzelheiten des Rechts zu vertiefen, darf aus der eigenen Zuständigkeit entlassen werden. Entsprechend begrenzt bleibt der wissenschaftliche Austausch: Rechtswissenschaftler/innen lesen historiographische Arbeiten als leichte Lektüre für den Hintergrund; Historiker/innen rezipieren die Studien ihrer juristischen Kolleg/innen als sprödes Fußnotenfutter. Dass der fächerübergreifende Kontakt zuletzt vor allem durch regierungsseitig initiierte Projekte über die NS-Belastung einzelner Ministerien und Behörden vorangetrieben wurde, bestätigt diese Beobachtung eher, als dass sie widerlegt würde.
Anhand einer Anwaltsgruppe um Kurt Rosenfeld und Theodor Liebknecht wird gezeigt, wie sozialistische Anwälte Gerichtsverfahren sowie deren öffentliche Wahrnehmung mitprägten und im Sinne der eigenen politischen Bewegung nutzbar machen konnten. Wie setzten sie juristische Verfahrensmöglichkeiten für weitergehende Ziele ein? Nach Hinweisen zu den Ursprüngen dieses Anwaltstypus und den biographischen Hintergründen der Anwälte fokussiert der Beitrag das Fallbeispiel der Berliner »Spartakusprozesse«. In diesen Verfahren gegen (angebliche) Beteiligte am Januaraufstand 1919 klagten die untersuchten Anwälte die Rechtsprechung, die neue Regierung und die bewaffnete Macht an. Schon hier stellten sie die für die Weimarer Republik zentralen Fragen nach der Legitimität und Legalität der Regierung sowie nach einer alternativen Ordnung. Deutlich wird ferner der besondere Resonanzraum für politische Strafverteidigung in Umbruchszeiten und für Anwälte, die zugleich als Politiker öffentlichkeitswirksam arbeiteten. Sozialistische Anwälte können folglich nicht auf die Rolle von Kronzeugen gegen die einseitige Justiz der Weimarer Republik reduziert werden, sondern sie waren selbstbewusste Akteure, die zur Debatte um den rechtlichen und politischen Charakter der neuen Ordnung wesentlich beitrugen.
Im März 1933 überfiel die SA das Amts- und Landgericht in Breslau. Jüdische Richter und Anwälte wurden, zum Teil unter schweren Misshandlungen, aus dem Gebäude getrieben und in den nächsten Tagen an der Ausübung ihrer Berufe gehindert. Die Justiz reagierte, indem sie ein sogenanntes Justitium verhängte: Für die Dauer von fünf Tagen wurden alle Termine abgesagt und alle Verfahren ausgesetzt. Im Rückblick stilisierten Zeitzeugen dieses Ereignis zum Streik. Der Beitrag skizziert zunächst die jahrhundertelange Rechtsgeschichte des Justitiums, das sich noch heute in der Zivilprozessordnung findet. Untersucht werden dann die näheren Umstände und Folgen der Breslauer Vorgänge von 1933. Dabei zeigt sich, dass der »Stillstand der Rechtspflege« tatsächlich kein Akt des Widerstandes gegen äußere Repression ist, sondern vielmehr ein juristischer Selbstbetrug: Auf die Gefahr von Rechtlosigkeit antwortet das Recht einfach mit dem Rekurs auf vorhandenes juristisches Vokabular, um eigene Handlungsfähigkeit zu suggerieren und selbst rohe Gewalt als Rechtszustand zu definieren.