Sozialstruktur
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Mit dem „rheinischen“ Kapitalismus ist in den vergangenen Jahren auch das bundesdeutsche Modell der Sozialpartnerschaft in die Krise geraten. Dies wirft neue Fragen nach seiner Entstehung als eines westeuropäischen Sonderfalls auf. Ein wichtiges, bisher jedoch wenig beachtetes Problem bestand in der ideellen und institutionellen Einbindung der Industriearbeiter, die der neuen bundesdeutschen Ordnung zunächst vielfach distanziert gegenüberstanden. Anhand einer Fallstudie zur kommunistischen Bewegung im Ruhrgebiet beleuchtet der Aufsatz den mentalen und habituellen Wandel der Arbeiterschaft nach 1945 sowie die institutionellen Konsequenzen dieses Wandels. Die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz mit dem „Arbeiterstaat“ DDR hatte dabei besondere Bedeutung. Die „nationale“ Deutschlandpolitik der DDR zerstörte einerseits ungewollt das kommunistische Betriebsmilieu und förderte den Niedergang direkten, autonomen Betriebshandelns. Andererseits verstärkte die kommunistische Herausforderung Bemühungen um eine positive Einbindung der Arbeiterschaft durch Gewerkschaften, Industrie und Staat. Angesichts einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber der politischen Reife der Arbeiter und in Abwehr der SED-Politik erneuerte sich die gewerkschaftliche Arbeit; sie verstand sich zunehmend als institutionalisierte Konfliktbewältigung durch professionelle Verbändepolitik. Infolgedessen waren die westdeutschen Gewerkschaften nicht länger Weltanschauungsgemeinschaften.
Der Beitrag verfolgt die Karriere eines Bildes der amerikanischen Fotografin Dorothea Lange, das im März 1936 als Presseaufnahme in Umlauf kam und in der Folge unter dem Titel „Migrant Mother“ zu einer Ikone der Großen Depression in den USA wurde. Das Foto wird hier erstmals im Zusammenhang der gesamten Serie von sieben Aufnahmen analysiert, der es entnommen ist. Ausgehend vom politisch-sozialen Kontext des New Deal leistet der Autor eine ikonographische Analyse; er arbeitet die semantischen Überschreibungen und Adaptionen des Bildes im Verlauf seiner Rezeptionsgeschichte heraus und ordnet das Foto schließlich vier verschiedenen Diskursen zu, die die Semantik der „Migrant Mother“ maßgeblich bestimmt haben. Die historische Bedeutung von Dokumentarfotografie erweist sich dabei im Wesentlichen als eine Funktion der sozialen und diskursiven Praxis ihrer Verwendung.
Die Geschichte der „Chinesenviertel“ und chinesischer Migranten in europäischen Metropolen demonstriert, wie „Fremde“ zur Gefahr für die nationale Arbeit und für die Großstädte stilisiert wurden; sie zeigt aber auch, wie Migranten wirtschaftliche Nischen besetzen und schließlich als kulturelle Bereicherung akzeptiert werden konnten. In Hamburg präfigurierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein ausgeprägter Hygiene-Diskurs die vehemente Ablehnung, während sich die Behörden in Rotterdam anfangs indifferent verhielten und die dortige Bevölkerung in den frühen 1930er-Jahren durchaus Empathie mit arbeitslosen Chinesen zeigte. In London wiederum schlug die anfängliche Toleranz seit dem Ersten Weltkrieg in Abwehr um. Ab den 1950er- und 1960er-Jahren setzte mit dem großen Erfolg chinesischer Gastronomie eine neue Phase chinesischer Migration ein, die nun als kulinarische Bereicherung der urbanen „Konsumgesellschaft“ allgemein anerkannt wurde. Während ein kosmopolitischer Charakter von westeuropäischen Metropolen seit den 1970er-Jahren als mehr oder minder selbstverständlich gilt, ist die Geschichte chinesischer Migranten in Westeuropa ein gutes Beispiel für den langen und unebenen Weg zur multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft.
Drei Bücher haben im 20. Jahrhundert zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Bild der Deutschen über die Sowjetunion geprägt: René Fülöp-Millers „Geist und Gesicht des Bolschewismus“ aus dem Jahr 1926, Klaus Mehnerts „Der Sowjetmensch“ aus dem Jahr 1958 und Lois Fisher-Ruges „Alltag in Moskau“ aus dem Jahr 1984. Allen drei Publikationen ist gemeinsam, dass sie kaum auf die historischen Ereignisse oder das politische Tagesgeschäft zu sprechen kommen, sondern einen Einblick in die sowjetische Alltagskultur zu geben versuchen. Den Autoren der drei Bücher war von Anfang an klar, dass sie eigentlich Unmögliches vorhatten: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle Facetten einer Gegenwartskultur zu erfassen und darzustellen. Im Fall der Sowjetunion kam erschwerend dazu, dass man kaum auf verlässliche Quellen zurückgreifen konnte: Die Kultur teilte sich in einen offiziellen Betrieb und einen verbotenen Untergrund, soziologische Daten waren nicht erhältlich oder manipuliert, die Gesprächspartner mussten immer auf der Hut vor den staatlichen Überwachungsorganen sein. So blieb den Autoren nichts anderes übrig, als sich auf ihre persönliche Erfahrung zu stützen, die naturgemäß nur einen beschränkten Radius aufwies. Der Erfolg der genannten Bücher verdankte sich nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch dem Erscheinungsdatum, das jeweils eine Wendezeit markierte: Fülöp-Miller lieferte nach zehn Jahren Sowjetregime eine erste Bilanz, Mehnert dokumentierte das Ende des Stalinismus, Fisher-Ruge gab einen Einblick in die gesellschaftlichen Startbedingungen der Perestrojka.
Die Resonanz, die Johan Galtungs Begriff der „strukturellen Gewalt“ in der Literatur erzielt hat, ist bemerkenswert. Denn mit mittlerweile einigem Abstand betrachtet wird deutlich, dass in diesem Begriff von Beginn an eine nicht unerhebliche Diskrepanz existierte zwischen dem, was er in methodisch redlicher Manier für das wissenschaftliche Denken zu bewältigen versprach, und den Ansprüchen an das Verständnis nicht allein von Gewalt, sondern von Gesellschaft überhaupt, die er gleichzeitig weckte. Dabei dürfte ein Streit müßig sein, ob diese Diskrepanz im Begriff selbst angelegt war oder aber bloß das Ergebnis seiner Rezeption bzw. Interpretation darstellte. Letzteres war offenkundig der Fall, erging es dem Begriff doch so, wie es meist mit Begriffen geschieht, die viel zitiert werden und auf ganz verschiedene Phänomene Anwendung finden - bei der „strukturellen Gewalt“ bis hin zur Analyse grammatikalischer Muster als Medium von Herrschaft. In der Regel werden solche Begriffe vage, sie verlieren an Präzision. Doch lag das Problem nicht nur in der Rezeption des Begriffs begründet. Vielmehr war die Definition des Begriffs selbst von Anfang an unscharf und gab zu Missverständnissen Anlass. Die Anforderungen an einen wissenschaftlichen Begriff, klar und eindeutig zu sein, erfüllte dieser Begriff nicht. So war seine Karriere wohl auch dem Umstand zu verdanken, dass er in der politischen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit, teils Zuspruch fand.
Der Begriff »Diversität« hat in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Verbreitung erfahren. Traditionell bezeichnete das Wort nur einen Zustand der Verschiedenheit; in der Gegenwart erscheint es in vielen Kontexten, um dessen Gegenteil zu erreichen: Das Wort meint Verschiedenheit und zielt auf Gleichheit. Schulen und Universitäten regeln Chancengleichheit im Namen von Diversität, Unternehmen formen eine heterogene Belegschaft mittels eines »Diversitätsmanagements«, und Migrationsbewegungen haben die alte Debatte um den Multikulturalismus wieder belebt. Durch seine vielseitige Anschlussfähigkeit ist Diversität zu einem populären und meist positiv besetzten Begriff geworden, der theoretisch jedoch weithin unterbestimmt blieb. Seine Paradoxie besteht in der Kollektivierung von Individuen zu homogenen Gruppen bei gleichzeitiger Pluralisierung dieser Gruppen zu nebeneinanderstehenden Einheiten – ausdrücklich ohne eine umfassende Universalisierung anzustreben.
Wie lässt sich soziale Ungleichheit in staatssozialistischen Gesellschaften konzeptionell fassen? Der Beitrag stützt sich auf neuere Ungleichheitskonzepte der Soziologie und führt die Debatte um das Verhältnis von Sozial- und Geschichtswissenschaften fort – im Hinblick auf aktuelle Fragen einer Gesellschaftsgeschichte der kommunistischen Diktaturen. Diskutiert werden die gewollten und ungewollten Verteilungen sozialer Vor- und Nachteile, die innergesellschaftlichen Diskurse über „Privilegien“ und „arbeiterlichen Egalitarismus“ sowie die sozialen Dynamiken im Vorfeld der Systemtransformationen Ende der 1980er-Jahre. Besonders am Beispiel der DDR zeigt der Aufsatz die „intersektionale“ Verteilung von Armut und Reichtum nach Einkommen, bürokratischen Mechanismen und Effekten des „grauen“ Marktes. Eine weiterführende These lautet: Es gab einen engen Zusammenhang zwischen der sozialen Differenzierung im späten Staatssozialismus vor 1989/90 und der „Verungleichung“ danach.
Der Aufsatz geht der Frage nach, welche Formen von Armut es in der DDR in den Jahrzehnten nach dem Mauerbau gab und wie über sie kommuniziert wurde. Sozialhistorisch rekonstruiert wird die Unterversorgung zweier ausgewählter Armuts-Gruppen: Rentner und kinderreiche Familien. Auf der Basis von Akten, zeitgenössischen wissenschaftlichen Arbeiten und Medienberichten wird zudem betrachtet, welche Images von „Armut“ zirkulierten. Zwar galt Armut im Selbstverständnis des SED-Staats als überwunden. Dennoch war offenkundig, dass es soziale Ungleichheiten, ja Notlagen auch in der DDR gab, und diese fanden in der damaligen Sozialforschung ein breites Interesse. Die Einkommens- und Wohnverhältnisse von Rentnern, besonders von Rentnerinnen, waren häufig prekär, so dass viele von ihnen eine zusätzliche Arbeit aufnehmen mussten – was mit dem Bild des „rüstigen“ Alten beschönigt wurde. Bei Kinderreichen wurde differenziert zwischen den „würdigen“, „wohlorganisierten“ und den „liederlichen“, „dissozialen“ Familien. So ging es im Hinblick auf beide Gruppen nicht allein darum, ihre Armut zu lindern. Das vorrangige Ziel war vielmehr, sie mit positiven Images zu versehen und abweichendes Verhalten zu sanktionieren.
Im sozialistischen Polen war soziale Ungleichheit kaum ein Thema öffentlicher Debatten. Nach 1989 hingegen wurde sie zu einer Streitfrage, denn die Transformation erzeugte neue Formen von Armut und Reichtum bzw. machte auch ältere Formen stärker sichtbar. Hatten die Polen das politische Establishment der Volksrepublik abgewählt, weil die Regierung ihr Gleichheitsversprechen nicht hatte halten können, oder weil sie sich als unfähig erwiesen hatte, den Niedergang der Wirtschaft aufzuhalten? Meinungsumfragen, die von den 1960er-Jahren bis in die späten 1980er-Jahre durchgeführt wurden, geben darauf einige Antworten; sie werden im vorliegenden Beitrag erstmals systematisch herangezogen und quellenkritisch eingeordnet. Bis Mitte der 1980er-Jahre unterstützte ein großer Teil der Bevölkerung soziale Gleichheit und kritisierte soziale Unterschiede. Das änderte sich fundamental, als die soziale, politische und private Frustration der Bürger zusammenfiel mit einem tiefen wirtschaftlichen Niedergang. Nun wurde das bisherige System als Hindernis auf dem Weg zu radikalen marktwirtschaftlichen Reformen betrachtet. Dass mit solchen Reformen wachsende Ungleichheit verbunden sein würde, war den Befragten durchaus bewusst.
Welches Maß an Gleichheit muss eine sozialistische Gesellschaft garantieren, und wie viel Ungleichheit benötigt sie, um nicht in Stagnation zu versinken? Solche Fragen beschäftigten die sowjetischen Bürger nicht erst seit der perestrojka, aber in dieser Phase wurde der von der Kommunistischen Partei vorgegebene Diskursrahmen erweitert und schließlich gesprengt. Die Privilegien der Nomenklatura boten das Feld, auf dem über Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit gestritten wurde. Briefe von Bürgern an die Deputierten des Obersten Sowjets aus den Jahren 1989/90, die in diesem Aufsatz erstmals näher erschlossen werden, geben Einblick in unterschiedliche Positionen. Deutlich wird, dass nicht die Prinzipien der Verteilung als ungerecht galten (Leistungen für Staat und Gesellschaft als primäres Kriterium), aber ihre Ergebnisse. Ausgehend von Fragen sozialer Gerechtigkeit erweiterte sich die Debatte um Fragen politischer Gerechtigkeit; sie mündete in eine grundlegende Kritik an der Parteiherrschaft und beschleunigte den Zusammenbruch der bisherigen Ordnung.