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Der koloniale Blick auf Osteuropa. Der Auftritt von Harald Welzer als Symptom deutscher Schieflagen
(2024)
Am 8. Mai 2022 war in der Talkshow von Anne Will der Krieg Russlands gegen die Ukraine Thema. Die Gäste waren der Generalsekretär der SPD Kevin Kühnert, der ehemalige CDU-Politiker Ruprecht Polenz, der Botschafter der Ukraine in Deutschland Andrij Melnyk, die Fraktionsvorsitzende der Grünen Britta Haßelmann sowie der Soziologe/Sozialpsychologe Harald Welzer. Jede Einladungsliste einer Talkshow folgt einer bestimmten Logik: Es sollen konträre Positionen aufeinandertreffen und Repräsentant:innen aus Medien, Gesellschaft und Politik und (manchmal) der Wissenschaft vertreten sein. Auf den ersten Blick könnte man also sagen, dass diese Runde durchaus gut gewählt war mit Stimmen bei denen es absehbar war, dass die Debatte kontrovers werden würde. Tatsächlich aber war die Rollenzuweisung Welzers von vorneherein problematisch: Er ist zwar zweifelsohne ein ausgewiesener Wissenschaftler, der mit "Opa war kein Nazi" auch für die Geschichtswissenschaft ein wichtiges Buch vorgelegt hatte, Osteuropa-Expertise besitzt Welzer hingegen nicht.
Russlands Krieg gegen die Ukraine enthüllte nicht nur den imperialen Großmachtanspruch herrschender Eliten in Russland, sondern auch ein generelles kulturelles Überlegenheitsgefühl gegenüber Ukrainer:innen. Darüber hinaus beklagen immer wieder Stimmen aus Kasachstan, Georgien und Usbekistan den kolonialistischen Habitus einiger geflüchteter Russ:innen. Diese Einstellungen haben ihre Wurzeln im russländischen Imperium, denn die Revolution und Gründung der Sowjetunion brachen nur bedingt mit dem imperialen Erbe des Zarenreiches. Spätestens seit den 1930er Jahren stand, nach einigem nationalpolitischen Hin- und Her, das russische Volk auch in öffentlichen Diskursen an der Spitze der sowjetischen Völker. In einem kurzen, aber besonders repräsentativen Beispiel möchte ich zeigen, wie in der Zwischenkriegszeit diese Hierarchisierung durch öffentlich publizierte Fotografien suggestiv vermittelt wurde.
Eine aufschlussreiche Debatte um die Frage nach der Beeinträchtigung der deutschen Sprache durch die NS-Zeit fand 1963 in Walter Höllerers zwei Jahre zuvor gegründeter Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter« statt. Hier wurden drei Beiträge aus dem englischsprachigen Ausland dokumentiert, von denen George Steiners Essay »Das hohle Wunder« besonders heftige Antworten provozierte. Unser Aufsatz rekapituliert Steiners sprachkritische Intervention im Rahmen des damaligen literarischen Resonanzraums und untersucht zunächst Auffälligkeiten der unautorisierten ersten Übersetzung von Steiners Text. Im Zentrum steht dann die Kritik der um Repliken gebetenen Autorinnen und Autoren, unter denen mit Hilde Spiel, Marcel Reich-Ranicki, François Bondy und Hans Weigel mehrere jüdische Persönlichkeiten waren. Wir diskutieren, warum diese dem Befund Steiners widersprachen und ihr Vertrauen in die deutsche Sprache bekundeten. Der Aufsatz schließt mit Wolfgang Hildesheimer, dessen Blick auf das Deutsche als Tätersprache durch seine Arbeit als Übersetzer bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen geprägt war.
The Language of Eichmann in Jerusalem. Nazi German and Other Forms of German in the 1961 Trial
(2024)
The Eichmann trial granted the German language a degree of audibility unprecedented in the short history of the State of Israel, with the defendant, the judges, prosecutors, and witnesses frequently resorting to speaking in German. Drawing on archival materials, protocols, footage, and press reports, this article shows how the Eichmann trial brought to the surface several historical tensions around the postwar status of the German language. The various forms of German heard in the courtroom challenged notions of German as a Nazi language and contributed to a gradual mitigation of its status as a tainted language. The article concludes by reassessing Hannah Arendt’s 1963 Eichmann in Jerusalem and specifically her postulate that Eichmann’s language faithfully reflected his mindset. It is argued that Arendt’s understanding of Eichmann’s language echoed prewar ideas on German’s distinctive power.
In den ersten Wochen der Kanzlerschaft Hitlers begann der Dresdner Romanist Victor Klemperer in seinem Tagebuch öffentliche Sprachereignisse und eigene Spracherlebnisse festzuhalten, die anzeigen, wie schnell und konsequent sich die Nazifizierung der deutschen Gesellschaft vollzog. Radikal erfolgte die sprachliche »Annullierung einer Welt«, deren Grundbegriffe kurz zuvor noch Geltung gehabt hatten. Der aus seinem Amt verjagte Gelehrte hielt beinahe täglich Beobachtungen über die Art und Weise fest, wie die staatliche Propaganda den Alltag durchsetzte: In allen Schichten und Lebensbereichen sprachen die Menschen nun »nazistisch«, grüßten anders, unterhielten sich anders, schimpften anders – und schrieben auch eine andere Wissenschaftsprosa, wie Klemperer teils ungläubig, teils verzweifelt an den Veröffentlichungen in seinem Fach konstatieren musste. Seine Notizen zur »LTI« (»Lingua Tertii Imperii«, »Sprache des Dritten Reiches«) führte er bis Mai 1945 fort (und später auch darüber hinaus). In einem Eintrag vom April 1937 hielt Klemperer das methodologische Credo der von ihm geplanten Sprachstudie fest, wenn er mit Blick auf den öffentlich zelebrierten Bekenntnisrausch der NS-Paraden, der Parteifahnen, Lieder und Schlagworte, das lateinische Sprichwort über Wein und Wahrheit zum Motto seiner Sprachkritik abwandelte: »In lingua veritas«. Diese Sentenz bündelte die Überzeugung Klemperers, der seine Sprachbeobachtungen zeitgleich auch in einem Brief an seinen Schwager Martin Sußmann erläuterte, der sich mit seiner Familie ins schwedische Exil retten konnte: »Die Arbeit bekommt eine psychologische und eine damit zusammenhängende historische Seite. […] Es ist nämlich nur zum kleiner[e]n und oberflächlichen Teile wahr, dass die Sprache dem Menschen zum Verbergen seiner Gedanken gegeben ist, vielmehr: sie verrät ihn.«
Sprachkritik und Autobiographie. Über Victor Klemperers »LTI. Notizbuch eines Philologen« (1947)
(2024)
Victor Klemperers Schrift »LTI. Notizbuch eines Philologen« wurde bereits in der Erstauflage zu 10.000 Exemplaren gedruckt, aber sie wurde nicht gleich zu dem Erfolg, den sich ihr Autor erhofft hatte. An Silvester 1947, nachdem ihm der Verlag das Geschenk eines eigens für ihn gebundenen Exemplars des ansonsten kartonierten Werks zugeschickt hatte, notierte er bedrückt in sein Tagebuch: »In diesem schönen Band […] tritt die Jämmerlichkeit des Papiers u. des Druckes noch krasser hervor. Im übrigen ist es ganz still von der LTI. Wo sind die 10.000 Exemplare? In keiner Buchhandlung, in keiner Redaktion. Keine Zeitung hat davon Notiz genommen.« Heute ist diese früh geäußerte Enttäuschung zu einer Fußnote geworden, denn das Buch gehört längst zu den Klassikern der Sprachkritik, liegt in sechsstelliger Auflagenhöhe und in vielen Übersetzungen vor. Das Nachdenken über die linguistische Korruption der modernen öffentlich-politischen Rede wurde durch wenige Werke so sehr angeregt wie durch dieses. LTI wurde dabei einerseits als »bedeutendes zeithistorisches Dokument« für die Ära des »Dritten Reiches« betrachtet, andererseits als »Wissensspeicher« für die Analyse der Funktionsweise einer Diktatur im Allgemeinen interpretiert. Beide Lesarten finden im Buch ihre Belege. Der ironische Latinismus »LTI« (für »Lingua Tertii Imperii«, »Sprache des Dritten Reiches«) war Kommentar und Deckkürzel zugleich; er persiflierte die nazistische Sucht nach Abkürzungen; und er war auch die »Geheimformel« (S. 20) in Klemperers Tagebuch der Jahre 1933–1945, mit der er seine Sprachbeobachtungen markierte. Ob nun mit dem Akzent auf die Zeugenschaft des Autors oder mit dem Blick auf die analytischen Angebote des Buches: Es ist in keiner dieser Perspektiven eine vergessene Schrift, sondern ein kanonisch gewordenes Werk, das im doppelten Wortsinne Geschichte geschrieben hat.
Im Dezember 2020 gab der schwedische Möbelhersteller IKEA bekannt, die weltweite Distribution seines gedruckten Warenkatalogs nach 70 Jahren einzustellen. Im deutschsprachigen Feuilleton wurde diese Nachricht zum Ereignis: »Auch das noch: Den IKEA-Katalog gibt’s nur noch digital«, stellte Jens Jessen in der »ZEIT« leicht ironisch fest. Angesichts der Unsicherheiten, die von der globalen Covid-19-Pandemie ausgingen, schien im nun umso wichtiger gewordenen Bereich des Wohnens eine weitere Konstante des Alltagslebens wegzubrechen. Der ausbleibende Katalog veranlasste einige Kommentator*innen zu sehr persönlichen Formen der Anteilnahme und Abschiedsbekundung. Mitunter ließen diese, nostalgisch gefärbt, das eigene Erwachsenwerden Revue passieren – schließlich waren die IKEA-Kataloge in den Industriestaaten weltweit ein Teil davon. So erscheint der Möbelkatalog als Medium zum Träumen, als warenästhetischer Coming-of-Age-Roman, der Jugendliche im Akt des Durchblätterns von Erwachsenenleben und Unabhängigkeit fantasieren lässt; als Schwelle in eine selbstständige, bessere Zukunft: »Du warst das Fenster, das reale Einrichtungshaus die Tür.« Das IKEA-Du, das in den Katalogen und Einrichtungshäusern propagiert wird – die Bundesrepublik hat es dankend umarmt und vielfach verflucht.
Die »Wende« als Form der Kolonisierung? Zur Genese und Aktualität eines populären Deutungsschemas
(2023)
Bei der Lektüre des 2023 erschienenen Bestsellers »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« von Dirk Oschmann sowie beim Nachvollzug der bisweilen heftigen Diskussionen, die dieses Buch ausgelöst hat, bekommt man unweigerlich das Gefühl, einer Orientalismus-Debatte 2.0 beizuwohnen. Zur Erinnerung: Edward Saids 1978 publiziertes Buch »Orientalism«, in dem ausgehend von primär wissenschaftlicher Wissensproduktion die koloniale Zurichtung und Erfindung des Orients beschrieben und kritisiert wird, gilt gemeinhin als einer der Gründungstexte postkolonialer Kritik. Tatsächlich lesen sich die Ausführungen des Leipziger Literaturwissenschaftlers Oschmann stellenweise so, als ob Ostdeutschland und die Ostdeutschen einem westdeutschen Zugriff quasi hilflos ausgeliefert wären. Gerade diese Zuspitzung wurde von einigen Kommentator*innen kritisiert, ähnlich wie bei der Orientalismus-Debatte im Anschluss an Said. Überhaupt fällt auf, dass Oschmann, wenngleich er sich nicht systematisch mit postkolonialer Theorie auseinandersetzt, so etwas wie eine postkoloniale Rhetorik in Anschlag bringt. Zum Beispiel heißt es an einer Stelle, »dass die Art und Weise, was und wie über ›den Osten‹ öffentlich geredet, geschrieben und gesendet wird, in Form von konstant negativen Identitätszuschreibungen und Essentialisierungen, komplett vom ›Westen‹ beherrscht und durchherrscht ist«. Zudem fällt auf, dass zwar auch der Kolonisierungsbegriff nicht systematisch zum Einsatz kommt, gleichwohl aber der Kolonialismus als historische Referenz erwähnt wird: »Dem Osten […] ›Demokratiefeindlichkeit‹ vorzuwerfen, ist nicht nur zynisch, sondern folgt obendrein einem seit Jahrhunderten eingeführten Herrschafts- und Diskursmuster, mit dem der westliche Kolonialismus verschiedener Couleur seine Hegemonie zu begründen sucht.« Ostdeutschland also als westdeutsche Kolonie? Und postkoloniale Kritik als Analyse-Tool für postsozialistische Dynamiken?
Das Schweigen deuten. Stimm- und Wahlenthaltung als Streitgegenstand in der Schweiz (1960–1990)
(2023)
Wie gehen demokratische Gesellschaften mit einer sinkenden Stimm- und Wahlbeteiligung um? Seit den 1960er-Jahren führte dieses Phänomen in der schweizerischen Öffentlichkeit zur Diagnose eines demokratischen »Unbehagens« oder gar einer »Krankheit«. Während Nichtwähler:innen selbst in dieser Diskussion selten zur Wort kamen, drückten Politiker, Wissenschaftler und Journalisten (überwiegend Männer) mitunter Nostalgie für eine idealisierte, unmedialisierte Dorfpolitik aus. Die Einführung des Frauenstimmrechts im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre destabilisierte solche Ideale weiter, indem sie das androzentrische Staatsbürgerschaftsmodell des »Bürgersoldaten« in Frage stellte. Obschon nichtkonventionelle Partizipationsformen in dieser Zeit zunahmen, wurde die Stimm- und Wahlenthaltung zum »öffentlichen Problem«, über welches Politiker debattierten und zu dem sie wissenschaftliche Studien beauftragten. Die sich teilweise im Kreis drehende Diskussion führte zu einer Kritik der vertikalen Verhältnisse zwischen Repräsentierten und Repräsentanten – in einer demokratischen Kultur, die sich lange als horizontal stilisiert hatte. Ähnlich wie in der aktuellen, international regen Debatte über Bedrohungen der Demokratie standen die Deutungen der Stimm- und Wahlenthaltung als freie Projektionsfläche für Krisendiagnosen dabei in einem Gegensatz zur Komplexität des Phänomens als »polyphonem Schweigen«.
Wirft man einen Blick in die Aids-Plakatsammlung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden oder in die Bestände zu diesem Thema im Deutschen Plakat Museum im Museum Folkwang in Essen, so findet man etwa dies: Eine Trans-Person mit rotgeschminkten Lippen und farbenprächtig schattierten Augenlidern blickt ernst und fordernd in die Kamera. »DON’T STOP PASSION, STOP AIDS«, steht in Versalien über dem Porträt geschrieben, das eine Plakatkampagne ziert, die vom Ministerium für Gesundheit in Luxemburg 1996 in Auftrag gegeben wurde. »Strength comes from being safe«, ist auf einem anderen Plakat von 1994 aus Neuseeland zu lesen, auf dem sich zwei junge Maori sinnlich in weißen Laken räkeln. Wieder ein anderes Plakat, das 1986 von der Gesundheitsaufklärungsorganisation HERO in Baltimore herausgegeben wurde, zeigt zwei muskulöse Männer in Unterhemden, deren Körperhaltung zwischen Posing und Striptease changiert. »You won’t believe what we like to wear in bed«, ist darauf zu lesen. Die Botschaft dieser drei Plakate ist angesichts der Slogans, des konkreten Imperativs im Plakattext (»Use Condoms«) oder des logoähnlich platzierten Kondoms am unteren rechten Plakatrand unmissverständlich: »Benutzt Kondome, sie schützen vor Aids«. Damit können die Plakate als Beispiele für eine Präventionsstrategie gelesen werden, die in vielen Ländern seit Mitte der 1980er-Jahre dominierte. Das Ziel lautete, über Infektionswege aufzuklären und für ein Verhalten zu werben, das vor Ansteckung schützen sollte. Dieser Konsens, auch »liberale AIDS-Politik« genannt, setzte verstärkt auf Eigenverantwortlichkeit; der Fokus lag vor allem auf Botschaften wie safer sex und safer use.
Angesichts heutiger Debatten über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sowie über die Frage, wer in der Öffentlichkeit sicht- und hörbar werden sollte, ist »Epistemology of the Closet« brandaktuell. Immer öfter beschweren sich alte, heterosexuelle und weiße Cis-Männer darüber, dass sie angeblich nichts mehr sagen dürften. Im Zeichen einer neuen Identitätspolitik, so die Sorge, beschäftige sich eine Vielzahl kleiner Gruppen mit ihren je eigenen Anliegen, aber niemand habe mehr das große Ganze, den gesellschaftlichen Zusammenhang im Blick. Dabei geht es doch eher darum, dass die Beschwerdeführer nicht mehr so selbstherrlich wie noch vor 30 Jahren für die Allgemeinheit sprechen und die Diskurshoheit für sich beanspruchen können. Das Buch »Epistemology of the Closet« steht am Anfang dieser Entwicklung. Es handelt von der Sichtbarmachung des lange verheimlichten gleichgeschlechtlichen Begehrens und nimmt der heterosexuellen Dominanz ihre Unschuld, markiert sie als eine Struktur der Unterdrückung. Gleichzeitig enthält das Buch aber auch Zweifel an allzu festgefahrenen Vorstellungen von individueller und kollektiver Identität. Es begründet also das, was man heutzutage als Identitätspolitik bezeichnet, und unterläuft es zugleich.
Masculinity has been and continues to be of fundamental importance to Islamist movements, including the relatively distinct Turkish variety. The article offers a broad analysis of various aspects of Islamist masculinity in Turkey. It begins by examining how, from the 1950s onwards, Islamic intellectuals there conceived of a new political subjectivity based on an ideal masculinity. After a discussion of Islamist masculinity drawing on novels, manuals and other sources, the article demonstrates how everyday social practices (such as clothing and beards, or an interest in poetry) established further facets of Islamist masculinity. Turkish Islamism organised itself in the Milli Görüş movement beginning in the 1970s and rose to become a mass movement in the 1980s. Against this background, a new masculinity could be construed as a way out of the self-perceived inferiority to the West. In social practice, this masculinity was transformed by increasingly rigid rules of behaviour and the establishment of a distinct habitus of pathos and discipline, which is then analysed in conclusion.
Männlichkeit war und ist von grundlegender Bedeutung für islamistische Bewegungen, so auch für die relativ eigenständige türkische Variante. Der Aufsatz bietet eine breite Analyse verschiedener Aspekte islamistischer Männlichkeit in der Türkei. Zunächst wird untersucht, wie islamische Intellektuelle dort ab den 1950er-Jahren basierend auf einer idealen Männlichkeit eine neue politische Subjektivität konzipierten. Nach einer Auseinandersetzung mit islamistischer Männlichkeit im Diskurs anhand von Quellen wie Romanen und Ratgebern wird dargelegt, wie alltägliche gesellschaftliche Praktiken (etwa Kleidung oder Bärte, aber auch das Interesse an Poesie) weitere Facetten islamistischer Männlichkeit etablierten. Der türkische Islamismus organisierte sich seit den 1970er-Jahren in der Bewegung Milli Görüş und stieg in den 1980er-Jahren zur Massenbewegung auf. Vor diesem Hintergrund konnte eine neue Männlichkeit als Ausweg aus der selbstdiagnostizierten Unterlegenheit zum Westen konstruiert werden. In der sozialen Praxis wandelte sich diese Männlichkeit durch immer rigidere Verhaltensregeln und die Etablierung eines eigenständigen Habitus aus Pathos und Disziplin, der abschließend analysiert wird.
While British coal miners are often cast in the collective memory as traditionalists, the article reveals a more complex conception of identity. During the 1970s and 1980s, the National Union of Mineworkers (NUM) combined ideas of heroic masculinity with support for the workplace rights of women and ethnic minorities. ›Muscular masculinity‹ was used as a resource to further the opportunities of disadvantaged groups and to defend the miners’ own interests, as is demonstrated with reference to the ›Grunwick‹ dispute of 1976–78 and the great miners’ strike of 1984/85. The miners’ prioritising of muscular masculinity did not go uncontested at the time. Yet it was not until the events of 1984/85 that the NUM’s cult of masculinity came to be seen as a cause of the miners’ defeat and a problem for the British Left in general. Following a famous dictum by E.P. Thompson, the article argues that historical conceptions of masculinity should be measured by the standards of the time rather than the expectations of our present.
Im Zentrum des Beitrags steht die Sozialfigur des britischen Bergmanns in den 1970er- und 1980er-Jahren. Während der Bergarbeiter im kollektiven Gedächtnis der Gegenwart gern als traditionsverhaftet dargestellt wird, rekonstruiert der Aufsatz einen vielschichtigeren Identitätsentwurf, der eine heroisierte Form von Männlichkeit mit dem Einsatz für die Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten am Arbeitsplatz verband. »Muskuläre Männlichkeit« galt der National Union of Mineworkers als Machtressource, die sowohl zur Ausweitung der Lebenschancen anderer als auch zur Verteidigung eigener Interessen eingesetzt werden konnte, wie am Beispiel des »Grunwick«-Arbeitskampfes der Jahre 1976–1978 sowie des großen Bergarbeiterstreiks von 1984/85 dargelegt wird. Bereits zeitgenössisch blieb die gewerkschaftliche Betonung heroisierter Männlichkeit nicht unwidersprochen. Erst infolge des verlorenen Streiks 1984/85 setzte sich allerdings eine Sicht durch, die diese Form von Männlichkeit mitverantwortlich machte für das Scheitern der Gewerkschaft und die Krise der britischen Linken in den 1980er-Jahren. Im Anschluss an ein berühmtes Diktum E.P. Thompsons plädiert der Beitrag dafür, historische Männlichkeitsentwürfe stärker an den Maßstäben der Zeit als an den Erwartungen unserer Gegenwart zu messen.
Obdachlosen Männern wird aufgrund ihrer prekären Lebenssituation häufig eine »marginalisierte Männlichkeit« (Raewyn Connell) zugeschrieben. Welche Männlichkeitsformen diese soziale Gruppe von sich selbst öffentlich präsentierte, ist bisher aber noch unerforscht. Anhand des »Berber-Briefes« – einer von obdachlosen Männern selbst verfassten und vertriebenen Zeitung – und deutschen Straßenmagazinen werden Männlichkeitsentwürfe von Wohnungslosen oder ehemals Wohnungslosen analysiert. Dabei fällt auf: »Berber-Brief«-Autoren der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre präsentierten eine selbstbewusste »Protestmännlichkeit«, Straßenmagazinverkäufer der 2010er-Jahre eher eine von Dankbarkeit und Arbeitsethos geprägte »komplizenhafte Männlichkeit«. Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Die verschiedenen Medienformate, deren Professionalisierung und Kommerzialisierung waren dabei wichtig, aber auch die Bereitschaft von Obdachlosen, sich bestimmten Verhaltenserwartungen partiell anzupassen – als Folge einer Sozialpädagogisierung und Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen. Der Aufsatz trägt zu einer Geschlechter- und Zeitgeschichte der Armut bei, die auf die Betroffenen als Akteure fokussiert.
Homeless men are often ascribed a ›marginalized masculinity‹ (Raewyn Connell) due to their precarious existence, yet the forms of masculinity this social group has publicly presented to others have remained unexplored. The article analyses the masculinities of homeless or formerly homeless people on the basis of the ›Berber-Brief‹ – a newspaper written and distributed by homeless men themselves – and German street magazines. It is striking that the ›Berber-Brief‹ authors of the late 1980s and early 1990s projected a self-confident ›protest masculinity‹, while the street magazine sellers of the 2010s tended to display a ›complicit masculinity‹ characterised by gratitude and a strong work ethic. How can this shift be explained? The various media formats and their professionalisation and commercialisation were important here, as was the willingness of homeless people to partially adapt to certain behavioural expectations – as a result of a social pedagogisation and individualisation of social problems. The article contributes to a gender and contemporary history of poverty that focuses on the people affected as actors.
Wie hängen Arbeit und Geschlecht, Erfahrungen marginalisierter Männlichkeit und die Möglichkeiten des Zugangs zu (Erwerbs-)Arbeit zusammen? Dies war die Ausgangsfrage des vorliegenden Gesprächs. Ausdrücklich wollten wir dabei eine relationale Perspektive einnehmen, weil – je nach Kontext differierende – Vorstellungen und Praktiken von Männlichkeit nicht ohne Vorstellungen von Weiblichkeit zu verstehen sind und hegemoniale Männlichkeit auf marginalisierte Männlichkeiten verweist. Das Interesse am Thema erwuchs aus einem Forschungsprojekt zu »Maskulinität(en)«, das Cornelia Brink (Neuere und Neueste Geschichte, Historische Anthropologie) und Olmo Gölz (Islamwissenschaft, Iranistik) gemeinsam mit Kolleg*innen aus weiteren Disziplinen seit 2020 als Teilprojektleiter*innen im Sonderforschungsbereich 948 »Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne« an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg bearbeiten. Der Forschungsgruppe geht es darum, Heldentum und Männlichkeiten zusammenzudenken und das Heroische als – möglicherweise – zugangsregulierendes Paradigma für Positionen in Geschlechterordnungen zu problematisieren. In einer interdisziplinär besetzten Diskussionsrunde und mit dem Blick »von außen«, d.h. jenseits der Heldenforschung, sollte die Frage nach Zugang und Ausschluss, den damit verbundenen Wahrnehmungen, Handlungsoptionen und (vermeintlichen) Ansprüchen für den Zusammenhang von Männlichkeit und Arbeit erweitert werden. Neben ihrer jeweiligen fachlichen Spezialisierung aus Medizin/Psychoanalyse, Geschichte und Soziologie brachten die Beteiligten durch ihre nicht nur berufliche Sozialisation in Iran und in der Schweiz, in der (»alten« und »neuen«) Bundesrepublik und den USA sowie in der DDR und im vereinten Deutschland ganz unterschiedliche lebensgeschichtliche Zugänge ein. In einer Zeit, in der interdisziplinäre Zusammenarbeit sich als Versprechen ganz selbstverständlich in Anträgen findet, die geistes- und sozialwissenschaftliche Praxis dagegen weiter oft von wechselseitigen Abgrenzungen der einzelnen Fächer bestimmt zu sein scheint, sehen wir einen wichtigen Ertrag des Gesprächs in der Annäherung an einen gemeinsamen Problemzusammenhang aus verschiedenen fachlichen Perspektiven.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Geschlechterordnung im Umbruch. Durch die allmähliche Rückkehr der Soldaten in die zivile Gesellschaft mochte der Beginn neuer Geschlechterkonstellationen angelegt sein, doch war anfangs nicht klar zu erkennen, in welche Richtung die Entwicklung gehen würde. Die verbreitete Vorstellung einer deutschen »Stunde Null«, der die Hoffnung auf einen – von der NS-Vergangenheit und den Massenverbrechen losgelösten – Neuanfang eingeschrieben war, wurde durch die mediale Inszenierung heldenhafter »Trümmerfrauen« verstärkt. Beide Mythen halten wissenschaftlichen Analysen nicht stand. Doch verweisen sie darauf, dass nach der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches die soldatische Männlichkeit ihr Verehrungs- und Orientierungspotential verloren hatte. »Der besiegte Held hat höchstens Anspruch auf Mitleid«, hatte beispielsweise Walther von Hollander, ein sowohl im Nationalsozialismus als auch in der Bundesrepublik beliebter Schriftsteller, Journalist und Lebensberater, in der Frauenzeitschrift »Constanze« 1948 in Bezug auf die deutschen Soldaten verkündet – und »Mitleid« war sowohl während als auch nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus negativ konnotiert. Statt der männlichen Soldaten waren zudem auf einmal die sich für das Wohl der deutschen Gesellschaft einsetzenden Frauen heroisierbar – zumindest dann, wenn sie den Schutt aus dem Weg räumten, den Krieg und NS-Herrschaft hinterlassen hatten.
Magdeburg, 18. September 1985: Das neue Schuljahr in der DDR ist zwei Wochen alt, als eine junge Lehrerin für die Vertretungsstunde in der 9. Klasse eingeteilt wird. Ihren Englischunterricht kann sie nicht fortsetzen und so gibt sie den Schüler:innen spontan eine andere Aufgabe: „Schreibt doch mal auf, wie ihr euch das Leben im Jahr 2010 vorstellt!“ Im Gegensatz zum regulären Unterricht macht sie den Jugendlichen keinerlei Vorgaben, was der Text beinhalten soll, und wartet gespannt auf die Ergebnisse. Als sie die Aufsätze am Abend liest, überraschen die Zukunftsträume der Jugendlichen sie völlig. Die Schüler:innen träumen von offenen Grenzen, von schnellen Autos und dem Besitz eines Eigenheims. „Wenn das deine Parteisekretärin findet, dann ist deine Karriere ja ganz schnell vorbei!“[1], befürchtet sie und beschließt daher, die 23 Texte für sich zu behalten.
Über 30 Jahre später blicken wir nicht nur auf das Jahr 2010, sondern auch auf die untergegangene DDR zurück.
Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich
(2021)
Der Aufsatz entwickelt eine Typologie von Deindustrialisierungsregimen in globaler Perspektive und setzt diese in Beziehung zu drei verschiedenen Arten des Erinnerns an Industrialisierung und Deindustrialisierung: antagonistisches, kosmopolitisches und agonales Erinnern. In welcher Weise und in welchem Maße waren und sind nostalgische Formen des Erinnerns in den unterschiedlichen Deindustrialisierungsregimen präsent? Anknüpfend an bisherige Forschungen wird dafür plädiert, Nostalgie nicht bloß als rückwärtsgewandtes, antiquarisches Sentiment zu betrachten, sondern ihr Potential für die Konstruktion von Zukunft zu erkennen. Zugleich wird versucht, die Theorie des agonalen Erinnerns, wie sie von der Historikerin Anna Cento Bull und dem Literaturwissenschaftler Hans Lauge Hansen entwickelt wurde, für die Deindustrialisierungsforschung fruchtbar zu machen. Der Aufsatz ist ein Diskussionsangebot, wie man die Erinnerung an das Industriezeitalter für unterschiedliche Weltregionen verflechtungsgeschichtlich und vergleichend untersuchen kann – sei es in Südwales, im Ruhrgebiet oder im Osten Chinas.
Einer der kühleren Sommertage im August. Durch eine kleine Passage erreiche ich Steibs Hof, wo früher mit Pelzen gehandelt wurde und heute das N’Ostalgie-Museum Leipzig seine Ausstellung zur »Alltagskultur der DDR« präsentiert. Am Eingangstresen, der zugleich als Bar des integrierten Cafés mit dem Namen »1:33« fungiert, begrüßt mich ein Mann: »Guten Tag. Wollen Sie Ihre Erinnerung auffrischen?« Noch bevor ich mein Ticket bezahlt habe, stellt er mir den »jungen Mann« vor, der all die hier präsentierten Objekte zusammengetragen habe. Das Porträt, auf das er weist, zeigt einen älteren Herrn in der Tür eines knallroten Wartburg 311. »In liebevoller Erinnerung« steht darüber, und unter der Fotografie: »Horst Häger. Geb. 24.11.1937, gest. 12.07.2011. Gründete 1999 das N’Ostalgie-Museum und hat über die Zeit bis 2011 alle ausgestellten Exponate zusammengetragen.« Wie ich erfahre, hat eine Enkelin Hägers das Museum 2016 aus Brandenburg an der Havel nach Leipzig überführt. Mit den Worten »Damit Sie wissen, wer Sie heute Abend ins Bett geleitet« überreicht mir der Mann an der Kasse meine Eintrittskarte, auf der das Sandmännchen abgebildet ist, und entlässt mich in die kleine Ausstellung. An diesem Vormittag bin ich die erste Besucherin, doch noch während ich die Objekte im Eingangsbereich betrachte, kommen weitere Gäste. Wie ich werden sie mit der Frage begrüßt, ob sie ihre Erinnerungen »auffrischen« wollen, was jeweils kurze Irritation auslöst. Fast rechtfertigend klingen die Antworten der beiden Paare: »Wir wollen gern das Museum besuchen« und »Wir würden uns gern umschauen«.
Europa ist ein »Kontinent der Nostalgie«. So jedenfalls betitelte der Publizist Markus Somm im November 2018 einen Artikel in der »Basler Zeitung«. »Die Europäer verzweifeln an der Gegenwart. Früher war alles besser«, lautete der Untertitel. Den Aufhänger lieferte eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung unter mehr als 10.800 EU-Bürger*innen über ihr Verhältnis zur Vergangenheit und die daraus resultierenden Einstellungen zu gegenwärtigen Problemlagen. Ungeachtet dessen, dass die Fragen der Bertelsmann-Studie als suggestiv und die Ergebnisdeutungen als vereinfachend kritisiert werden können, ist bemerkenswert, welchen Widerhall diese »Nostalgie-Studie« in der deutschsprachigen Presselandschaft fand. Dabei war es nicht nur das Statement »Früher war alles besser«, das zahlreiche Tageszeitungen wiederholten, sondern auch der Verweis auf die politische Wirkungsmacht des Gefühls der Nostalgie. Die Autorinnen der Studie selbst behaupteten, Nostalgie sei »ein mächtiges Mittel der Politik«. Ob die Politik dieses Gefühl instrumentalisiert oder Nostalgie in spezifischen Kontexten per se politisch aufgeladen ist, ließen sie allerdings unbeantwortet.
Destination Vergangenheit. David Lowenthals Panorama geschichtskultureller Aneignungen (1985/2015)
(2021)
»The Past is a Foreign Country« ist ein Zentralmassiv der Heritage Studies, der Cultural and Historical Geography und der Public History. Das 1985 erschienene Buch nimmt populäre Zugänge und Formen der Bewahrung und Repräsentation der Vergangenheit in den Blick; dabei spannt es den Bogen von der Gegenwart bis zurück in die Renaissance. Lowenthal zitiert mit seinem Titel den britischen Schriftsteller Leslie Poles (L.P.) Hartley (1895–1972), der seinen Roman »The Go-Between« (1953) mit den Worten begann: »The past is a foreign country; they do things differently there.« Schon die Umschlagbilder legen eine Reise in ferne Vergangenheiten nahe und wecken zugleich den mit dem (Geschichts-)Tourismus verbundenen Exotismus, der aus dem Fremden ebenso wie aus dem Vergangenen das unberührt-unverfälscht Natürliche und Authentische macht. Die Destinationen, die Lowenthal bei seiner Reise in vergangene Geschichtskulturen aufsuchte, lagen vor allem im Vereinigten Königreich, in Nordamerika und im westlichen Europa. Das Buch durchzieht die These, dass alle populären Versuche, die Vergangenheit möglichst authentisch zu bewahren, zu rekonstruieren, darzustellen oder wahrzunehmen, auf die eine oder andere Weise zum Scheitern verurteilt sind, dass sich aber gerade aus der Formbarkeit der Vergangenheit ihre identitätsbildende Kraft erschließt.
Neuzeitliche Kunstwörter entbehren häufig der Anschaulichkeit und semantischen Eindeutigkeit. Was genau unter gegenwartsbezogenen Kreuz- und Kofferwörtern wie »Bionik«, »Glokalisierung« oder »Stagflation« zu verstehen ist, bleibt im allgemeinen Sprachgebrauch diffus, und nicht anders ergeht es fachsprachlichen Neologismen wie »Demokratur« oder »autolitär« in der Zeitgeschichte. Diese Feststellung gilt in noch höherem Maße für Wortschöpfungen an der Schwelle zur Moderne, die erst nach Auswanderung aus ihrem Fachkontext sprachliche Popularität gewannen, während ihre Ursprungsverwendung sich wieder verlor: Mit Monomanie, Neurasthenie und auch Nostalgie werden in der Medizin pathologische Phänomene im Grenzbereich von Gesundheit und Krankheit bezeichnet, die erst durch die Sprachschöpfung als Krankheit konstituiert wurden und heute als »vergängliche Krankheitskonzepte« gelten, stattdessen aber zeitweilig oder dauerhaft Eingang in die Alltagssprache fanden.
By analysing oral history interviews with industrial workers in Poland, this article adds some nuance to the study of post-industrial and post-socialist nostalgia. It presents diverse vernacular memories of the post-1989 systemic change from state socialism to neoliberal capitalism, and shows that nostalgia for an industrial ›golden age‹, although significant, is not the only way of making sense of this change. Rather, a distinctive feature of vernacular memory is the ambiguity about both socialism and capitalism. Recognising the variety of memories, the article underlines the critical potential of nostalgic currents for highlighting what is felt to be wrong with contemporary work culture. The article also differentiates between the vernacular memories of industrial communities recorded in oral history and institutionalised political memories in order to stress that the critical potential of nostalgic memories has been largely absent in the latter. In Poland, nostalgia for industrial life has been given little opportunity to become a reflective and critically useful mechanism to protect values that remain relevant in the present, such as the importance of sociability and agency in the workplace.
Beyond Nostalgia and the Prison of English. Positioning Japan in a Global History of Emotions
(2021)
This article interrogates the history of emotions at a pivotal moment in its growth as a discipline. It does so by bringing into conversation the ways in which scholars in Japan have approached ›nostalgia‹ (and emotions more broadly) as an object of study with concepts, theories, and methods prioritised by a predominantly Eurocentric field. It argues that Anglocentric notions of nostalgia as conceptual frameworks often neglect the particularisms that underlie the way that the Japanese language communicates and operationalizes cultural norms and codes of feeling. It also examines the aisthetic work of musicologist Tsugami Eisuke to help understand historical and psychological distinctions between ›nostalgia‹ and Japanese ideas of temporal ›longing‹, working towards a global history of emotions that meaningfully embraces multilateral and multi-lingual interaction. This article thus argues for a more nuanced way of discussing nostalgia cross-culturally, transcending dominant approaches in the field which are often grounded in a specifically Euro-Western experience but claim universal reach.
Mein Ziel in diesem Essay ist es, die lokale Perspektive zu nutzen, um über die Begriffe »Ostalgie« und »Nostalgie« hinauszugehen. Der genauere Blick auf lokale Räume und Praktiken bietet die Möglichkeit, Erinnerungen, die gemeinhin als Nostalgie qualifiziert werden, als Teil einer schon länger bestehenden örtlichen Erinnerungskultur zu verstehen. Wie das Beispiel des sächsischen Dorfes Neukirch zeigt – vor und nach 1989/90 –, war eine ambivalente Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes ein Mittel, um die Stärke der Gemeinschaft zu beschwören. Entgegen der in Wissenschaft und Öffentlichkeit präsenten Überzeugung erscheint Nostalgie hier nicht als eine Flucht in die Vergangenheit, sondern als ein aktives Auseinandersetzen mit der Geschichte und ihren Auswirkungen in der Gegenwart.
Die Allgegenwart der NS-Zeit in Massenmedien und Populärkultur ist heute nichts Besonderes mehr. Als jedoch seit Beginn der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik in rascher Folge viele neue Bücher, Filme und Ausstellungen über Adolf Hitler herauskamen, erschien dies vielen als suspekt, wenn nicht gar als gefährlich: Vor dem Hintergrund des sich formierenden Rechtsradikalismus beschwor die »Hitler-Welle« das Gespenst einer »Nazi-Nostalgie« herauf. Warum dieser von heute aus gesehen vielleicht befremdliche Begriff damals nahelag, demonstriert der vorliegende Aufsatz. Er trägt zu einer Historisierung des Nostalgie-Konzepts bei und akzentuiert dessen politische Aufladung. Zugleich benutzt er den Begriff und die Debatte, um die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in den 1970er-Jahren genauer zu ergründen. In der Konzentration auf Hitler und mit der Ausblendung der NS-Verbrechen als Gesellschaftsgeschichte stand die »Hitler-Welle« einerseits in der Kontinuität der 1950er-Jahre. Andererseits wies sie nach vorn, nämlich auf die in der Bundesrepublik 1979 ausgestrahlte US-Serie »Holocaust«, deren Resonanz ohne die vorangegangene »Hitler-Welle« kaum zu verstehen ist, sowie auf den »Historikerstreit« der 1980er-Jahre.
Der Bedeutungsvielfalt entsprechen unterschiedliche disziplinäre Zugriffe: Während die Soziologie und, in noch stärkerem Maße, die Psychologie der Nostalgie durchaus positive Effekte beimessen, ist sie kaum irgendwo schlechter beleumundet als in der Geschichtswissenschaft, die im Vergleich mit anderen Disziplinen bisher eher wenig Interesse an einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit der Nostalgie gezeigt hat. Indem wir in diesem Themenheft Nostalgie-Diagnosen der Vergangenheit mit Reflexionen über die Gegenwart zusammenbringen und dabei verschiedene Zugänge inner- wie außerhalb der Geschichtswissenschaft vorstellen, wollen wir zu einem differenzierteren Umgang mit kulturellen und politischen Aspekten der Nostalgie, ihrer Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt, beitragen sowie eine stärkere zeitgeschichtliche Einordnung des Phänomens anregen.
For centuries, nostalgia denoted homesickness, but current dictionary definitions indicate that these two concepts have parted ways and acquired discrete meanings. However, it is one thing to demonstrate that contemporary definitions of nostalgia and homesickness are distinct; it is another to show that the way people think about nostalgia and its characteristics corresponds to this lexicographic knowledge. In 2012, Erica G. Hepper and colleagues therefore asked laypeople to identify which features they considered most characteristic of the construct ›nostalgia‹ and found that respondents conceptualised nostalgia as a predominantly positive, social, and past-oriented emotion. In nostalgic reverie, one brings to mind a fond and personally meaningful event, often involving one’s childhood. The person tends to see the event through rose-coloured glasses and may even long to return to the past. As a result, he or she feels sentimental, typically happy but with a hint of sadness.
Nostalgie wird oft in kulturellen und, mehr noch, popkulturellen Kontexten diskutiert. Gelegentlich – und gerade in den letzten Jahren wieder – findet sich der Begriff jedoch auch in politischen Zusammenhängen. So wird er dazu verwendet, politische Entwicklungen zu erklären: etwa das britische EU-Referendum, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, das Erstarken der AfD in Deutschland oder den Aufstieg neuer Autoritarismen im östlichen Europa. Viele Beobachter*innen stellen einen in ihren Augen alarmierenden Zusammenhang zwischen Politik und Vergangenheitssehnsucht her. Aus ihrer Sicht resultieren die Effekte einer ungebremsten Globalisierung in einer gefährlichen Rückwärtsgewandtheit. Statt über sozioökonomische Konstellationen und Interessen erklären sie Politik emotional und psychologisch, wobei sie Nostalgie repathologisieren.
»In den Musennestern, wohnt die süße Krankheit Gestern« – so schreibt Uwe Tellkamp im pathossatten Roman »Der Turm«, dem literarischen Abgesang auf die DDR. Er schildert darin ein Refugiumsbürgertum, das sich gegen die Zumutungen der DDR in den Villen der Dresdner Elbhänge eingenistet hat – Zumutungen, die nun offenbar mit der DDR nicht untergegangen sind, denn seit einiger Zeit gehört Tellkamp selbst zu einem rechtsintellektuellen Milieu ostdeutscher Neodissidenten, die sich von einem wie auch immer gearteten Mainstream ausgegrenzt fühlen. Sie erinnern an die DDR, beklagen ihr geistiges Exil, und einige von ihnen tragen zur Normalisierung der extremen Rechten in Ostdeutschland bei.
Die gezeigte Szene war Teil der täglichen Sendung »Medizin nach Noten«, einem Fernsehformat, das die DDR jahrzehntelang begleitete – und bis über ihr Ende hinausreichte. Die Erstausstrahlung erfolgte zu Beginn der 1960er-Jahre, die letzte Ausstrahlung 1994. Bemerkenswert ist diese Sendung nicht nur wegen der sehr langen Laufzeit, sondern auch, weil sie besondere Einblicke in die Geschichte des Sports und gleichzeitig in diejenige des Fernsehens der DDR liefert. Der folgende Beitrag versucht zu zeigen, in welcher Weise durch die Verbindung dieser beiden Geschichten neue Perspektiven für das Konvergenz- oder auch Spannungsfeld von Gesundheit, Politik und Ökonomie hervortreten.
»Dr. Jekyll und Mr. Hyde«?. Robert Jay Liftons Psychohistorie »Ärzte im Dritten Reich« (1986/88)
(2020)
Bereits während des Zweiten Weltkrieges erstellten Psychiater im Auftrag des amerikanischen Nachrichtendienstes OSS Ferndiagnosen zu Adolf Hitlers Persönlichkeit. Mit dem Sieg über Deutschland und der Gefangennahme seiner Führungsriege eröffnete sich Medizinern nach 1945 die für sie faszinierende Möglichkeit, die Initiatoren der Judenverfolgung wie Hermann Göring aus nächster Nähe zu studieren. Im Zentrum diverser Untersuchungen im Zellentrakt des Nürnberger Justizpalasts stand dabei die Frage, ob sich die Verantwortlichen für den Tod von Millionen Menschen durch eine abnorme Psyche auszeichneten.
Vier Dekaden später erschien mit Robert Jay Liftons Monographie »The Nazi Doctors« 1986 eine international vielbeachtete Studie, die die Frage nach den mentalen Dispositionen von Ärzten, die in nationalsozialistischen Vernichtungsstätten Verbrechen begangen hatten, entschieden ins Zentrum rückte. Lifton, 1926 in New York geboren, hatte in den 1950er-Jahren als Nervenarzt für die United States Air Force in Japan und Korea gearbeitet. Seitdem widmete er sich dem Thema Genozid und studierte den Umgang von Überlebenden mit erlittenen Kriegsgräueln. Dieses Mal fokussierte Lifton allerdings auf die Gewalttäter. Dazu nutzte er Methoden der Psychohistorie, deren Möglichkeiten und Grenzen Historiker/innen in der Bundesrepublik seinerzeit kontrovers diskutierten.
»Von neuem aufgeladen«. Anzeigenwerbung für Verjüngungsmittel in Illustrierten der Weimarer Republik
(2020)
Ewige Jugend ist ein uralter Menschheitstraum. Er war schon lange zur Ware geworden, bevor Anfang der 1990er-Jahre der Ausdruck »Anti-Aging« geprägt wurde. Das macht bereits ein flüchtiger Blick in die illustrierten Magazine der Weimarer Republik deutlich. In fast jeder Ausgabe finden sich Anzeigen, mit denen für den verjüngenden Effekt eines Nahrungsergänzungsmittels oder eines Hormonpräparats, einer Schönheitsoperation oder eines Fitnessprogramms geworben wurde. Hundertfach gewähren solche Anzeigen, die unter anderem von (inter)nationalen Kosmetik- und Pharmaherstellern, Privatkliniken und Kureinrichtungen in Auftrag gegeben wurden, einen Einblick in den Verjüngungsdiskurs der 1920er- und frühen 1930er-Jahre. Zudem zeugen sie von der raschen Expansion der damaligen Verjüngungsindustrie und belegen, wie sehr diese Industrie und die Weimarer Bilderblätter, die wie »kaum ein zweites Medium [...] die Befindlichkeiten der Epoche« spiegeln, voneinander profitierten.
In den 1960er- und 1970er-Jahren führten die Satiren von Ephraim Kishon (1924–2005) die westdeutschen Bestseller-Listen an. Wie erklärt sich diese Resonanz des israelischen Autors gerade in der Bundesrepublik? Während Kishons Beliebtheit von deutschen Leser*innen (und von ihm selbst) vor allem als ironische Wendung der Geschichte bezeichnet wurde, versucht der Beitrag den publizistischen Erfolg im Kontext der frühen deutsch-israelischen Beziehungen genauer zu bestimmen, indem Akteure und Strukturen des literarischen Feldes betrachtet werden. Zum einen wird Kishons Rezeption in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund von Versöhnungsrhetoriken und Auseinandersetzungen um den jüdischen Humor interpretiert. Zum anderen beleuchtet der Beitrag die Bedeutung der beteiligten Zeitungs- und Buchverlage. Die Verlagshäuser Langen Müller (Herbert Fleissner) und Ullstein (Axel Cäsar Springer) spielten eine besondere, politisch hochgradig ambivalente Rolle. Während dieses Netzwerk Kishon vor allem als Unterhaltungsautor darstellte, äußerte er sich nach dem Sechstagekrieg 1967 immer wieder auch politisch in deutschen Medien. Kishon trug damit zu einer Politisierung bei, die bis in die Gegenwart die Rezeption israelischer Literatur in der Bundesrepublik prägt.
In den Meisternarrativen der deutschen Zeitgeschichte spielt die Jugend als Vorhut kultureller und politischer Entwicklungen eine bedeutende Rolle. Neuere Gesamtdarstellungen des 20. Jahrhunderts differenzieren jugendliche Subkulturen, Konsumgewohnheiten, Bildungswege und politische Lager ausführlich. Die historische Entwicklung wird in diesen Erzählungen vorangetrieben durch die rechtsnationalen und antisemitischen Studenten der Weimarer Zeit, die jungen Funktionäre und Soldaten des Nationalsozialismus, die sich dem Westen zuwendenden jungen »Fünfundvierziger«-Eliten der 1950er- und 1960er-Jahre sowie schließlich die revoltierenden Jugendlichen von »1968«. Oft sind solche Narrative mit einem Generationenmodell verknüpft, das in Anlehnung an Karl Mannheim die Jugend als formative Phase und treibende Kraft historischer Veränderung versteht und diese vorwiegend als männlich und intellektuell definiert. Historiker/innen definieren damit Jüngere als den geschichtlichen Akteur »Jugend« und investieren stark in die Binnendifferenzierung dieser Gruppe.
Im Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe seines Buches »Exit, Voice, and Loyalty« stellte Albert O. Hirschman, US-amerikanischer Ökonom und Entwicklungstheoretiker, seine Konzepte »Abwanderung« (exit) und »Widerspruch« (voice) in einen doppelten historischen Zusammenhang: zum einen mit »dem Schicksal der Juden, die noch nach 1939 in Deutschland waren«, zum anderen mit seiner eigenen Flucht aus Deutschland in die USA, nach der »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten. 1933, im ersten Jahr seines Studiums, verließ der 1915 geborene Hirschman (damals noch: Otto-Albert Hirschmann) Berlin und flüchtete zunächst nach Paris. 1935/36 verbrachte er ein Jahr an der London School of Economics. Nach Paris zurückgekehrt, kämpfte er 1936 für kurze Zeit im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Putschisten unter General Francisco Franco und ging dann nach Triest, wo er zwei Jahre später promoviert wurde. Aufgrund der italienischen Rasse-Gesetze reiste Hirschman 1938 wieder nach Frankreich aus. Zunächst Soldat in der französischen Armee, floh er wegen der Invasion der Wehrmacht 1940 nach Marseille, wo er für den US-Journalisten und Fluchthelfer Varian Fry arbeitete. Ende 1941 emigrierte er in die USA, bevor er 1943 als Soldat der amerikanischen Armee wieder nach Europa zurückkehrte. Nach dem Krieg arbeitete er zunächst als Ökonom im Auftrag der US-Bundesbank wie auch der Weltbank, später als Wissenschaftler an verschiedenen amerikanischen Universitäten. 2012 verstarb er im Alter von 97 Jahren.
Dass es am Ende ein melancholischer Rückblick auf ein langes Fotografenleben werden würde, war nicht abzusehen, als das Literaturhaus im vergangenen Jahr die „Blumenkinder“ des Schwabinger Fotografen Stefan Moses in den Blick genommen hatte – der nun am 3. Februar 2018 mit 89 Jahren in München verstorben ist. Leichtfüßig und sorglos hatte sich das Thema präsentiert, verspielt und träumerisch sein Blick auf die Wohngemeinschaften und alternativen Lebensentwürfe der 1960er Jahre; Motive von privater Anmutung und angetreten ohne die seinen Porträts oftmals zugeschriebene Verantwortung, staatstragende Geschichten und auf Zelluloid gebannte Aussagen von geschichtsmächtiger Bedeutung zu transportieren.
Private Alben sind für Außenstehende schwer zugänglich. Die Familie, die ihre Alben dem Museum übergab, maß ihnen gesellschaftliche Bedeutung zu. Als Fundstücke ohne Kontext stehen sie für sich allein und erscheinen zunächst hermetisch.[3] Doch bei sorgfältiger Betrachtung und Analyse lässt sich in vier Arbeitsschritten das lebensgeschichtliche Narrativ eines sowjetischen Kraftwerksingenieurs rekonstruieren. In einem ersten Schritt geben das Abgebildete und die (knappen) Beschriftungen Auskunft über örtliche und zeitliche Bezüge, materielle Kultur, Alter, Generationenzugehörigkeit und soziale Beziehungen der Menschen. In einem zweiten Schritt können die aufgerufenen Kontexte recherchiert werden – hier als Hintergrund die Ingenieure als »Klasse«, die sowjetische innere Expansion seit 1945 und die örtlichen Verhältnisse. In einem dritten Schritt werden die Fotografien und die Alben als Artefakte betrachtet. Auf die Fragen nach Entstehungszeit und Urheberschaft folgen in einem vierten Schritt Fragen nach Bedeutungen bestimmter Anordnungen und Gebrauchsspuren der Alben. So entfalten sich aus den Bildern und ihrer Komposition visuelle Narrative.
Seit einiger Zeit erfreuen sich Themen wie »Gerechtigkeit«, »Würde« oder das »richtige« Leben großer Popularität. Auch in der Geschichtswissenschaft floriert die Erforschung von Moral: »Menschenrechte«, »Transitional Justice« oder »Humanitarismus« sind als neue Themenfelder erschlossen worden. In Frankfurt am Main und Berlin beschäftigen sich größere Forschungsverbünde mit der Analyse normativer Ordnungen moderner Gesellschaften. Unter dem Schlagwort »NS-Moral« geht es um Inhalte und Geltungsmacht einer partikularen Moral des Nationalsozialismus. Zeitlich übergreifende Darstellungen zur Geschichte der »Menschheit« oder des »Westens« verfolgen selbst das Ziel, eine bestimmte (politische) Moral zu rechtfertigen.
Manche Bücher sollte man besser vom Ende her lesen, lässt sich doch so ihr archimedischer Fluchtpunkt rasch entdecken. Gewiss, für Kriminalromane empfiehlt sich eine solche Lesart nicht, wohl aber für diesen Essay-Band Hans Magnus Enzensbergers. Darin schließt der Autor seine Reiseberichte aus sieben Ländern mit einem »Epilog« ab, in dem ein fiktiver amerikanischer Journalist namens Timothy Taylor im Jahr 2006 den ebenfalls fiktiven finnischen EG-Präsidenten Erkki Rintala interviewt, der von seinem Amt freiwillig zurückgetreten ist, nachdem er wegen seiner Erfahrungen in den Korridoren der Brüsseler Politik zu einem Gegner der europäischen Integration geworden war.
While Crises are omnipresent in history and historiography, the meaning of the concept of „Crisis“ is becoming more elusive than ever. The new article by Rüdiger Graf and Konrad H. Jarausch scrutinizes how historians use the concept with respect to contemporary history, the twentieth century, and modernity in general. After briefly sketching the conceptual history of "crisis," the article addresses the questions of how the concept structures historiographical narratives, what types of crises historians distinguish, and, considering its vagueness, suggestive power, and political instrumentalization, if we should retain the concept or refrain from using it.
Zwischen 1950 und 1980 wurden Säuglinge in der Bundesrepublik zunehmend mit Flaschenmilch ernährt. Die Produktpalette war groß, und die Werbestrategien der Nahrungsmittelhersteller waren ausgeklügelt. Dies allein kann jedoch nicht der Grund für die steigende Nutzung der Säuglingsflasche gewesen sein. Sie wird hier mit einer explizit dinghistorischen Perspektive untersucht: Wie kam sie in die Familie, und wie veränderte sie die Beziehungen von Müttern, Vätern und Säuglingen? Müttern versprach die Säuglingsflasche mehr Freiheiten in der Gestaltung ihres Alltags; Vätern ermöglichte sie es, ihre Männlichkeit neu zu definieren, indem die Väter ihre Kinder selbst fütterten. Eher als in der Bundesrepublik wurde in Schweden die Versorgung von Kleinkindern diskutiert und eine stärkere Mitverantwortung der Männer für die Familie gefordert. Für beide Länder lässt sich beobachten, dass die Säuglingsflasche – zusammen mit anderen Akteuren – die Familie während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgestaltete. In beiden Ländern verlief dies durchaus kontrovers.
Die Ausgangsfrage der – hier notwendig kursorischen – Analyse des persönlichen Sachbesitzes einer Schenkerin für die Sammlung eines Museums war diejenige nach dem Quellencharakter der Dingsammlung und ihrer sozialen Dimension. Der erhebliche Umfang der Schenkung könnte, so die Hypothese, ein von den Dingen ausgehendes Bild von einem Leben in der DDR ermöglichen. In der Tat zeigen sich mehrere lebensweltliche Dimensionen, die als Sedimente nunmehr im Museumsdepot zu finden und damit der Forschung zugänglich sind: soziale Praktiken und soziale Beziehungen, Informationen zur Arbeitswelt und zur Einstellung gegenüber der DDR, dazu Fragen eines kommunikativen Gedächtnisses in Dingensembles und biographische Hinweise, die auf die historischen Kontexte eines Lebensverlaufs Bezug nehmen. Die Überlieferungsstruktur ist nach den Aufbewahrungsorten organisiert, reicht aber deutlich über eine Lebensspanne hinaus. Damit wird erkennbar, dass der historisch-analytischen Ordnung eine lebensweltliche voranging, die schließlich zur Übergabe an eine öffentliche Institution führte.
Die Apartheid-Politik, wie Premierminister Verwoerd (1958–1966) sie umsetzte, war eine Politik der autoritären Modernisierung, die die weiße Herrschaft auf Dauer sichern sollte – und aus Sicht der damaligen Akteure keineswegs rückwärtsgewandt. Die 1959 den »Homelands« in Aussicht gestellte staatliche Unabhängigkeit sollte durch Ausbürgerung der Schwarzen einen weißen Nationalstaat schaffen. Die südafrikanische Regierung interpretierte die internationale Kritik an der Apartheid im Kontext des Kalten Krieges sowie eines weltweiten Rassenkonflikts zwischen Asien und Europa, in dem sich der Westen zu nachgiebig verhalte. Verwoerds Nachfolger Vorster (1966–1978/79) wollte die außenpolitische Isolation Südafrikas durch eine Politik der Entspannung mit den afrikanischen Nachbarn durchbrechen. Nach seinem Scheitern ging Botha (ab 1978 Premierminister, seit 1984 dann Staatspräsident) zu einer aggressiven Politik der regionalen militärischen Hegemonie über. Die hohen Repressionskosten und der wirtschaftliche Niedergang trugen schließlich dazu bei, dass eine Verhandlungslösung angestrebt wurde und die Apartheid 1994 offiziell endete.
Stress ist als Begriff und Problem weit über die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte hinaus relevant; Stressdiskurse können als Sonde für breitere gesellschaftsgeschichtliche Konstellationen dienen. Eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Stress muss daher zum einen dem medizinisch-biologischen Konzept nachgehen, zum anderen dessen gesellschaftliche Funktionalität erfassen. Die Zeitgeschichte wird den Fokus besonders auf die sozioökonomischen Prozesse und die soziale Sinngebung richten. Gleichwohl gibt es ein nicht zu vernachlässigendes methodisches Grundproblem: Wie lässt sich eine Beziehung herstellen zwischen den biochemischen und psychologischen Dimensionen, die mit dem Stressbegriff verknüpft sind, sowie den komplexen sozialen Konfigurationen, die dieser Begriff rationalisieren soll? Was sind die Konstituenten und Selbstbeschreibungsmodi einer Gesellschaft, die sich durch Flexibilisierung und Regulierung gleichermaßen auszeichnet? In welchem Verhältnis stehen zudem die jüngere Entwicklung seit den 1970er-Jahren, in der Stress eine hohe Deutungsmacht erhalten hat, und die Überforderungsdiskurse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts?
»Aktiv gegen Streß« – mit dieser Schlagzeile informierte »Der Scheibenwischer«, die Werkszeitung der IG Metall für die Beschäftigten der Daimler-Benz AG und der Mercedes-Benz AG am Standort Stuttgart, im Mai 1990 über die laufenden Tarifverhandlungen. Arbeitstempo und Leistungsdruck nähmen rasant zu, diesem Trend müsse man gemeinsam entgegenwirken. Dazu habe die IG Metall für die Tarifrunde ein »Anti-Streß-Paket« geschnürt, in dessen Mittelpunkt die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche »für mehr freie Zeit und Lebensfreude« stehe. Die insgesamt acht Seiten des Hefts, das vor allem an die Angestellten in den Verwaltungszentralen des Konzerns verteilt wurde, informierten über Probleme wie Personalabbau, psychische Gründe für steigende Fehlzeiten und drohende Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen durch das von der Unternehmensberatung McKinsey eingeführte Programm zur »Optimierung der Gemeinkosten« (OGK). Hervorgehobene Kästchen definierten zentrale Begriffe der Artikel, darunter »Streß«. Mit Verweis auf das seit 1976 in vielen Auflagen erschienene Buch »Phänomen Streß« von Frederic Vester wurden in knappen Worten medizinischer Hintergrund und psychisch-soziale Folgen der modernen Industriegesellschaft für den »natürlichen Verteidigungsmechanismus des Körpers« zusammengefasst.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts verwandelte sich die arbeitsfreie Zeit in ein Produkt der Leistungsgesellschaft: Der »Kult der Effizienz« dirigiere die Freiheit unserer Freizeit, so 1972 der Zukunftsforscher Horst Opaschowski. Jede Leistung bedürfe der »Abschlaffung«, verkündete ein Jahr später der Philosoph Franz Vonessen auf einer von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung organisierten Vortragsreihe zum »Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips«; eine Ausnahme bilde nur das »ernste Spiel der Gedanken« zum reinen Selbstzweck. Das allein am Erfolg orientierte Leistungsdenken sei ein »tödlicher Scherz«. Die wahre Leistung bestehe in der Ruhe, erinnerte er an Blaise Pascals berühmtes Diktum, also in der Fähigkeit des Menschen, in seinem Zimmer zu bleiben.
Ein Denkmal in Gursuf, einem Schwarzmeerküstenort auf der Krim – man könnte es betiteln mit »Lenin spannt aus«. Statt der gewohnten Lenin-Statuen aus sowjetischer Zeit, die aufrecht stehend mit großer Geste den Weg in eine »strahlende Zukunft« (so auch ein weiterer Romantitel Sinowjews) weisen, finden wir in Gursuf einen ebenso überlebensgroßen, erhabenen Lenin vor; er sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen, fast in Urlaubshaltung auf einer Bank vor einer prunkvollen Villa, die in der UdSSR dem Sanatorium des Verteidigungsministeriums zugeordnet war. Bereits in der frühen Sowjetunion – in den 1920er-Jahren – hatte Lenin dekretiert, die Kurorte der Krim seien für die Arbeiter und Bauern zu nutzen sowie die Villen und Besitztümer der Adligen in entsprechende Sanatorien umzuwandeln. Die gesamte Schwarzmeerküste der Sowjetunion wurde als Kurregion entwickelt. So ließ Stalin einst Sotschi – 2014 die Stadt Putins subtropischer Winterolympiade – als Modell-Kurstadt und Prestigeprojekt ausbauen. Die Krim, deren Badeorte bereits auf das 19. Jahrhundert zurückgingen, und vor allem die Gegend um Jalta – auch russische Riviera genannt – wurde zur wichtigsten Erholungs- und Sanatorienregion der UdSSR.
Nach 1989 feierten Kommentatoren den finalen Triumph des kapitalistischen Marktes über seinen letzten Widersacher, den sozialistischen Plan. Aber die krisenhaften Wirtschaftsumbauten in der ehemaligen DDR und in Ost(mittel)europa standen noch bevor. Was meinten Ökonomen, Wirtschaftspolitiker oder Manager dieser Umbauprozesse eigentlich, wenn sie von Märkten sprachen? Der Beitrag richtet den Blick auf Vorstellungen im Kontext der 1990 gegründeten Treuhandanstalt und fokussiert Akteure, die in der Rückschau oft als marktgläubige »Exekutoren« des westlichen »Neoliberalismus« auf einem östlichen »Experimentierfeld« kritisiert werden. Deren Marktkonzeptionen fielen keineswegs einheitlich aus; sie konnten einen idealen Endzustand oder aber einen radikalen Prozess meinen. Auch der Glaube an die Gestaltbarkeit von Marktmechanismen erwies sich als wechselhaft. Eine Analyse zeitgenössischer Experteninterviews, die 1992/93 im Auftrag der Treuhand geführt wurden und jetzt wiederentdeckt werden konnten, offenbart schließlich ein breites Spektrum an individuellen Marktdeutungen aus der Alltagspraxis der ostdeutschen Transformation.
Stress ist ein ubiquitärer Begriff – seine geschichtswissenschaftliche Erforschung aber hat erst begonnen. Der Aufsatz skizziert programmatisch die Genese und die Funktionen des Stresskonzepts im 20. Jahrhundert. Dabei wird Stress nicht in erster Linie als Syndrom und Krisenphänomen betrachtet, sondern als Deutungs- und Handlungsangebot westlicher Gesellschaften, die sich als instabil, wandelbar, innovativ und dynamisch begreifen. Die performative Kraft des Stresses als Modus gesellschaftlicher Selbstreflexion wird in vier historisch und systematisch aufeinander bezogenen semantischen Feldern untersucht: Stress als Regulations- und Anpassungsmodell, Stress als Prinzip der Wettbewerbsgesellschaft (mit engen Beziehungen zu Arbeit, Leistung und Erfolg), Stress als Zivilisationskritik (mit der stressfreien Gesellschaft als utopischem Gegenbild) sowie Stress als flexible Ökologie von Mensch-Umwelt-Verhältnissen. Dabei handelt es sich weniger um eine chronologische Ordnung als vielmehr um Deutungsvarianten, die in unterschiedlichen Verwendungskontexten aufkamen und sich im heutigen Stressbegriff überlagern.