Krieg
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Keine Stunde Null. Sozialwissenschaftliche Expertise und die amerikanischen Lehren des Luftkrieges
(2020)
Alle Kriegsparteien bombardierten im Zweiten Weltkrieg Ziele, die lange Zeit als zivil gegolten hatten. Diese sogenannten strategischen Bombardierungen wurden im Auftrag der US-Regierung ab dem Kriegsende mit einem Stab von über 1.000 Mitarbeitern in Deutschland und Japan aufwendig evaluiert (United States Strategic Bombing Survey, USSBS). Mithilfe ambitionierter Sozialwissenschaftler gelang es der jungen US Air Force, den strategischen Luftkrieg als militärisch und psychologisch entscheidend darzustellen, und so taten sich für die Luftkriegsexperten auch nach 1945 attraktive neue Beschäftigungsfelder auf. Die Wissenschaftler argumentierten, sie seien in der Lage, methodisch abgesichert einen schnellen und vermeintlich »sauberen« Krieg aus der Luft zu planen. Der Aufsatz stellt die bisher kaum erforschten Logiken und Folgen dieser Kooperation sowie die behaupteten Lehren des Weltkrieges für den Korea- und den Vietnamkrieg dar. Damit hinterfragt er das gängige Verständnis einer radikalen Zäsur, die der erste Einsatz der Atombombe mit sich gebracht habe, und plädiert für einen neuen Blick auf die Militär-, Gewalt- und Wissensgeschichte des »Kalten Krieges«.
Der koloniale Blick auf Osteuropa. Der Auftritt von Harald Welzer als Symptom deutscher Schieflagen
(2024)
Am 8. Mai 2022 war in der Talkshow von Anne Will der Krieg Russlands gegen die Ukraine Thema. Die Gäste waren der Generalsekretär der SPD Kevin Kühnert, der ehemalige CDU-Politiker Ruprecht Polenz, der Botschafter der Ukraine in Deutschland Andrij Melnyk, die Fraktionsvorsitzende der Grünen Britta Haßelmann sowie der Soziologe/Sozialpsychologe Harald Welzer. Jede Einladungsliste einer Talkshow folgt einer bestimmten Logik: Es sollen konträre Positionen aufeinandertreffen und Repräsentant:innen aus Medien, Gesellschaft und Politik und (manchmal) der Wissenschaft vertreten sein. Auf den ersten Blick könnte man also sagen, dass diese Runde durchaus gut gewählt war mit Stimmen bei denen es absehbar war, dass die Debatte kontrovers werden würde. Tatsächlich aber war die Rollenzuweisung Welzers von vorneherein problematisch: Er ist zwar zweifelsohne ein ausgewiesener Wissenschaftler, der mit "Opa war kein Nazi" auch für die Geschichtswissenschaft ein wichtiges Buch vorgelegt hatte, Osteuropa-Expertise besitzt Welzer hingegen nicht.
Nach 1989/90 wurde kriegerische Gewalt innerhalb Europas auf neue Weise zum Thema und gerade auch für Intellektuelle zu einer unerwarteten Herausforderung. Die Diskussion unter deutschsprachigen Schriftstellern über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien war hauptsächlich eine Debatte um Peter Handke. Sie fungierte als eine Art Stellvertreterdebatte, während engagierte politische Interventionen deutscher Literaten meist ausblieben. In seinen kontroversen Texten seit 1996 versuchte Handke einen ‚dritten‘ Standpunkt jenseits der zweiwertigen Logik des politischen Diskurses in den Medien zur Geltung zu bringen. Dennoch tendierte sein ‚poetischer‘ Blick auf Serbien zunehmend zur politischen Parteinahme, wie etwa seine Annäherung an den in Den Haag angeklagten serbischen Präsidenten Miloševic zeigt. Obwohl seine Sprache eine Alternative zum ‚herrschenden‘ medialen Diskurs suchte, wurde sie wie die Figur ‚Peter Handke‘ letztlich von den Regeln der politischen Öffentlichkeit absorbiert.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist auch in Deutschland ein steigendes öffentliches und wissenschaftliches Interesse an kriegerischen Konflikten zu beobachten. War dieses Forschungsfeld lange vor allem Zeithistorikern und -historikerinnen vorbehalten, so interessieren sich zunehmend auch die Politik- und Sozialwissenschaften für das Gebiet, was sich an einer Fülle von Publikationen und Konferenzen zeigt. Besonders mit dem Erscheinen von Herfried Münklers Buch „Die neuen Kriege“ (2002) ist eine lebhafte Diskussion entbrannt. Münkler konstatiert in seinem Werk die Entstehung einer neuen Form von Kriegen: Die Kriegsakteure hielten sich nicht mehr an Regeln; die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten sei aufgehoben; und die Kriege hätten in erster Linie einen ökonomischen Hintergrund. Ob man nun von „neuen“, „asymmetrischen“, „kleinen“ oder „low-intensity-Kriegen“ sprechen will: Die AKUF distanziert sich von der Vorannahme, die aktuellen Konflikte seien eine gänzlich neue Entwicklung.
Ein Foto von der US-amerikanischen Flaggenhissung auf der japanischen Insel Iwo Jima vom Februar 1945 entwickelte sich noch während des Zweiten Weltkrieges zu einer national mobilisierenden Ikone für letzte Kriegsanstrengungen. Nach dem Krieg betonte das US Marine Corps mit diesem Foto seine Leistungen und seine Eigenständigkeit. Ein Bronzedenkmal, das 1954 am Rande von Arlington eingeweiht wurde, war gleichsam die dreidimensionale Umsetzung des Fotos und Ausdruck des Selbstbewusstseins des Marine Corps. Dieser Beitrag geht der Konkurrenz nationaler Indienstnahme und sektoraler Interessen bis in die Gegenwart nach. Aufgezeigt werden die unterschiedlichen medialen Repräsentationen der Iwo-Jima-Geste und ihre wechselnden Bedeutungen – beispielsweise die fotografische Aktualisierung im Zusammenhang des 11. September 2001. So entsteht ein Panorama der nationalen Ikonographie der USA seit dem Zweiten Weltkrieg.
Während des Zweiten Weltkrieges flüchteten etwa 150.000 Europäer vor Krieg und Besatzung nach Großbritannien. Unter ihnen waren Angehörige der vormaligen europäischen Regierungen, Verwaltungen, politischen Eliten, Militärs und Königshäuser. Aus ihren Reihen bildeten sich Nationalkomitees und Exilregierungen, die die nationale Souveränität ihrer Länder trotz deutscher Besatzung aufrechterhalten und als Alliierte für einen gemeinsamen Sieg über Hitler eintreten wollten. Im Zentrum Londons lebten und arbeiteten sie in enger Nachbarschaft. Rechtlich betrachtet erreichten die Mitglieder der Exilregierungen London meist als individuelle Flüchtlinge; sie verließen die Stadt überwiegend als Angehörige anerkannter Regierungen. Eine genauere Untersuchung des »London Moment«, dieser formativen Phase europäischer Politik, bricht den vermeintlichen Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht auf und trägt so zur Reflexion über Flucht und Flüchtende bei. Der Aufsatz erläutert die Entwicklung des rechtlichen Status der Exilanten und folgt vier Fallbeispielen von der Ankunft zur Etablierung in London.
Menschen schreiben, Menschen notieren. Papierne (heute auch digitale) Gedächtnisstützen halten fest, was sich im Kopf der oder des Schreibenden abspielt, um es für kurze oder längere Zeit zu sichern und zu übertragen. Termine, Kontakte und Adressen werden besonders oft verschriftlicht, da es sich um Informationen handelt, die präzise wiedergegeben werden müssen. Jeder einzelne Datensatz (eine Adresse, Telefonnummer, Ort und Zeit eines Treffens, Kontakte zu einer bestimmten Person) ist in sich eher trocken und schwer zu merken, die Verschriftlichung verwaltet also und assistiert unserer Erinnerung. An der Schnittstelle zwischen Alltagslogistik, Sozialleben und Erinnerung sind Adressbücher Hilfsmittel und Kulturtechnik zugleich. Das Adressbuch als Gegenstand dient im Sinne Bruno Latours der Delegation, da sein*e Benutzer*in Informationen auslagern kann. Dadurch werden Adressbücher fester Bestandteil von Netzwerken, welche ohne diese Niederschrift nicht aufrechtzuerhalten wären. Das lässt sich am Beispiel europäischer Netzwerke in London während des Zweiten Weltkrieges darlegen: anhand eines edierten »Who’s Who« und des persönlichen Adressbuches des Juristen René Cassin.
Wie aus einer anderen Ära wirken meine Aufzeichnungen und Fotos von Reisen nach Russland und Zentralasien, die ich in diesen Tagen durchgehe. Sie erinnern mich etwa an eine Konferenz der Central Eurasian Studies Society im Sommer 2016. In Kazan trafen sich im Sommer 2016 Wissenschafter:innen und Aktivist:innen aus der Russischen Föderation, Tadschikistan, Kirgistan, Usbekistan, Kasachstan, Polen und Tschechien, aus dem Iran, Indien, den USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Italien. Wir Teilnehmer:innen wurden das Gefühl nicht los, dass unsere Gespräche in englischer Sprache vor Ort kaum wahrgenommen wurden. Auch damals schon durchzog der Krieg in der Ukraine die Diskussionen. Es fühlte sich falsch an, diese Konferenz in einem Staat durchzuführen, der seit zwei Jahren einen Teil des Nachbarlandes besetzt hatte. Welches war also unsere Rolle als Wissenschaftler:innen in diesem Staat, in dem muslimische Migrant:innen aus Zentralasien wie Angehörige einer niederen Kaste behandelt wurden, dessen Einwohner:innen sich angesichts der Besetzung der Krim von einem neuen Hurrapatriotismus hatten mitreißen lassen und in dem kürzlich ein Politiker wie Boris Nemcov, der sich offen gegen die Politik Putins gewandt hatte, ermordet worden war?
Die amerikanische Aggression in Vietnam ist in Europa und Nordamerika als „der Vietnamkrieg" bekannt. Sinnvoller wäre es aber, den Konflikt im Kontext von nationalen Befreiungskriegen als „Indochinakonflikt" zu bezeichnen. Es handelte sich um mehrere Kriege, die miteinander verwoben sowie durch lokale, metropolitane und internationale Faktoren geprägt waren. Der Indochinakonflikt verdeutlicht die Handlungsautonomie von Klientelsystemen im Kalten Krieg; er verweist auf die ideologische und machtpolitische Fragmentierung des so genannten kommunistischen Blocks. Unterhalb der Ebene der globalen Auseinandersetzung war das System des Kalten Krieges multipolar konfiguriert.
Vergangene Zukunft? Der russisch-ukrainische Krieg und die Rückkehr der modernen Zeiterfahrung
(2024)
Seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine überbieten sich die Prognosen über den Anbruch einer neuen (oder alten?) Zeit der Geopolitik. Es prägen die Sorgen des „Krieges in Europa“ beziehungsweise eines „Dritten Weltkrieges“, in dem sich die Kategorien des Westens und Ostens, der Demokratie und Diktatur (wieder) feindselig gegenüberstehen.
Die Bedrohungskulisse des Krieges suggeriert die Reaktivierung einer Zukunftsperspektive, die sich als genuin modern bezeichnen lässt: erstens und ganz banal, weil sich darin die moderne Geschichte des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts zu wiederholen scheint; zweitens aufgrund der wiedergewonnenen Bedeutung des historischen Ost-West-Konfliktes, die die bereits länger diskreditierte These eines postmodernen Endes der Geschichte nach 1989 endgültig archiviert; und schließlich, weil der Krieg einen Erwartungshorizont eröffnet, dessen Gestaltung allein in den Händen der Menschen – nicht Gottes, der Viren oder des Klimas – liegt und somit eine völlig menschliche „Machbarkeit“ der eigenen Geschichte voraussetzt.
Erleben wir aber wirklich eine Rückkehr der Moderne oder wie können wir die Zeiterfahrung sonst begreifen, die durch den Diskurs über den Krieg gerade ausgelöst wird? Ich möchte hier einige Überlegungen über diese Fragen zusammentragen, die mich in den letzten Tagen und Wochen begleitet haben.
Im 20. Jahrhundert fanden es die Deutschen kaum verwunderlich, dass es wenig Zuwanderung aus den (ehemaligen) Kolonien gab. Aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft kam niemand auf die Idee, überhaupt die Frage nach (post-)kolonialer Einwanderung zu stellen. Die ausbleibende Verwunderung lässt sich durch die Selbstverständlichkeit erklären, mit der man annahm, Weiß-Sein sei eine Bedingung für Deutschsein und die deutsche Nation „kein Einwanderungsland” (Zitat Helmut Kohl, 1992). Beim Blick nach Frankreich und Großbritannien hätte man zwar ein Defizit bei der nachkolonialen Einwanderung nach Deutschland feststellen können (1974 gab es in Frankreich regulär über eine Million Menschen allein aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien). Das Gegenteil war jedoch der Fall. Man bemühte in Deutschland den Vergleich mit Frankreich und Großbritannien lediglich, um zu behaupten, dass das deutsche Kolonialreich nur kurze Zeit existierte und zeitlich zu weit zurück lag, um einen dauernden Einfluss zu hinterlassen. Kohls Zitat, das deutsche Einwanderungsbehörden schon seit 1945 zum Leitmotiv ihrer Arbeit gemacht hatten, war weniger deskriptiv als präskriptiv gemeint. Bei der Zuwanderung nach Deutschland sollte es weder einen „Kolonialbonus“ für Auswanderungswillige aus den ehemaligen Überseegebieten geben, noch kam die deutsche Regierung auf die Idee, durch Bevorzugung von Migrant:innen oder „Gastarbeiter:innen“-Rekrutierung aus den ehemaligen Kolonien Wiedergutmachungspolitik zu betreiben, wie es zum Beispiel die englische Regierung mit der Einladung an die „Windrush-Generation“ aus karibischen Ländern zwischen 1948 und 1971 getan hatte.
"Ob es dir gefällt oder nicht, da musst du durch, meine Schöne. Du musst dich fügen, anders geht es nicht", bemerkte Vladimir Putin am 7. Februar 2022 salopp in Richtung der Ukraine, als es auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Emanuel Macron um die Einhaltung der Minsker Abkommen ging. Vor dem Hintergrund des massiven russischen Truppenaufmarsches war der französische Präsident sichtlich um eine diplomatische Lösung bemüht und überging – ob aus Irritation oder aus mangelnder Verdolmetschung – die sexuelle Anspielung, mit der Putin der Ukraine unverhohlen eine Vergewaltigung androhte. Tatsächlich fiel Putin in der Vergangenheit bereits mit der Verharmlosung von sexualisierter Gewalt auf und ist berüchtigt für seine verbalen Ausfälle auch bei offiziellen Anlässen. Sein Rückgriff auf eine sexualisierte Rhetorik im Vorfeld und bisherigen Verlauf des brutalen Angriffskriegs, den die russischen Streitkräfte am 24. Februar 2022 auf seinen Befehl hin gegen die Ukraine entfesselten, ist kein Ausrutscher, sondern integraler Bestandteil seiner Vorstellungswelt und Selbstinszenierung.
Der Erste Weltkrieg ist auch ein Krieg der Bilder, genauer: ein Krieg, in dem erstmals das Medium der Fotografie massenhaft eingesetzt wurde. Schon der „begeisterte“ Abmarsch der deutschen Truppen Anfang August 1914[1] wurde in unzähligen Aufnahmen dokumentiert. Dabei war die Bildberichterstattung stark der Zensur unterworfen. Alle Kriegsparteien hatten zu Beginn oder während des Kriegs eigene Presse- oder Propagandabüros eingerichtet. Die Kriegsberichte und die Fotografien wurden extrem für propagandistische Zwecke eingesetzt; viele Bilder von der angeblichen Front waren zudem gefälscht bzw. in der Heimat nachgestellt worden. Der Krieg war also auch zu einem Medienkrieg geworden. Andererseits blieben die Kriegsaufnahmen nicht mehr auf Bildjournalisten, Fotografen und Propagandaabteilungen beschränkt. Einige Soldaten besaßen inzwischen Kleinbildkameras und dokumentierten ihre Kriegserlebnisse mit eigenen Fotoapparaten.
„Nach Weltkrieg und Holocaust scheint heute erreicht, was undenkbar war: Deutschland ist ein Musterbeispiel für eine gelungene Demokratisierung und eine Nation unter Gleichen.“1 Interessanterweise könnte dieser Satz, der ein Buch des Jahres 2004 bewirbt, nicht in Merritts Übersichtswerk zur Umfrageforschung der amerikanischen Militärregierung stehen, das doch gerade den Anfang der gelungenen Demokratisierung schilderte.
Kaum einer hat nachdrücklicher, vollmundiger und mit größerem Anspruch gegen die Katastrophe des Zeitalters der Weltkriege angeschrieben als Hans-Ulrich Wehler, der sich - paradoxerweise - bislang aber weitgehend aus der Historiographie dieser deutschen Krisenperiode herausgehalten hat. Der vierte Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ ist deshalb Prüfstein für Wehlers vorangegangene Arbeiten über das lange 19. Jahrhundert. Hier muss sich bewähren, was in jenen angelegt ist.
Das Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien 1947 zerteilte das Land nicht nur, sondern verursachte auch (jahrzehntelange) Migrationsbewegungen. In den Ostteil des neu gegründeten Pakistans migrierten urdusprachige Muslime, die der banglasprachigen Mehrheitsgesellschaft trotz gemeinsamer Religionszugehörigkeit überwiegend fremd gegenüberstanden. Als die Spannungen zwischen den ungleichen pakistanischen Landesteilen im Kampf um die Unabhängigkeit Ostpakistans eskalierten und daraus 1971 der neue Staat Bangladesch entstand, galten die Urdusprachigen als »Volksverräter« und verloren ihre Staatsbürgerschaft. Zum Teil bis heute leben sie mit ihren Nachkommen in mehr als 100 Flüchtlingscamps innerhalb des Landes. Der seit über 40 Jahren andauernde Wartezustand dieser Gruppe führt zu unterschiedlichen Strategien und Konflikten. Geschlecht, Bildung und besonders das Alter entscheiden über das Selbstverständnis der Campbewohner: Während sich die ältere Generation weiterhin für eine Repatriierung nach Pakistan einsetzt, fordern die Jüngeren verstärkt die bangladeschische Staatsbürgerschaft, die 2008 vom Obersten Gerichtshof des Landes formal anerkannt wurde. Dazwischen steht eine große Zahl Unentschlossener, die sich mit den Camps arrangiert hat. Der Aufsatz zeigt, dass weder Staatsangehörigkeit noch Staatenlosigkeit festgefügte Identitäten sind; Flüchtlingscamps sind zugleich Orte des Transits, der Vergemeinschaftung und der Stigmatisierung. Der praxeologische Ansatz des Diasporakonzepts bietet Zugang zu der perpetuierten migrantischen Situation der Urdusprachigen.
Musik begleitete die Souveränitätskämpfe und Nationsbildungsprozesse der Ukraine im 20. und 21. Jahrhundert und brachte dabei eines der zentralen Narrative der ukrainischen Geschichte zum Klingen: die Geschichte vom langen Kampf um die Unabhängigkeit. Sie erzählt von der ukrainischen Behauptung gegen die polnisch-litauische Adelsrepublik, die Habsburgermonarchie, das russische Zarenreich und die Sowjetunion. Schützen- und Rebellenlieder begleiteten die ukrainischen Befreiungskämpfe rund um den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Sie sind bis heute aktuell. Ertönten in der ersten Hälfte des Jahrhunderts patriotische Marschlieder, so änderte sich der Klang der Musik in der zweiten. Barden- und Kobsarenmusik wurden zum Ausdruck von Dissens besonders in der Sowjetukraine, als auch in der gesamten Sowjetunion. Und auch im Übergang der Ukraine vom sowjetischen zum postsozialistischen Staat war die Musik Teil der aufflammenden zivilgesellschaftlichen, kulturellen und politischen Souveränitätsbewegung. Im Vorfeld des Eurovision Song Contest, den die Ukraine wegen des Krieges in Großbritannien ausrichtet, lohnt sich ein Blick zurück auf die Verschränkung von Musik und Politik in der unabhängigen Ukraine.
Die ab 1939 verwirklichten „Großraum“-Pläne der Nationalsozialisten werden mittlerweile auch in der deutschen Zeitgeschichtsforschung als radikale Ausprägung antiliberaler Europakonzepte anerkannt.1 Diese überhaupt als eigenständige europäische Ideen innerhalb politisch konkurrierender Vorstellungen zu behandeln war noch vor zehn Jahren keineswegs gängige Forschungsmeinung. Wenig Aufmerksamkeit wird jedoch nach wie vor den Konzeptionen anderer faschistischer Regimes und Bewegungen zuteil. Diese gerieten im Zuge des Kriegsverlaufs in ein zunehmend konfliktbeladenes Verhältnis zur deutschen Hegemonialmacht, scheiterten gleichwohl weitgehend an der Realität der nationalsozialistischen Herrschaftspraktiken. So steht eine grundlegende Untersuchung der groß angelegten Neuordnungspläne des faschistischen Italiens noch aus.2 In noch stärkerem Maße trifft dies für jene Faschismen im übrigen Europa zu, welche weder vor 1939/40 noch danach unter der deutschen Besatzung die Position eigenständiger Regimes erreichten. Gerade diese Bewegungen entwickelten aber trotz ihres politisch marginalen Einflusses eine beachtliche konzeptionelle Eigenständigkeit und Vielfalt.
Das Journalisten-Netzwerk n-ost existiert seit 15 Jahren mit Sitz in Berlin-Kreuzberg und hat sich gegründet, um die deutsche und westeuropäische Berichterstattung über Osteuropa zu verbessern. Inzwischen initiiert die Medien-NGO verschiedene Projekte zu grenzübergreifenden europäischen Themen zu Auslandsberichterstattung und Medienkompetenz mit Schwerpunkt im östlichen Europa. Ganz aktuell startet gerade die monatliche Newsletter Publikation EUROPEAN IMAGES mit einem fotografischen Schwerpunkt. Der Fotograf Stefan Günther hat nach einem Design-Studium und freiberuflicher fotografischer Tätigkeit den Bildbereich von n-ost seit 2012 aufgebaut. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 verfolgt er intensiv die Bildberichterstattung dazu und steht in engem Austausch mit Fotograf:innen aus dem Kriegsgebiet. Im Gespräch mit Christine Bartlitz stellt Stefan Günther auf Visual History das Journalisten-Netzwerk n-ost vor und gibt einen Einblick in seine Arbeit und die aktuellen Entwicklungen.
Am 2. Mai 1933 wurden die schon zuvor massiven Angriffen ausgesetzten Gewerkschaften, allen Anbiederungsversuchen zum Trotz, endgültig durch das NS-Regime zerschlagen. Die gewaltsame Auflösung der Gewerkschaften war die entscheidende Voraussetzung für die Gründung der Deutschen Arbeitsfront (DAF). Am 6. Mai 1933 richtete Robert Ley einen Aufruf an die SS, die SA, die Politische Leitung der NSDAP und die NSBO, in dem er ihnen für die „mustergültige Durchführung der Aktion“ gegen die Gewerkschaften dankte und bereits als „Führer der DAF“ Unterzeichnete. Am 10. Mai wurde die neue Organisation auf dem „Ersten Kongreß der Deutschen Arbeitsfront“ förmlich ins Leben gerufen. Hitler, der die Schirmherrschaft übernommen hatte, ernannte Ley offiziell zum Chef der DAF.