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Im Jahr 2004 erschien mein Artikel „Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts”. Der folgende Beitrag enthält eine leicht gekürzte und überarbeitete Version dieses Textes, da er, wie ich meine, weiterhin einen nützlichen Einblick in das Verständnis der ungarischen Zeitgeschichte, vor allem in der Zeit zwischen 1945 und 1989, vermittelt. Zunächst werde ich aber kurz darstellen, wie sich heute, sieben Jahre nach Publikation des Artikels, die Situation der ungarischen Zeitgeschichtsforschung darstellt. Das politische und gesellschaftliche Klima haben sich seit 2004 stark verändert, was sich bereits jetzt auf die institutionellen Rahmenbedingungen für zeithistorische Forschung auswirkt.
In seinem Aufsatz weist Rafał Stobiecki auf zwei Richtungen hin, die die polnische Zeitgeschichtsschreibung nach 1989 prägten: eine stark moralisierende sowie eine methodische Fragen bewusst bagatellisierende Richtung. Dies hat eine lange Tradition: Eine Geschichtsschreibung, die sich als Vermittlung der vermeintlich wahren und objektiven Geschichte versteht, welche anhand der für sich selbst sprechenden Quellen dargestellt wird, wurde in Polen schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgreich praktiziert. Dazu kam noch das fragwürdige Ethos der Historiker als Volksgewissen und „Herzstärkung” für die Nation im besetzten Land. Ein Ethos, das sich im unhinterfragten Selbstbild der Zeithistoriker/innen als einstige Oppositionelle in der Volksrepublik Polen, in ihrem Fokus auf die Verurteilung des kommunistischen Regimes und in der oft kritiklosen Hervorhebung der entscheidenden Rolle der Opposition bis heute fortsetzt.
In allen europäischen Ländern steht die Entwicklung der Zeitgeschichtsforschung in engem Zusammenhang mit nationalen Traditionen und Traumata. In Frankreich hat sich zwischen Forschung und nationalem Selbstverständnis eine besonders enge Interdependenz herausgebildet. Ebenso wirken die spezifisch französischen institutionellen Rahmenbedingungen auf die inhaltliche und methodische Entwicklung der Wissenschaft ein.
Kehrt die Vergangenheit in der Gegenwart wieder, gewinnt sie große Kraft. Die Historikerdebatte über Polens Zeitgeschichte bestätigt diese Feststellung. Doch sei gleich vorausgeschickt, dass diese Debatte weder für die polnische noch für die allgemeine Geschichte etwas Außergewöhnliches ist. Große historische Umbrüche führen fast immer dazu, dass überkommene Interpretationen der Geschichte in Frage gestellt werden.
Ernst Fraenkels Analyse des NS-Regimes entstand in unmittelbarer, beteiligter Beobachtung. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe des „Doppelstaats” schrieb Fraenkel 1974, dass sein Buch auf Quellenmaterial beruhe, „das ich im nationalsozialistischen Berlin gesammelt habe, und auf Eindrücken, die sich mir tagtäglich aufgedrängt haben. Es ist aus dem Bedürfnis entstanden, diese Erlebnisse und Erfahrungen theoretisch zu erfassen, um mit ihnen innerlich fertig zu werden”. (...)
Wiederveröffentlichung von: Michael Wildt, Die Transformation des Ausnahmezustands. Ernst Fraenkels Analyse der NS-Herrschaft und ihre politische Aktualität, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 19-23