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Fest steht auch: Unterforscht ist die internationale Flüchtlingspolitik mitnichten. Auffällig ist aber, dass die Bedeutung des Protokolls und seiner Entstehungsgeschichte eher konstatiert als wirklich nachgewiesen wird. Die 1950er und 1970er Jahre sind Stiefkinder der Flüchtlingsforschung. Dabei fand die Globalisierung der internationalen Flüchtlingshilfe gerade in diesen beiden Dekaden statt. Ihre bis heute gültigen Grundzüge formten sich erst in diesem Zeitraum aus.
Es ist daher verkürzt, sich auf die Flüchtlingskonvention zu fokussieren und spätere Entwicklungen zu vernachlässigen: Diesem Verständnis nach leiteten nach dem Holocaust menschenrechtliche und universelle Motive die Schaffung der heutigen Strukturen. Es lohnt sich, dieses Bild zu korrigieren und die Komplexität des Entwicklungsprozesses näher zu beleuchten. Bis in die 1940er Jahre behandelte die internationale Gemeinschaft die Flüchtlingsfrage als eine Art Ausnahmezustand, als transitorisches Phänomen, überwiegend in Europa, und nicht als dauerhaftes globales Problem. Die Entwicklungen, an deren Ende eine dem Anspruch nach universelle Flüchtlingspolitik stand und die legalistisch im New York Protocol 1967 kulminierte, waren weitaus vielschichtiger.
As Hannah Arendt anticipated in 1951, refugees have become a major issue in contemporary societies. Writing just three years after the Universal Declaration of Human Rights had been adopted in 1948, Arendt argued that refugees exposed a fundamental tension between universal human rights and the sovereignty of nation-states. For Arendt, human rights were an abstraction; the only real rights were those possessed by citizens.
Die Friedliche Revolution und die folgende Systemtransformation wurden von den Ostdeutschen als tiefer biographischer Einschnitt erlebt. Weite Teile ihrer Lebenswelt veränderten sich, einstige Sicherheiten waren auf einmal nicht mehr sicher. Dieser revolutionäre Wandlungsprozess wurde ganz unterschiedlich erlebt und gedeutet. Heute prägen die damaligen Erfahrungen den Rückblick auf diese Zeit. Es besteht ein Erinnerungskonflikt zwischen einem Revolutionsgedächtnis, das die demokratischen Errungenschaften hochhält, und einem Verlustgedächtnis, das den Umbruch als Zeit der Verunsicherung und enttäuschten Erwartungen abgespeichert hat und bis heute eine skeptische Haltung zur neuen politischen Ordnung einnimmt. Eng verklammert ist die jeweilige Deutung zudem mit unterschiedlichen Geschichtsbildern von der SED-Diktatur, deren wichtigste Quelle heute die Familie ist. Schule und Gedenkstätten spielen bei der Ausprägung von Geschichtsbildern hingegen eine deutlich nachgeordnete Rolle. Auch die jeweiligen Diktaturerfahrungen prägen also die Sicht auf die Transformation.
Der Weg zur Friedlichen Revolution in der DDR bis in die ersten Jahre im vereinigten Deutschland ist einer der wichtigsten und weitreichendsten Prozesse der deutschen Zeitgeschichte. Gerade oder vielleicht, weil die Einheit heute eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint und bereits eine Generation herangewachsen ist, die nur das geeinte Deutschland erlebt hat, kommen der Forschung und der Vermittlung der Transformationsgeschichte große Bedeutung zu. Nicht zuletzt erhalten die Forschungsergebnisse zur Transformationsgeschichte auch deshalb viel Aufmerksamkeit, weil das Gefühl der Ungleichheit noch immer vorhanden ist, trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs vieler ostdeutscher Regionen. Diese Wahrnehmung ist keineswegs unberechtigt: So sind etwa Ostdeutsche in Führungspositionen von Wirtschaft und Wissenschaft weiterhin unterrepräsentiert.
Die Friedliche Revolution des Jahres 1989 rückte die Geschichte der SED-Diktatur und der deutschen Teilung auf die Agenda der bald darauf gesamtdeutschen Erinnerungskultur. Dreißig Jahre später ist die Geschichte der kommunistischen Diktatur selbstverständliches Thema von Museen und Gedenkstätten, Lehrplänen, der Belletristik und TV-Produktionen. Einschlägige Jahrestage werden gleichermaßen im Osten wie im Westen Deutschlands begangen. Wissenschaftliche Studien füllen ganze Bibliotheken. Zeitweilig hieß es sogar, die DDR sei überforscht — eine These, die mehr über den Überdruss ihrer Urhebern als über den Forschungsgegenstand aussagte. Welches Forschungspotential im Thema steckt, zeigt der 2016 erschienene Sammelband „Die DDR als Chance“ auf.
Schwarze Löcher
(2019)
Im Jahr 1993 oder 1994 zeigte mir mein Vater ein wackeliges Video. Er und seine ehemaligen Arbeitskollegen hatten gemeinsam ein Schwein aufgezogen, und nun sollte jeder seinen Anteil bekommen. Im Video sah man, wie die Sau über den Hof getrieben wird, dann bindet sie jemand am Hinterlauf fest. Das Tier wird „Wessi“ getauft. Die Männer johlen, das Bier fließt. Dann wird Wessi mit einem Bolzenschussgerät niedergestreckt, das Schwein zappelt am Boden, jemand sticht in die Halsschlagader, das Blut strömt in einen bereitgestellten Bottich. Mein Vater wirft sich auf die Sau, um sie zu fixieren. Es ist der 7. Oktober, das Datum des ehemaligen „Tags der Republik“ der DDR. Das Schwein wird mit kochendem Wasser übergossen und abgeschabt. Wessi wird zu Wurst verarbeitet.
Auch heute, knapp drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der DDR und dem Beitritt des kleineren ostdeutschen Staates zur größeren Bundesrepublik hat sich die Zeitgeschichte noch kaum mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich das, was seit 1990 auf dem Boden des nunmehr voll-souveränen Deutschlands entstand, in geschichtswissenschaftlicher Perspektive erfassen, verstehen und einordnen lässt. Für die These, dass es sich bei der nach Osten erweiterten Bundesrepublik nicht bloß um eine Fortsetzung von Altbekanntem, sondern teilweise um etwas Neues handelte, sprachen neben dem radikal gewandelten internationalen Kontext schon aus zeitgenössischer Sicht die besonderen Bedingungen des politischen Umbruchs in der spätsozialistischen DDR.
Verglichen mit den kommunistischen Nachbarstaaten waren die Umwälzungen in Ostdeutschland durch ein besonders hohes Tempo geprägt. Binnen weniger Monate kollabierte ein politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System, welches sich bis dahin – trotz vielfältiger Anpassungsschwierigkeiten und Krisenerscheinungen – durch einen bemerkenswerten Grad an Stabilität und Selbstbewusstsein ausgezeichnet hatte. Neben dem schlagartigen Zerfall des SED-Staats stellte die schnelle Übertragung des politischen und sozioökonomischen Modells der Bundesrepublik die zweite große Besonderheit dar. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird dieser Vorgang wahlweise als eine „von therapeutischen Maßnahmen bereinigte Schocktherapie“, als „natürliches Experiment“ oder als „electric chair therapy“ bezeichnet: Mit dem erklärten Ziel, innerhalb kürzester Zeit eine vollständige Angleichung an westdeutsche Produktivitäts-, Lohn-, Konsum- und Rechtsstandards zu erreichen, wurden sämtliche institutionellen Arrangements der alten Bundesrepublik in die neuen Bundesländer transplantiert. Die Geschwindigkeit, Totalität und Radikalität, in der sich diese Veränderungsprozesse vollzogen, setzten wiederum verschiedene Dynamiken in Gang, für die Jürgen Kocka seinerzeit den Begriff der „Vereinigungskrise“ geprägt hat.
Mit den kollektiven Umbruchserfahrungen nach 1989/90 gingen auch individuelle Erfahrungsumbrüche einher. DDR-spezifische Wissens-, Erfahrungs- und Erinnerungsbestände, ideologisch geprägte Geschichtsbilder und über Jahrzehnte erprobte Handlungsmuster wurden mit der Friedlichen Revolution umfassend in Frage gestellt. Die ostdeutschen Transformationsprozesse brachten zugleich ganz lebenspraktische und alltagsbezogene Herausforderungen mit sich. Sicherheiten und Gewissheiten verschwanden mit dem Ende des SED-Staates. Neue Interpretationen und neue Grenzen des Sagbaren entwickelten sich rasch. Es wurde ein Justieren der Erfahrungs-, Erinnerungs- und Wissensbestände im gesamtdeutschen Setting notwendig, bei dem auch vermeintlich ostdeutsche Identitäten (neu) verhandelt wurden. Diese Um-Deutungsprozesse gingen einerseits mit hitzigen und hoch emotional geführten gesellschaftlichen Debatten einher, andererseits mit ganz individuellen Verlusterfahrungen, mit Um- und Aufbrüchen in allen Gesellschaftsbereichen.
Im Bereich der Transformationsforschung wird bisweilen den Geschichtswissenschaften noch keine eigenständige Rolle zugedacht. So werden etwa in der Einleitung eines Handbuchs zur Transformationsforschung zwar „welthistorische“ Beispiele von gesellschaftlichen und politischen Transformationen zur, wie es heißt, „Horizonterweiterung“ dargestellt. Allerdings wird die Historiografie dort nicht zu dem breiten, von Politik- sowie Kultur- über Rechts- bis hin zu Sozial- und Wirtschaftswissenschaften reichenden Feld der mit Transformationsforschung befassten Disziplinen gezählt. Und gerade die quantifizierende Darstellung von gesellschaftlichem Wandel, also dessen eher zahlenmäßige und datenbasierte Beschreibung, wird immer noch vornehmlich als Domäne der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften betrachtet.
Den Ostdeutschen wird oft vorgehalten, dank ihrer DDR-Vergangenheit nicht in der Demokratie angekommen zu sein. Die statistischen Daten scheinen eindeutig: So bewerten die Ostdeutschen die Demokratie kritischer, Minderheiten werden weniger akzeptiert und knapp ein Fünftel der Ostdeutschen nennt, unter bestimmten Umständen, eine Diktatur als beste Staatsform. Zudem ist die Wahlbeteiligung niedriger, während rechte Parteien stärker reüssieren. Ebenso sind Ostdeutsche seltener Mitglied in Parteien oder Vereinen.
Gerade weil derartige Zahlen so eindeutig wirken, sollten wir sie auch in der künftigen zeithistorischen Erforschung kritischer diskutieren. Denn erstens fällt auf, dass andere Statistiken, die mehr Ähnlichkeiten zwischen Ost und West aufzeigen, weniger Aufmerksamkeit finden.
Die Einheit als „soziale Revolution“. Debatten über soziale Ungleichheit in den 1990er Jahren
(2019)
Die DDR-Sozialpolitik vermittelte Sicherheit und Geborgenheit, das „Recht auf Arbeit“ war verfassungsmäßig verankert – all dies besaß einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf soziale Strukturen und Wertorientierungen für die Zeit nach 1990. Diese Erfahrungen waren tiefgreifend und zentraler Vergleichsmaßstab in einer Zeit, in der individualistische Strategien der Daseinsbewältigung zunehmend wichtiger werden sollten. Mit den Unwägbarkeiten der postindustriellen Gesellschaft hingegen war die Bundesrepublik seit Mitte der 1970er durch die Erfahrung von (Massen-)Arbeitslosigkeit und den Auswirkungen des globalen Strukturwandels bereits konfrontiert. Hier wie dort existierten Ungewissheiten und soziale Unsicherheiten, die das Zustandekommen damaliger Wahrnehmungsweisen sozialer Umbrüche erklären. Dergestalt ist der damalige Umgang mit sozialer Ungleichheit ein besonders frappierendes Beispiel für die umkämpfte zeitgenössische wie nachträgliche Ausdeutung des Einigungsgeschehens, das es gilt, in seinen historischen Bedingtheiten auszuleuchten – nicht zuletzt deshalb, weil vieles von dem bis heute nachwirkt.
Selten trafen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess Ost- und Westdeutsche so unmittelbar aufeinander wie in den brandenburgischen Gutsdörfern, wo nach 1990 zurückgekehrte Adelsfamilien ein Auskommen mit der sozialistisch geprägten Dorfbevölkerung finden mussten. Beide Gruppen sind durch eine geteilte Vergangenheit bis zur Enteignung 1945 miteinander verbunden, waren aber in den folgenden vierzig Jahren voneinander getrennt. Im früheren Gutsdorf wurden wie unter einem Brennglas spezifische Probleme und Dynamiken sichtbar, die in der Transformationszeit überall im Osten Deutschlands auftraten.
Für dieses Projekt wurden 21 Interviews mit adligen Rückkehrer*innen und Dorfbewohner*innen unterschiedlicher Generationen in drei ausgewählten Dörfern geführt. Alle Personen- und Ortsnamen in dieser Studie wurden anonymisiert, um nach den Standards der Oral-History-Forschung die Persönlichkeitsrechte der Befragten zu wahren. Ergänzt wurden die mündlichen Erzählungen mit schriftlichen Überlieferungen aus brandenburgischen Kreisarchiven und dem Landesarchiv in Potsdam.
In den drei untersuchten Dörfern versuchten die westdeutschen Adelsfamilien, die nach dem Ende der DDR in das Gutsdorf ihrer Vorfahren zurückgekehrt waren, sich den Raum des früheren Gutes wieder anzueignen. Da die Enteignungen zwischen 1945 und 1989 von staatlicher Seite aus nicht rückgängig gemacht wurden, verhandelten nun Dorfbewohner und Adlige miteinander über den Verkauf, die Verpachtung und die weitere Nutzung der Immobilien des früheren Gutes. In den Erzählungen der befragten Interviewpartner*innen über die Umgestaltung der Schlösser, Gutshäuser, Kirchen, Friedhöfe, Felder und Wälder offenbarten sich die neuen sozialen Beziehungen nach dem Ende der DDR.
Die Umbrüche nach 1989 eröffneten für die niederschlesische Stadt Breslau neue Wege, mit seinem „fremden Erbe“ umzugehen. Nach über 40 Jahren politisch erzwungenen kollektiven Vergessens war das Tabu der multiethnischen und insbesondere deutschen Vergangenheit der Stadt gebrochen. Diese Stadt ist nämlich Teil des Gebietes, welches von einer massiven Zwangsmigration betroffen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als entsprechend den Bestimmungen der Potsdamer Konferenz 1945 die Grenzen europäischer Nationalstaaten neu gezogen wurden, folgte die „Umsiedlung“ von zwölf Millionen Menschen. Weite Teile multiethnischer Grenzgebiete, die für Zentral- und Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg typisch waren, sollten von da an unter dem kommunistischen Diktat, zu monoethnischen Staaten werden. Die kulturelle Vielfalt in diesem von Hannah Arendt als „belt of mixed populations“ bezeichneten Territorium war 1989 nahezu vollständig homogenisiert worden.
Nostalgische Alltagserinnerungen an die DDR standen seit den frühen1990er Jahren unter dem Verdacht der Verharmlosung der SED-Diktatur. Obwohl diese sehr einseitige Sichtweise durch die Forschung mittlerweile weitgehend entkräftet ist und ein differenzierteres Bild von Erinnerung Einzug gehalten hat, fällt noch immer eine gewisse Exotisierung ostdeutscher Erinnerungspraktiken auf. Weitet man den Blick jedoch auf nostalgische Erinnerungen in westlichen Ländern, werden trotz einiger Unterschiede Parallelen sichtbar, die auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Ost und West verweisen und Erklärungsmuster für ostdeutsche Alltagserinnerungen in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Woher eigentlich wissen Menschen, was sie fotografieren sollen, welche Bilder sie auswählen und wie Fotos in Alben eingeklebt und als individuelle Lebenserzählung gestaltet werden?
Die soziale Praxis des Sammelns von Bildern in Fotoalben folgt sowohl familiären als auch persönlichen Vorbildern und Vorlieben. Trotzdem weist ein großer Teil der mir bekannten Alben eine relativ hohe Ähnlichkeit in Struktur, Gestaltung und Inhalt auf. Es gibt also traditionelle Konventionen, die der Gestaltung eines Albums häufig zugrunde gelegt werden. Aber es gibt auch individuelle Eigenheiten innerhalb eines Albums, den Versuch, das Album zu einer geschlossenen Erzählung, häufig mit einem konkreten Anfang und einem Ende, zusammenzufügen. Diese „Handschrift“ des/der Albenautors*in bleibt auch über historische Zäsuren hinweg wie 1945 erstaunlich gleichförmig: nicht selten sitzen die gleichen Personen nur minimal verändert an der heimischen Kaffeetafel. Häufig sind die Motivationen und der Zeitpunkt ein Fotoalbum rückblickend zu erstellen der bilanzierende Abschluss einer Lebenszeit oder der Beginn einer neuen Phase, deren Bedeutung für das eigene Leben als hoch eingeschätzt wird, etwa die Militärzeit, die Hochzeit oder die eigene Familiengründung.
Im Geist der fotografischen Amateurbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehen einige private Fotograf*innen über die Produktion privater Erinnerung und persönliche Bilanzierung der sinngebenden Lebensleistung hinaus und machen das Fotografieren selbst zu ihrem leidenschaftlich ausgeübten Hobby. Diese engagierten Fotoamateur*innen setzen sich gezielt von vermeintlich unambitionierten Knipser*innen ab. Ihre Fotos haben einen halböffentlichen Charakter und erreichen ein größeres Publikum als die Familie und engste Freund*innen. Die fotografierenden Amateur*innen bemühen sich um Austausch untereinander und um Anerkennung von ästhetischer Gestaltung und technischer Beherrschung der Kamera und des fotografischen Prozesses. Einige organisieren sich in fotografischen Vereinen und Zirkeln und lesen spezielle Zeitschriften, Fach- und Ratgeberliteratur und streben nach der Optimierung ihrer Bilder.
Die Industriestadt Schlobin (Gebiet Homel) liegt im Südosten der Republik Belarus und galt im August 2020 als eine der Hochburgen der Protestbewegung gegen das Lukaschenka-Regime. Zwei der vielen Schlobinern und Schlobinerinnen, die sich gegen die Diktatur auflehnten, waren der 18-jährige Jauhen Kachanouski und der drei Jahre ältere Dzmitryj Hopta. Am 5. Februar 2021 wurden sie wegen Beteiligung an „schweren Unruhen“ und „Widerstand gegen die Miliz (Polizei)“ vom Rayongericht Schlobin zu einer Haftstrafe verurteilt: Kachanouski, der noch im August festgenommen worden war, soll dreieinhalb Jahre im Gefängnis verbringen; Hopta, der vor dem Prozess auf freiem Fuß geblieben war, zwei Jahre. Obschon Hopta milder als Kachanouski bestraft wurde, rückte vor allem der 21-jährige Schlobiner ins Blickfeld belarusischer Medien: Die in Schlobin als regimetreu und hart bekannte Richterin Iryna Pradun stellte sich auf die Seite des wenig überzeugenden Staatsanklägers Andrej Anoschka, der die drastischen Haftstrafen für die Angeklagten (dreieinhalb Jahre für Kachanouski und zweieinhalb Jahre für Hopta) gefordert hatte. Während Kachanouski seine Schuld bestritten und außerdem über polizeiliche Folter berichtet hatte, zeigte sich Hopta reumütig, wodurch seine Haftstrafe etwas verkürzt wurde. Hoptas geistige Behinderung und die Tatsache, dass sich der Beschuldigte seit Jahren in psychiatrischer Behandlung befindet, wurden hingegen außer Acht gelassen.
Ist der Fall Hopta eher ein Betriebsunfall der „übereifrigen Provinzjustiz“ oder verdeutlicht er vielmehr, dass die belarusische Diktatur in ihrer Repressionspolitik eine weitere rote Linie überschritten hat? Welche Rolle spielen Menschen mit Behinderung im Kontext der Protestbewegung? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages.
Am 9. August 2020 fanden die Präsidentschaftswahlen in Belarus statt. Erwartungsgemäß erklärte die Zentralwahlkommission den autoritären Amtsinhaber Aljaksandr Lukaschenka mit 80,1 % zum Wahlsieger. Zehntausende Menschen in der Hauptstadt Minsk und in der belarusischen Provinz gingen auf die Straßen, um gegen die offenkundige, dreiste Wahlfälschung zu protestierten. Das Regime ließ die Protestkundgebungen mit rabiater Gewalt niederschlagen und friedliche Demonstranten und Demonstrantinnen brutal misshandeln. Mindestens sieben Menschen wurden dabei getötet. Lukaschenkas Plan, die Proteste im Keim zu ersticken, ging jedoch nicht auf: Die breite Protestbewegung, welche die europäische Öffentlichkeit auf eine lange Zeit vernachlässigte „Terra incognita“ Belarus aufmerksam machte, ließ sich nicht einschüchtern, wobei zahlreiche Belarus*innen – trotz brutaler Repressionen und grassierender Pandemie – ihren Kampf gegen den verhassten Diktator fortsetzen. Warum kam es zu diesem Protestausbruch, der immer öfter als Belarusische Revolution bezeichnet wird? Welche Haltungen lassen sich in der belarusischen Gesellschaft beobachten? Welche Denkmuster sind innerhalb der politischen Elite verbreitet?
Und: Wie haben sich Sozial- und Geschichtswissenschaften in Lukaschenkas Belarus entwickelt? Was erwartet Belarus im Jahre 2021?
Über diese und weitere Fragen diskutieren der Soziologe Henadz Korshunau, die Historikerin Iryna Ramanava und der Historiker Alexander Friedman. Das Gespräch fand am 28. Dezember 2020 statt.
Ende der 1970er Jahre tauchte »Preußen« in beiden deutschen Staaten wieder auf. Die »Preußenrenaissance« wurde bislang vor allem als geschichtspolitisches und intellektuellengeschichtliches Phänomen betrachtet. Preußen wurde aber auch, das zeigt der Blick auf die formative Phase der Preußenkonjunktur um 1980, in breiten Bevölkerungsschichten populär. Der nach 1989/90 betriebene Versuch indes, Preußen zur Traditionsstiftung für das vereinigte Deutschland zu nutzen, scheiterte auf lange Sicht. Heute ist Preußen, jenseits der Hohenzollerndebatte, nurmehr punktuell im Rhythmus der Jahrestage präsent.
„Mit Angst, Hass und entgrenzter Gewalt – und nicht mit Sektflaschen begann die Deutsche Einheit für Linke, Deutsche mit Migrationshintergrund, Ausländerinnen und Ausländer in vielen ostdeutschen Städten“, kommentierte unlängst Christian Bangel den 3. Oktober 2020 in DIE ZEIT. „Das war nicht nur ein schlechter Start der Deutschen Einheit. Es war ein Fanal für die neuen Zeiten.“ Tatsächlich bekamen die rechten Gewalteskalationen im Übergang von der DDR zur vereinigten Bundesrepublik, die von körperlicher Bedrohung und Herabsetzung bis zu tödlichen Angriffen reichten – zuletzt immer mehr Aufmerksamkeit. In manchen Regionen hatte diese „Gewalt der Vereinigung“ vor allem für nicht-weiße Personen, Wohnungslose und Linke eine permanente Bedrohungslage geschaffen.
Unter #Baseballschlägerjahre forderte Bangel vorletztes Jahr dazu auf, die Erinnerungen an die Vereinigungsgewalt zu teilen. Innerhalb einer Woche sammelten sich mehrere hundert kurze Einzelberichte an; im November 2020 veröffentlichte der RBB in Kooperation mit ZEIT ONLINE daran anknüpfend zusätzlich sechs Kurzfilme, die Schlaglichter auf einzelne Orte werfen und Geschichten von Bedrohung, Terror und Angst erzählen. Es gibt aber auch einige autobiographische Romane. Jene, die zu dieser Zeit ihre Jugend in Ostdeutschland erlebten, erzählen davon, wie sie angegriffen, bedroht und zusammengeschlagen wurden: Clemens Meyer in „Als wir träumten“ (2007), Peter Richter in „89/90“ (2015), Manja Präkels in „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (2017).
Die autobiografischen Texte stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages, da sie eine neue Perspektive auf die Erfahrung der Transformationsprozesse der Vereinigung eröffnen und sich mit einem anderen Phänomen der postsozialistischen Gesellschaft in Zusammenhang bringen lassen: der Abwanderung. Die enthemmte rechte Gewalt war für die in diesem Beitrag ausgewählten Berichtenden ein wichtiger Anlass, den Osten zu verlassen.
Im 20. Jahrhundert fanden es die Deutschen kaum verwunderlich, dass es wenig Zuwanderung aus den (ehemaligen) Kolonien gab. Aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft kam niemand auf die Idee, überhaupt die Frage nach (post-)kolonialer Einwanderung zu stellen. Die ausbleibende Verwunderung lässt sich durch die Selbstverständlichkeit erklären, mit der man annahm, Weiß-Sein sei eine Bedingung für Deutschsein und die deutsche Nation „kein Einwanderungsland” (Zitat Helmut Kohl, 1992). Beim Blick nach Frankreich und Großbritannien hätte man zwar ein Defizit bei der nachkolonialen Einwanderung nach Deutschland feststellen können (1974 gab es in Frankreich regulär über eine Million Menschen allein aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien). Das Gegenteil war jedoch der Fall. Man bemühte in Deutschland den Vergleich mit Frankreich und Großbritannien lediglich, um zu behaupten, dass das deutsche Kolonialreich nur kurze Zeit existierte und zeitlich zu weit zurück lag, um einen dauernden Einfluss zu hinterlassen. Kohls Zitat, das deutsche Einwanderungsbehörden schon seit 1945 zum Leitmotiv ihrer Arbeit gemacht hatten, war weniger deskriptiv als präskriptiv gemeint. Bei der Zuwanderung nach Deutschland sollte es weder einen „Kolonialbonus“ für Auswanderungswillige aus den ehemaligen Überseegebieten geben, noch kam die deutsche Regierung auf die Idee, durch Bevorzugung von Migrant:innen oder „Gastarbeiter:innen“-Rekrutierung aus den ehemaligen Kolonien Wiedergutmachungspolitik zu betreiben, wie es zum Beispiel die englische Regierung mit der Einladung an die „Windrush-Generation“ aus karibischen Ländern zwischen 1948 und 1971 getan hatte.
Eine Mutter mit Kind. Den Blick gesenkt, hat sie ihre Aufmerksamkeit in diesem Moment ganz auf den kleinen Sohn gerichtet. Fest hält sie ihn im Arm, so als befürchte sie, dass ihr jemand ihr Ein und Alles nehmen könnte. Um sie herum verschwimmt die Welt in Dunkelheit. Es ist eine Szene voller Trauer und Hoffnung zugleich, ein würdevoller Augenblick, der in seiner Intimität fast spirituell anmutet – und das überlebensgroß. Festgehalten hat ihn der haitianisch-spanische Street-Art-Künstler Axel Void (bürgerlich: Alejandro Hugo Dorda Mevs) auf 9 mal 9 Metern Fläche einer Gebäudefassade direkt am River Irwell, der Stadtgrenze zwischen Manchester und Salford in Englands Nordwesten. Sein Werk, sagt der Künstler, sei den einfachen Leuten gewidmet, „those with nothing who gave their everything”. Gemeint seien all jene, denen (staatliches) Unrecht widerfuhr: Mutter und Kind stünden als Symbol für die Zehntausenden, „who came to St Peter’s Field that day”. Worauf sich Void dabei konkret bezieht, wird anhand eines Wortes klar, das er quer über sein Bild geschrieben hat: Peterloo.
Die Vorwürfe gegen den Kameruner und in Südafrika lebenden Historiker Achille Mbembe, er sei Antisemit, „Israel-Hasser“ und habe zudem den Holocaust relativiert, lösten eine kontroverse und verbissene Diskussion aus, die in Feuilletons, sozialen Medien, aber auch auf politischer Ebene insbesondere Mitte letzten Jahres heftig ausgetragen wurde. In diesem Zusammenhang gerieten auch die diversen heterogenen, unter dem Signet „postkoloniale Theorie“ firmierenden Ansätze unter Beschuss, für die Mbembe als wichtigster afrikanischer Repräsentant steht, obgleich er sich mehrfach von ihnen distanziert hat. So beklagte er etwa in seinem Buch „On the Postcolony“ (2000) die Gegenstandsferne postkolonialer Perspektiven auf Afrika, die komplexe Phänomene wie Staat und Macht auf Diskurse und Repräsentationsmodelle reduzieren würden.
Ab 2016 wurden in der Bundesrepublik Forderungen von Politiker:innen laut, in der Strafverfolgung erweiterte DNA-Analysen zuzulassen. Würden an einem Tatort DNA-Spuren gefunden, sollten diese nicht mehr allein genutzt werden dürfen, um zu überprüfen, ob sie mit einem Eintrag in der DNA-Datenbank des BKA übereinstimmen oder um das chromosomale Geschlecht der Person zu bestimmen. Durch das neue Verfahren sollten auch Erkenntnisse über die „biogeographische Herkunft“ und über die Augen-, Haar- und Hautfarbe der unbekannten Person (sogenannte „Phänotypisierung“) gewonnen werden können. Gegen diese Forderungen gab es erhebliche Kritik. Wissenschaftsforscher:innen und Minderheitenverbände wiesen u.a. darauf hin, dass mit dem Verfahren keineswegs individuelle äußerliche Merkmale aus der DNA direkt „abgelesen“ würden. Es handelt sich hingegen um ein statistisches Verfahren, das durch den Abgleich vorgefundenen Erbmaterials mit genetischen Datenbanken lediglich Wahrscheinlichkeiten aufstellt. Zudem ergäben sich die ermittelten Herkunftskategorien keineswegs aus genetischen Fakten, sondern seien Ergebnis historisch gewachsener gesellschaftspolitischer Konstruktionen darüber, welche Menschen eine Gruppe bilden. Eindeutige Aussagen über die „Herkunft“ einer Person oder gar über deren Aussehen ließen sich dadurch jedenfalls nur selten machen. Dennoch stimmte der Bundestag im Mai 2019 der Einführung zumindest der Phänotypisierung zu. Was diese verspricht, kommt der alten Sehnsucht entgegen, eine eindeutige Verbindung zwischen Erbgut einerseits und Aussehen und „Herkunft“ von Menschen andererseits herzustellen.
„Ach, dieses Lächeln im Krieg war erschütternder als das Weinen“, schrieb Karl Kraus in „Die letzten Tage der Menschheit“. Und das Lächeln des Wiener Henkers nach der Hinrichtung des italienischen Patrioten Cesare Battisti im Jahr 1916 ist wahrhaft erschütternd. Heiter, als wären sie beim Heurigen, posieren der Henker und seine Assistenten vor der Kamera. Erst auf den zweiten Blick erfasst das Auge den erhängten Mann in ihrer Mitte, der an dem Pfahl wie eine Gliederpuppe wirkt – als Trophäe gehalten vom stolzen Henker, der mit seinen Händen den Besitz anzeigt.
Anton Holzer hat dieses Foto für den Umschlag seines Buchs „Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung“ gewählt, das 2014 als Sonderausgabe zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs in zweiter Auflage erschienen ist. Es reiht sich in eine lange Reihe von Bildern ein, mit denen Holzer die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung im Ersten Weltkrieg im Osten dokumentiert.
„Bürger” ist ein geschichtlicher Grundbegriff, der auf die politische Verfasstheit und Teilhabe zielte und sich seit dem 18. Jahrhundert um soziale und kulturelle Dimensionen erweitert hat. Manfred Hettling untersucht in seinem Beitrag die Begrifflichkeit des „Bürgers”, die soziale Formation des „Bürgertums” sowie das eigene Kulturmodell von „Bürgerlichkeit” und stellt Ansätze, Zugriffe und Verfahren der historischen Bürgertumsforschung bis heute vor.