Historiographiegeschichte
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Ist eine Geschichte ohne Dinge vorstellbar? Wohl kaum, denn auch der reine Gedanke benötigt Dinge, will er auf Dauer festgehalten werden. Ist eine Geschichtsschreibung ohne Dinge vorstellbar? Sehr wohl, wenn wir die in Bibliotheken und auf Festplatten angesammelte Geschichtsschreibung Revue passieren lassen. Dieses Dilemma der Diskrepanz zwischen der realen Welt, ihrer Wahrnehmung und der intellektuellen Reflexion betrifft zwar nicht allein die dingliche Dimension historischer Lebenswelten, doch stellt sich die Frage nach der Einbeziehung der materiellen Kultur in die historische Forschung aus mehreren Gründen besonders deutlich.
Kein Aspekt der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine derart rasante Forschungskarriere absolviert wie das Thema „NS-Zwangsarbeit“. Ein kaum mehr überschaubarer Katalog von Veröffentlichungen legt seit den 1980er Jahren die unzähligen Einzelschichten des Themas frei, so dass unser Wissen über dieses in der Geschichte singuläre Großprojekt zur ungehemmten Abschöpfung von fremder Arbeitskraft für die eigene Kriegswirtschaft exponentiell gewachsen ist.
Seit dem Beginn der empirischen, aktengestützten NS-Forschung in Deutschland sind sechs Jahrzehnte vergangen. Das ist ein Zeitraum, der nicht nur arithmetisch zwei Generationen umspannt, denn mit ein bisschen Generosität und, zugegeben, ein wenig Bereitschaft zur Vereinfachung lässt sich behaupten, dass es vor allem zwei Generationen gewesen sind, die den Kurs der Geschichtsschreibung über das »Dritte Reich« in diesen zweimal 30 Jahren bestimmt haben, und zwar in zeitweise ziemlich kontroverser Debatte: nämlich einerseits die vormaligen Flakhelfer und jungen Frontsoldaten und andererseits die dann schon bald so genannten Achtundsechziger.
Der Sachverhalt, der diesen Ausführungen1 zugrunde liegt, erscheint auf so unspektakuläre Weise evident, wie es der Ablauf von Zeit nun einmal ist, und im Grunde könnte man ihn in dem Satz zusammenfassen: Die Zeitgenossen der NS-Zeit sterben aus. Natürlich trifft dieser Satz nicht erst heute zu, ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des »Dritten Reiches«, doch er gewinnt nun forciert an Bedeutung. Eindringlich zeigte das im Herbst 1995 eine großangelegte Historikerkonferenz in Weimar, die den Forschungsstand zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager zu bilanzieren suchte: Zur Eröffnung wollte dort Hermann Langbein über das Verhältnis zwischen Zeitzeugen, und Zeithistorikern sprechen - eine Beziehung, die er selbst jahrzehntelang wohl insgesamt als fruchtbar, nicht selten allerdings auch als spannungsvoll erlebt hatte. Der Plan blieb leider unausgeführt, denn wenige Wochen vor dem Treffen starb Langbein 83jährig in Wien.