Historiographiegeschichte
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Seit einigen Jahren verdichtet sich auch in Deutschland das Gespräch über Herausforderungen und Perspektiven des digitalen Zeitalters für die Geschichtswissenschaft. Auf jedem Historikertag seit 2010 gab es mehrere Sektionen, die sich unterschiedlichen Facetten des Themas zuwandten. Es entstehen Fachpublikationen, Überblickswerke, Dissertationen und erste Ansätze, das Feld institutionell neu zu gestalten. Die Geschichtswissenschaft bemüht sich, produktiv auf die Veränderungen einzugehen. Punktuell ist es auch bereits zu einem Dialog mit Archiven und der Archivwissenschaft gekommen. So hat der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) 2015 unter Federführung der Vorsitzenden Eva Schlotheuber und Frank Bösch ein Grundsatzpapier verabschiedet, das sich der Quellenkritik im digitalen Zeitalter annimmt. Die Forderung, Elemente der Digital Humanities in die Historischen Grundwissenschaften zu integrieren, wurde seitdem noch weiter unterstrichen.
»[…] wenn ›die Quelle‹ die Reliquie historischen Arbeitens ist – nicht nur Überbleibsel, sondern auch Objekt wissenschaftlicher Verehrung –, dann wäre analog ›das Archiv‹ die Kirche der Geschichtswissenschaft, in der die heiligen Handlungen des Suchens, Findens, Entdeckens und Erforschens vollzogen werden.« Achim Landwehr wirft in seinem geschichtstheoretischen Essay den Historikern ihren »Quellenglauben« vor – diese Kritik ließe sich im digitalen Zeitalter leicht auf die Heilsversprechen der Apostel der »Big Data Revolution« übertragen. Zwar regen sich mittlerweile vermehrt Stimmen, die den »Wahnwitz« der digitalen Utopie in Frage stellen, doch wird der öffentliche Diskurs weiterhin von jener Revolutionsrhetorik dominiert, die standardmäßig als Begleitmusik neuer Technologien ertönt. Statt in der intellektuell wenig fruchtbaren Dichotomie von Gegnern und Befürwortern, »First Movers« und Ignoranten zu verharren, welche die Landschaft der »Digital Humanities« ein wenig überspitzt auch heute noch kennzeichnet, ist das Ziel dieses Beitrages eine praxeologische Reflexion, die den Einfluss von digitalen Infrastrukturen, digitalen Werkzeugen und digitalen »Quellen« auf die Praxis historischen Arbeitens zeigen möchte. Ausgehend von der These, dass ebenjene digitalen Infrastrukturen, Werkzeuge und »Quellen« heute einen zentralen Einfluss darauf haben, wie wir Geschichte denken, erforschen und erzählen, plädiert der Beitrag für ein »Update« der klassischen Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft. Die kritische Reflexion über die konstitutive Rolle des Digitalen in der Konstruktion und Vermittlung historischen Wissens ist nicht nur eine Frage epistemologischer Dringlichkeit, sondern zentraler Bestandteil der Selbstverständigung eines Faches, dessen Anspruch als Wissenschaft sich auf die Methoden der Quellenkritik gründet.
Für dieses Buch muss man sich etwas Zeit nehmen. Ich hatte die gut 700 Seiten umfassende amerikanische Originalausgabe von »Mechanization Takes Command« (den Titel kürzte Giedion in seinen Notizen mit dem Akronym »M.T.C.« ab) im Sommer 2017 im Amtrak California Zephyr auf meiner Reise von Greenriver, UT, nach Chicago, IL, im Gepäck. Diese Reise bot aktualisiertes Anschauungsmaterial zu Giedions Sondierungen der US-amerikanischen Industrialisierungsgeschichte. Sie folgte jener Eisenbahnlinie, welche Kalifornien (wo die Frontier-Gesellschaft Amerikas im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihr Ende gelangte) mit Chicago verbindet (der nach dem großen Brand von 1871 zur Industriemetropole avancierten Stadt am Lake Michigan). Dazwischen öffnete sich der Midwest, dessen verrostete und verlassene industrielle Infrastruktur (Bahnhöfe, Fabriken, Brücken, Städte) durch das Zugfenster ins Blickfeld geriet und somit den Endpunkt der von Giedion dokumentierten Entwicklungen brutal vor Augen führte. Die heruntergewirtschafteten Landschaften des Midwest und Giedions Streifzüge in ihre Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts flossen ineinander über. Etwa dann, wenn der Zug stillstand und mein Blick bei den Getreide-Elevatoren hängen blieb, wo sich die Eisenbahnlinien kreuzen und der Personenzug den unendlich langen Güterwagen, die von Diesellokomotiven angetrieben werden, den Vortritt lassen musste. Oder wenn ich beim mäandrierenden Durchblättern des Buches und dem Blick aus dem Zugfenster den Faden verlor und eindöste – und dann beim Eindunkeln jäh von den sleeping car attendants, welche die ausklappbaren Sitze für die Nacht mit ein paar Handgriffen zu Betten umwandelten, in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Oder im Nachfolgemodell des von George M. Pullman 1869 in seinem Patent beschriebenen Speisewagens, wo die Reisende aus Europa und Wählerinnen des amtierenden Präsidenten sich am gemeinsamen Tisch zum Verzehr von Burger, Steaks und Hot Dogs wiederfanden. Jenes Präsidenten, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Re-Industrialisierung abgehängter Regionen im einst prosperierenden Rostgürtel der USA versprach.
»Dr. Jekyll und Mr. Hyde«?. Robert Jay Liftons Psychohistorie »Ärzte im Dritten Reich« (1986/88)
(2020)
Bereits während des Zweiten Weltkrieges erstellten Psychiater im Auftrag des amerikanischen Nachrichtendienstes OSS Ferndiagnosen zu Adolf Hitlers Persönlichkeit. Mit dem Sieg über Deutschland und der Gefangennahme seiner Führungsriege eröffnete sich Medizinern nach 1945 die für sie faszinierende Möglichkeit, die Initiatoren der Judenverfolgung wie Hermann Göring aus nächster Nähe zu studieren. Im Zentrum diverser Untersuchungen im Zellentrakt des Nürnberger Justizpalasts stand dabei die Frage, ob sich die Verantwortlichen für den Tod von Millionen Menschen durch eine abnorme Psyche auszeichneten.
Vier Dekaden später erschien mit Robert Jay Liftons Monographie »The Nazi Doctors« 1986 eine international vielbeachtete Studie, die die Frage nach den mentalen Dispositionen von Ärzten, die in nationalsozialistischen Vernichtungsstätten Verbrechen begangen hatten, entschieden ins Zentrum rückte. Lifton, 1926 in New York geboren, hatte in den 1950er-Jahren als Nervenarzt für die United States Air Force in Japan und Korea gearbeitet. Seitdem widmete er sich dem Thema Genozid und studierte den Umgang von Überlebenden mit erlittenen Kriegsgräueln. Dieses Mal fokussierte Lifton allerdings auf die Gewalttäter. Dazu nutzte er Methoden der Psychohistorie, deren Möglichkeiten und Grenzen Historiker/innen in der Bundesrepublik seinerzeit kontrovers diskutierten.
Archive investieren mittlerweile sehr viel Geld in die Digitalisierung ihrer Bestände, um sie ihren NutzerInnen komfortabel online bereitzustellen. Mit dem Aufbau virtueller Lesesäle geht es nicht mehr um die schon traditionell zu nennende Form der Digitalisierung, bei der exemplarisch besondere Einzelstücke in Form einer Ausstellung online präsentiert werden, sondern es geht tatsächlich um die Bereitstellung von Archivgut zur wissenschaftlichen Auswertung im virtuellen Raum statt im analogen Lesesaal. Doch während Fördermittel in großem Stil beantragt und bewilligt sowie die technischen Rahmenbedingungen geschaffen und ausgebaut werden, finden inhaltlich-methodische Diskussionen in Deutschland bisher kaum statt. In Frankreich hingegen wird in Anlehnung an das vor 30 Jahren erschienene Buch von Arlette Farge der »Geschmack des Archivs« im digitalen Zeitalter debattiert, und in der Schweiz wird das klare Ziel verfolgt, dass der virtuelle Raum den analogen ersetzen soll. In skandinavischen Ländern ist dies sogar schon geschehen. Dabei ist es in Deutschland keine programmatische Festlegung, dass am traditionellen Lesesaal festgehalten wird, oder muss es zumindest nicht sein, weil die schiere Menge an analogem Archivgut noch für lange Zeit auch herkömmliche Lesesäle erforderlich machen wird. Umso schwieriger wird es in dieser Übergangsphase, die Konturen des virtuellen Raumes genauer zu fassen und zu klären, was eigentlich das Ziel der digitalen Bereitstellung sein soll: eine Art Add-on, ein gleichwertiges Nebeneinander oder eine neue Form der Quellennutzung?
In den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten hat sich in der deutschen Geschichtswissenschaft ein spezielles Forschungssegment herausgebildet. Begonnen 2005/06 mit einem Auftrag des Auswärtigen Amts, haben seitdem mehr als zwanzig Bundesbehörden, darunter das Justiz- und Innenministerium, der Bundesrechnungshof, das Robert Koch-Institut und selbst der Bundesnachrichtendienst Forschungsprojekte zu ihrer Geschichte gefördert. Mehr und mehr erfasst dieser Trend auch die Behörden der Länder und Kommunen sowie die Parlamente, zudem lief 2017 ein Forschungsprogramm der Bundesregierung an, in dessen Rahmen zehn Projekte mit zumeist behördenübergreifendem Querschnittcharakter finanziert werden.
›1948‹ is a key concept in Israeli identity discourse. A signifier of the violent clashes that took place at the end of the British Mandate in Palestine (between the fall of 1947 and the spring of 1949), it encompasses both the foundation of a democratic Jewish nation-state and the destruction of numerous Palestinian communities during the Israeli ›War of Independence‹ and thereafter. The Nakba, the Palestinian catastrophe, could not be overlooked by Israel’s ›generation of 1948‹ and those that succeeded it: it was present in the deserted fields and houses now occupied by Israelis, in the names of the streams, hills and roads Israelis now visited during military drills or school field trips, and in the frequent encounters with Arab ›infiltrators‹ who sought to return to their abandoned homes and lands.1 The mass expulsion and the killings of Arab civilians by Jewish forces were regularly discussed and debated by Israeli politicians, intellectuals, journalists and artists in the ensuing decades.2 Yet with few exceptions, Israeli historians and politicians have seemingly effortlessly merged these atrocities with a commonly accepted ›narrative‹ by, for example, attributing them to rogue, marginal, right-wing militias; depicting cases of expulsion as sporadic and spontaneous events; or justifying them as ad hoc measures taken against the initiators of the violence during the war.
Zu den drängenden Problemen der Historischen Grundwissenschaften gehört es heute, ein erweitertes Instrumentarium für digitale Quellengattungen zu entwickeln. Dabei ist das breite Feld der digitalen Informationstypen der Gegenwart, der sogenannten born digitals (also der genuin digitalen Objekte), noch nicht einmal vollständig in den Blick geraten.1 Dies liegt zum einen daran, dass sich das Quelleninteresse der Zeitgeschichtsforschung in wachsendem Maße auch auf frei im Netz zugängliche Ressourcen richtet.2 Das dort vorhandene Material ist von beachtlicher Vielfalt (und quellenkritischer Brisanz), was eine quellenkundliche Erfassung erschwert. Die mangelnde Durchdringung des digitalen Quellenkanons hat aber auch mit den im Umbruch befindlichen Fachaufgaben der Archive als »traditionellem Ort« der Geschichtsforschung zu tun. Denn die Archive haben in vielen Fällen erst in den letzten Jahren mit systematischen Übernahmen und der Bereitstellung digitaler Unterlagen begonnen. Dementsprechend stehen viele digitale Quellen aus Verwaltungszusammenhängen der Forschung noch gar nicht zur Verfügung. Gleichwohl werden sie für die spätere geschichtswissenschaftliche Erforschung unserer heutigen Gegenwart und jüngsten Vergangenheit von zentraler Bedeutung sein.
»Alternative Fakten«, »erinnerungskulturelle Wenden«, Konflikte um Museen und Gedenkstätten, historische Sehnsüchte und Ressentiments – es nimmt nicht Wunder, dass der Aufstieg des Populismus1 überall in Europa auch von der Geschichtswissenschaft als Herausforderung verstanden wird. Das gilt in besonderem Maße für Deutschland, wo die politische Ordnung so sehr mit einer spezifischen Geschichtserfahrung und Geschichtsdeutung verbunden ist. Seit den Mobilisierungserfolgen von »Pegida« ab 2014 und der »Alternative für Deutschland« (AfD) ab 2015 steht der liberale Basiskonsens mit seiner um selbstkritische Reflexion und historische Verantwortung modellierten Erinnerungspolitik öffentlich unter Druck wie selten zuvor.