Großbritannien
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Die älteste bekannte antijüdische Karikatur ist eine Zeichnung – eigentlich ein detailliertes Gekritzel – am oberen Rand eines königlichen englischen Steuerprotokolls von 1233. Sie zeigt drei merkwürdig aussehende Juden, die sich in einem schematisch dargestellten Schloss befinden, das von einer Gruppe karikaturesker, gehörnter Dämonen mit schnabelartigen Nasen angegriffen wird. Ein weiterer größerer Dämon in der Mitte des Schlosses zeigt auf die sonderbar langen Nasen zweier Juden, als ob er die Ähnlichkeit zwischen ihren Profilen und seinem eigenen betonen wollte. Diese kleine Kritzelei ist so etwas wie eine Celebrity unter Historiker*innen.
Zunächst ein Beispiel, an dem sich die Ausgangssituation industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und social engineerings vergegenwärtigen lässt: Es geht um einen Besuch Willy Hellpachs im Daimler-Werk in Stuttgart/Untertürkheim. Hellpach besichtigte Daimler auf Einladung Eugen Rosenstock-Huessys, zu dieser Zeit Redakteur der »Daimler Werkzeitung«, um den sozialpsychologischen Folgen und Wirkungsgrenzen von Betriebsreformen im Allgemeinen und der Gruppenfabrikation im Besonderen auf die Spur zu kommen.
Seit den frühen 1970er-Jahren entstanden in vielen westeuropäischen Ländern »Dritte-Welt-Läden«. Sie waren bis in die späten 1980er-Jahre die wichtigste Verkaufsform des »Alternativen Handels«. Der Aufsatz interpretiert diese Läden als konsumkritische Konsumorte, in denen zeitgenössische Utopien eines gerechten, postkolonialen Welthandels symbolisch realisiert werden sollten. Der Aufsatz ordnet den »Alternativen Handel« zunächst in die ideengeschichtlichen Kontexte der 1960er- und 1970er-Jahre ein; anschließend wird die konkrete Verkaufspraxis, Inszenierung und Gestaltung der Läden analysiert. Mit Hilfe von Beispielen aus der Bundesrepublik Deutschland und aus Großbritannien werden zudem die Unterschiede in der Verwirklichung des Handelsmodells herausgearbeitet. Der »Alternative Handel« steht für ein neues Verhältnis von Konsum, Moral und politischem Protest in der Zeit »nach dem Boom«. Allerdings führt von den »Dritte-Welt-Läden« der 1970er- und 1980er-Jahre keine gerade Linie zu den heutigen Milliardenumsätzen mit »Fairtrade«-Produkten. Diese Marktexpansion ist eher eine Geschichte der Diskontinuität.
Die Arbeit von Maren Jung-Diestelmeier, mit der sie 2016 an der Technischen Universität Berlin promoviert wurde und die im Jahr darauf im Göttinger Wallstein Verlag erschien, ist, soweit der Rezensent das mit seiner zugegebenermaßen beschränkten Expertise auf dem Feld zu beurteilen vermag, ein großartiger Beitrag zur Stereotypenforschung. Das verwundert nicht angesichts dessen, dass die Dissertation von Werner Bergmann, bis 2016 Professor für Soziologie am Zentrum für Antisemitismusforschung, betreut wurde. Der Band macht sicher nicht zu Unrecht den Auftakt der vom ZfA herausgegebenen Reihe „Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart“.
Seit einiger Zeit löst sich die Schockstarre, die bei Bekanntwerden des Ergebnisses des Referendums vom Juni 2016 über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs eingesetzt hatte. Mittlerweile wird sie außerdem gelegentlich durch Entwicklungen in den USA, Italien und anderswo überlagert, die alle ihrerseits für die weitere Entwicklung in Bezug auf den Brexit folgenreich sind. Weiterhin ist das Vereinigte Königreich Teil der Europäischen Union, wobei die Perspektive eines Austritts längst ihren Schatten vorauswirft. Viel ist in den vergangenen Monaten international gesagt und geschrieben worden, um das lange Zeit Undenkbare zu erklären. Eine beachtliche Reihe von Kommentatoren hat sich zu Ergründungen des britischen Nationalcharakters hinreißen lassen und etwa Beispiele für ein tief verankertes Sonderbewusstsein und Anzeichen für einen Sonderweg in Kultur und Geschichte bemüht.
Um Anerkennung als legitimes Objekt wissenschaftlichen Fragens muss die Populärkultur längst nicht mehr kämpfen. Zwar dürfte es kaum möglich sein, die vielfältigen Ansätze zur Massen- und Unterhaltungskultur auch nur des späten 20. Jahrhunderts auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, aber unter den dabei bevorzugt behandelten Gegenständen müsste wohl den James-Bond-Filmen ein prominenter Platz eingeräumt werden. Mehr als jede andere Filmreihe haben sie ein ganzes Genre des Actionkinos definiert und Standards des Spionage- und Agententhrillers etabliert, die bis heute und noch in ihrer ironischen Brechung als Referenzgröße dienen.
Hochgespannte Erwartung. H.G. Wells’ Utopie einer »befreiten Welt« am Vorabend des Großen Kriegs
(2014)
In der belletristischen Literatur spiegeln sich nicht nur die Vergangenheitsbilder einer Epoche, sondern ebenso ihre Vorstellungen von der Zukunft. Müsste man eine Rangliste der literarischen Propheten erstellen, welche als Seismographen die Erwartungen und Befürchtungen ihrer Zeit aufnahmen und verarbeiteten, so wäre dem britischen Autor Herbert George Wells (1866–1946) einer der obersten Plätze sicher. Wie kaum ein anderer Schriftsteller und Intellektueller der späten Viktorianischen Ära verknüpfte er in seinen Werken politische Zeitdiagnostik und phantastische Zukunftsvisionen, und dies nicht allein in den bekannten Klassikern der frühen Science-Fiction-Literatur »The Time Machine« (1895) und »The War of the Worlds« (1898). Wells war ein gleichermaßen populärer, produktiver wie politisch entschiedener Autor, der insgesamt mehr als 50 Romane und eine noch größere Zahl von Sachbüchern vorlegte, von zahllosen Erzählungen und journalistischen Gelegenheitsarbeiten ganz abgesehen.
Eine Mutter mit Kind. Den Blick gesenkt, hat sie ihre Aufmerksamkeit in diesem Moment ganz auf den kleinen Sohn gerichtet. Fest hält sie ihn im Arm, so als befürchte sie, dass ihr jemand ihr Ein und Alles nehmen könnte. Um sie herum verschwimmt die Welt in Dunkelheit. Es ist eine Szene voller Trauer und Hoffnung zugleich, ein würdevoller Augenblick, der in seiner Intimität fast spirituell anmutet – und das überlebensgroß. Festgehalten hat ihn der haitianisch-spanische Street-Art-Künstler Axel Void (bürgerlich: Alejandro Hugo Dorda Mevs) auf 9 mal 9 Metern Fläche einer Gebäudefassade direkt am River Irwell, der Stadtgrenze zwischen Manchester und Salford in Englands Nordwesten. Sein Werk, sagt der Künstler, sei den einfachen Leuten gewidmet, „those with nothing who gave their everything”. Gemeint seien all jene, denen (staatliches) Unrecht widerfuhr: Mutter und Kind stünden als Symbol für die Zehntausenden, „who came to St Peter’s Field that day”. Worauf sich Void dabei konkret bezieht, wird anhand eines Wortes klar, das er quer über sein Bild geschrieben hat: Peterloo.
In der Anti-Apartheid-Bewegung spielte Musik als politisches Medium eine herausragende Rolle, besonders in den 1980er-Jahren. Auf der Basis von Quellenmaterial aus England und aus Südafrika untersucht der Aufsatz die Kontroverse um Paul Simons Album »Graceland« (1986) vor dem Hintergrund des Kulturboykotts. Dieser sollte das Apartheid-Regime auf dem Gebiet der Kultur isolieren, wurde aber seit Mitte der 1980er-Jahre von der Opposition innerhalb Südafrikas immer mehr als Fessel betrachtet. Der African National Congress (ANC) betrieb eine Modifikation des Boykotts – gegen den Widerstand der britischen Anti-Apartheid-Bewegung. Die Kontroverse um »Graceland« steigerte noch die Verwirrung: Es gab unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob Simon durch seine Zusammenarbeit mit südafrikanischen Musikern den Kulturboykott gebrochen habe und wie dies eventuell zu sanktionieren sei. Der Versuch, in Zeiten gesteigerter Medialisierung grenzüberschreitende kulturelle Ströme durch politische Instanzen kontrollieren zu wollen, war letztlich zum Scheitern verurteilt.
Der Hungertod in Bildern. Fotografien in der öffentlichen Debatte um Hungerhilfe für Bengalen 1943
(2022)
Wollten die Leser*innen des »Statesman« am 22. August 1943 das Kreuzworträtsel lösen, brauchten sie starke Nerven. In der englischsprachigen Zeitung, die im indischen Kalkutta (dem heutigen Kolkata) und in Neu-Delhi erschien, befand sich das Sunday Crossword diesmal unmittelbar neben der Fotografie einer jungen, hungernden Mutter und ihrem Kind, die zusammengekauert und nur mit wenigen Lumpen bekleidet auf einem Gehweg in Kalkutta lagen. Im Hintergrund des Bildes war der abgemagerte Körper eines Mannes zu sehen, dessen Sterbebett-Haltung erahnen ließ, dass auch Frau und Kind der Hungertod bevorstand. Die beigefügte Bildunterschrift untermauerte diese Vermutung.
Warum Südafrika? Die Politik des britischen Anti-Apartheid-Aktivismus in den langen 1970er Jahren
(2017)
Die weltweite Anti-Apartheid-Bewegung war »die erste erfolgreiche transnationale soziale Bewegung in der Ära der Globalisierung«. So sieht es Francis Nesbitt, der argumentiert: »Das Ungewöhnliche an ihr war das Ausmaß der Unterstützung, die sie von Einzelpersonen, Regierungen und Organisationen auf allen Kontinenten erfuhr. Soziale Bewegungen erreichen selten auch nur annähernd eine solche internationale Unterstützung wie die gegen das rassistische Apartheidregime in Südafrika.« Nesbitts Urteil steht stellvertretend für die Sicht anderer Historiker, die jüngst begonnen haben, sich mit dem Anti-Apartheid-Aktivismus zu befassen. Sie alle betonen das große Maß an Zuspruch, das dieser erfahren habe. Bislang haben sie es jedoch kaum unternommen, zu untersuchen und zu erklären, wie sich diese Unterstützung im Lauf der Zeit veränderte, oder der Frage nachzugehen, warum sich bestimmte Einzelpersonen und Organisationen in der Bewegung gegen das südafrikanische Apartheidregime engagierten.
Die Anerkennung der Warschauer Regierung durch Großbritannien und die USA am 5. Juli 1945 bedeutete gleichzeitig die völkerrechtliche Aberkennung der polnischen Regierung in London. Anders als freie Regierungen Frankreichs, Belgiens, Hollands und anderer Exilregierungen, die während der Nazibesatzung in Großbritannien Zuflucht fanden und nach der Befreiung heimkehrten, konnte die polnische Exilregierung in London nicht dasselbe tun, weil Polen unter einer kommunistischen Regierung kein freies Land war. Die Mitglieder der polnischen Exilregierung konnten nur als Privatpersonen nach Polen zurückkehren und auch dann unter hohem Risiko, weil sich ihre politischen Überzeugungen von denen der neuen Regierung grundsätzlich unterschieden.
Von 1950 bis 1980 vervielfachten sich Zahl und Größe religiöser Minderheitengruppen in Großbritannien aufgrund der Nachkriegszuwanderung, doch anders als bei vorangegangenen Wanderungen und im Unterschied zur Gegenwart wurden die verschiedenen Glaubensrichtungen der neuen Einwanderer während dieses Zeitraums kaum thematisiert. Dieser Zugang ist vor dem Hintergrund einer untergehenden Kolonialmacht zu sehen, die an der Illusion eines Commonwealth mit gleichberechtigten Untertanen („subjects“) festhielt, aber die eigene Dominanz nicht aufgeben wollte. Das Gruppenmerkmal „race“ diente in der Endphase des Empires als allumfassendes Etikett, das weitere Differenzierungen überflüssig machen sollte. Eine neue Minderheitengeneration, die die Religion seit den 1980er-Jahren als wichtiges Element der Abgrenzung entdeckt hat, und das davon unabhängige Aufkommen des islamistischen Terrorismus haben die Phase des religiösen Desinteresses beendet.
In der Diskussion um den Strukturwandel der 1970er- und 1980er-Jahre haben musikkulturelle Vergemeinschaftungen bisher kaum eine Rolle gespielt. Der Aufsatz analysiert den Wandel von Klassenzuschreibungen an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Musikgeschichte über einen regionalen und räumlichen Zugriff. Dazu werden die Working Men’s Clubs im englischen Nordosten mit ihrer Verknüpfung von Arbeiterkultur und jugendkultureller Individualisierung während der »New Wave of British Heavy Metal« (NWOBHM) als Orte eines gesellschaftlichen Aufbruchs interpretiert. Wie gestaltete sich dort der Übergang von strukturellen zu kulturellen Klassenbeziehungen, und welche Folgen hatte dies für die weitere Entwicklung der Heavy-Metal-Kultur? Die Anbindung der NWOBHM an die Arbeiterklasse ermöglichte es einer entstehenden »neuen Mittelschicht«, zu der die Musiker häufig selbst gehörten, an der empfundenen Authentizität der »Working Class« zu partizipieren, während gleichzeitig postindustrielle Elemente mit einem jüngeren, auch weiblichen Publikum Einzug in die Working Men’s Clubs hielten.
Kolonialkrieg, Globalstrategie und Kalter Krieg. Die Emergencies in Malaya und Kenya 1948–1960
(2005)
Kein Staat der Welt hat während des Kalten Krieges öfter Krieg geführt als Großbritannien. Obwohl das Königreich ein Hauptakteur des Ost-West-Konfliktes und die größte Kolonialmacht der Erde war, erklären sich diese „heißen Kriege" im Kalten Krieg weder aus der Blockkonfrontation noch aus der Logik eines kolonialen Freiheitskampfes wirklich hinreichend. Man kann diese Kriege nur verstehen, wenn man sie als Resultate einer auf die Weltmachtrolle und das Selbstverständnis als Imperialmacht zentrierten Kollektivmentalität in den politischen und militärischen Eliten des Mutterlandes begreift. Die „heißen Kriege" waren in erster Linie ein Ausfluss globalstrategischen Sicherheitsdenkens. Der Artikel zeigt dies am Beispiel der Emergencies (Ausnahmezustände) in Malaya und Kenya, die für die strategische Verteidigung der Indikregion bedeutsam waren.
Der Beitrag untersucht Arbeitsämter in der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien während der 1970er- und 1980er-Jahre, einer Zeit deutlich gestiegener Arbeitslosenzahlen. Im Fokus stehen die Verwaltungsvorgänge, begriffen als soziale Praktiken und Mensch-Ding-Verhältnisse. Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie fragt der Aufsatz nach der Agency der Verwaltungsdinge im Arbeitsamt: den Bürogestaltungen, Aktenordnern, Wartenummern oder Stellenaushängen. Problematisiert wird besonders die in den 1970er- und 1980er-Jahren durchgesetzte Technisierung der administrativen Vorgänge, also der vermehrte Einsatz von Apparaten und EDV-Systemen in bundesdeutschen und britischen Arbeitsverwaltungen. In beiden Ländern wurde »Selbstbedienung« zu einem neuen Verhaltensdispositiv, das sich in den neu eingerichteten britischen Jobcentres jedoch schneller durchsetzte als im traditionellen deutschen Arbeitsamt, wo das passive Warten weiterhin eine vorherrschende Subjektivierungspraxis blieb.