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Dreißig Jahre nach der deutschen Vereinigung werden vor allem Stimmen lauter, die einen grundlegenden Perspektivwechsel in der Geschichtsschreibung fordern: Erfahrungen und Perspektiven von People of Color, Jüdinnen und Juden sowie Geflüchteten sollten stärker in die Betrachtung der „Wiedervereinigung“ und der anschließenden Transformationsprozesse einbezogen werden. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der 2020 erschienene Herausgeber*innenband Erinnern stören von Lydia Lierke und Massimo Perinelli.
Ein Blick auf Quellen der Umbruchszeit zu Beginn der neunziger Jahre verdeutlicht: Diese Erfahrungen wurden durchaus zeitgenössisch festgehalten – in Filmen, sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, Fotografien und Interviews. Vor allem dokumentarische Filme wurden von aktivistischen und subkulturell links geprägten Milieus produziert, verblieben aber lange in internen Rezeptionsschleifen, ohne Eingang in größere gesellschaftliche Debatten zu finden. Dabei stellten sie durch die Perspektive auf die Betroffenen Zusammenhänge zwischen alltäglicher Diskriminierung und der Gewalt seitens extrem Rechter her.
[...]
Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht, die verstärkt darauf dringt, das Augenmerk auf Rassismus, politischen Nationalismus und Rechtsextremismus zu legen, gilt es, diese Diskursverschiebungen ebenso nachzuzeichnen wie zeitgenössische Quellen in ihrer Entstehung und Rezeption zu historisieren. Exemplarisch soll hier der Dokumentarfilm Stau – Jetzt geht’s los von Thomas Heise (Deutschland 1992) als eine Schlüsselquelle besprochen werden, die verständlich machen kann, welche Perspektiven und Fragen Anfang der neunziger Jahre in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Rechtsextremismus im Vordergrund standen.
„Mit Angst, Hass und entgrenzter Gewalt – und nicht mit Sektflaschen begann die Deutsche Einheit für Linke, Deutsche mit Migrationshintergrund, Ausländerinnen und Ausländer in vielen ostdeutschen Städten“, kommentierte unlängst Christian Bangel den 3. Oktober 2020 in DIE ZEIT. „Das war nicht nur ein schlechter Start der Deutschen Einheit. Es war ein Fanal für die neuen Zeiten.“ Tatsächlich bekamen die rechten Gewalteskalationen im Übergang von der DDR zur vereinigten Bundesrepublik, die von körperlicher Bedrohung und Herabsetzung bis zu tödlichen Angriffen reichten – zuletzt immer mehr Aufmerksamkeit. In manchen Regionen hatte diese „Gewalt der Vereinigung“ vor allem für nicht-weiße Personen, Wohnungslose und Linke eine permanente Bedrohungslage geschaffen.
Unter #Baseballschlägerjahre forderte Bangel vorletztes Jahr dazu auf, die Erinnerungen an die Vereinigungsgewalt zu teilen. Innerhalb einer Woche sammelten sich mehrere hundert kurze Einzelberichte an; im November 2020 veröffentlichte der RBB in Kooperation mit ZEIT ONLINE daran anknüpfend zusätzlich sechs Kurzfilme, die Schlaglichter auf einzelne Orte werfen und Geschichten von Bedrohung, Terror und Angst erzählen. Es gibt aber auch einige autobiographische Romane. Jene, die zu dieser Zeit ihre Jugend in Ostdeutschland erlebten, erzählen davon, wie sie angegriffen, bedroht und zusammengeschlagen wurden: Clemens Meyer in „Als wir träumten“ (2007), Peter Richter in „89/90“ (2015), Manja Präkels in „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (2017).
Die autobiografischen Texte stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages, da sie eine neue Perspektive auf die Erfahrung der Transformationsprozesse der Vereinigung eröffnen und sich mit einem anderen Phänomen der postsozialistischen Gesellschaft in Zusammenhang bringen lassen: der Abwanderung. Die enthemmte rechte Gewalt war für die in diesem Beitrag ausgewählten Berichtenden ein wichtiger Anlass, den Osten zu verlassen.
Subjekt und Subjektivierung
(2020)
Wie werden Menschen zu Subjekten gemacht, und wie machen sie sich selbst zu Subjekten? – fragt Wiebke Wiede und stellt in dem Artikel die wichtigsten Theorieansätze zur Funktionsweise von „Subjektivierung” im 20. Jahrhundert vor. Subjekte konstituieren sich im historischen Raum, und sie unterliegen institutionellen Strukturen und Subjektdefinitionen, die historisch kontingent sind. Demnach spiegeln sich auch in den Subjekttheorien die kulturellen Orientierungsbedürfnisse unserer Gegenwart.
How are people made into subjects, and how do they make themselves into subjects? - asks Wiebke Wiede and presents in the article the most important theoretical approaches to the functioning of "subjectification" in the 20th century. Subjects constitute themselves in historical space and are subject to institutional structures and subject definitions that are historically contingent. Accordingly, the cultural orientation needs of our present are also reflected in subject theories.
Das historische Ereignis
(2020)
Historische Ereignisse gelten als zentrale Elemente bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Nachdem ihre Bedeutung mit dem Aufstieg der Sozialgeschichte in den Hintergrund rückte, hat in jüngster Zeit – auch durch kultur-, medien- und sozialwissenschaftliche Impulse – die Auseinandersetzung mit Ereignissen wieder zugenommen. In dem Artikel wird diskutiert, wie sich das historische Ereignis konzeptionell fassen lässt, wie sich sein Status in der Geschichtswissenschaft wandelte und welche (zeit-)historischen Ansätze sich zur Erforschung anbieten.
Der Prozess der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit im Nationalsozialismus stellt wohl den radikalsten und in dieser Radikalität „erfolgreichsten“ Umsteuerungsvorgang in der Wirtschaft dar. Christoph Kreutzmüller gibt einen Forschungs-Überblick zum Thema und diskutiert die Reichweite der genutzten Begrifflichkeiten. Am Beispiel Berlins stellt er die Entwicklung der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit und die Reaktionen der jüdischen Gewerbetreibenden darauf dar und ordnet sie in den breiteren Kontext der Holocaust-Forschung ein.
In der vergleichenden Forschung zu politischer Gewalt in Deutschland spielen Unterscheidungen, die sich auf die weltanschauliche oder strategische Ausrichtung der Gewalt beziehen, eine zentrale Rolle. Gewalt gilt als ‚politisch‘, wenn sie auf die Herstellung oder Veränderung einer gesellschaftlichen Ordnung zielt, oder in diesem Sinne gedeutet wird. Und da es sehr verschiedene politische Visionen und Utopien gibt, erscheint es wichtig, diese begrifflich voneinander abzugrenzen. Der politische Horizont der Gewaltakteure wird dabei häufig zu einem Attribut der Gewalt selbst. So ist etwa von ‚linker Gewalt‘ und ‚rechter Gewalt‘ die Rede, die von ‚sezessionistischer Gewalt‘, ‚djihadistischer Gewalt‘ oder auch ‚ökoterroristischer Gewalt‘ unterschieden wird.
In der Regel dienen diese Formulierungen dazu, den Gegenstandsbereich einzugrenzen. Sie signalisieren, dass hier das (Gewalt-)Handeln jeweils bestimmter Bewegungen untersucht wird, die sich politisch spezifischen Ideologien oder Weltsichten zuordnen lassen. Gewalt gilt als ‚rechts‘, wenn sie von Rechtsextremist:innen verübt wird oder sich in den Horizont rechtsextremistischer Weltvorstellungen einordnen lässt, nicht weil unterstellt wird, die Dynamik der Gewalt selbst weise Merkmale auf, die sie eindeutig als dem rechtsextremen Spektrum zugehörig identifizieren. In der Regel verweisen die zitierten Attribute also auf den Horizont der Gewaltakteure; selten stehen dahinter starke gewalttheoretische Thesen über den spezifischen Charakter der Gewalt der genannten Gruppen.
Subjekt und Subjektivierung
(2019)
Wie werden Menschen zu Subjekten gemacht, und wie machen sie sich selbst zu Subjekten? – fragt Wiebke Wiede und stellt in dem Artikel die wichtigsten Theorieansätze zur Funktionsweise von „Subjektivierung” im 20. Jahrhundert vor. Subjekte konstituieren sich im historischen Raum, und sie unterliegen institutionellen Strukturen und Subjektdefinitionen, die historisch kontingent sind. Demnach spiegeln sich auch in den Subjekttheorien die kulturellen Orientierungsbedürfnisse unserer Gegenwart.
Cultural Turns
(2019)
Wie und nach welchen Kriterien entstehen turns? Doris Bachmann-Medick entfaltet das Spektrum der unterschiedlichen cultural turns und zeigt ihr Potential für eine Veränderung des Kulturbegriffs selbst. Wieweit die cultural turns eine Abkehr von einem übertriebenen Konstruktivismus hin zur Rückgewinnung von Referentialität befördern, wird schließlich an unterschiedlichen Formen von re-turns gezeigt. Von hier aus eröffnet sich ein breiterer Horizont, in dem sich die zukünftige Forschungslandschaft der Kulturwissenschaften ausgehend von cultural turns (und über sie hinaus?) weiterprofilieren könnte.
Welche Impulse kann das Werk Max Webers der Zeitgeschichte liefern? Wie haben sich Zeithistoriker/innen im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart bei der gedanklichen Ordnung ihrer Probleme von Weber inspirieren lassen? Ausgehend von der „Vielfalt der Perspektiven“, aus denen Webers Themen und Begrifflichkeiten fruchtbar gemacht werden, zeichnet Gangolf Hübinger die Bedeutung Max Webers für wechselnde zeitgeschichtliche Problemstellungen nach und zeigt, was seinen Denkstil letztlich ausmacht: die Verknüpfung von Universalgeschichte und Gegenwartsdiagnose.