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The development of the modern concept of labour productivity. A contribution to German Business Economics history. The starting point of this article is the reduced output in German factories in the early 1920s, which employers attributed solely to workers’ inefficiency. This was possible because of the long standing lack of a common definition for productivity, particularly in the German-speaking area. This was not the result of historicism, but rather the lack of interdisciplinary and international engagement by German business economics. After World War II international research then provided an unambiguous definition related to a clear concept: that capital is of vital importance for productivity and that therefore a straightforward relationship between output and workers’ efficiency is non-existent.
Darstellungen zur Diskursgeschichte setzen nahezu immer am selben Punkt an (und müssen dies wohl auch tun): beim Begriff des Diskurses selbst. Während in romanischen Sprachen oder im Englischen discours, discorso, discourse etc. zur Alltagssprache gehören, ist dies im Deutschen nicht der Fall – oder: noch nicht.
Die Diskursgeschichte, die sich im Zuge des linguistic turn auch in Deutschland recht erfolgreich etabliert hat, eröffnet vielschichtige Zugänge, die auch für die Erforschung des Nationalsozialismus und des Holocaust wichtige Impulse zu geben vermögen. Dies gilt etwa für die Rolle von Homosexualitätsdiskursen in NS-Organisationen, für sprachliche Ausformungen genozidaler Gewalt und für narrative (Überlebens-)Strategien von Verfolgten. Besonders deutlich geworden sind die Verbindungen von sprachlichen Praktiken und Gewalt in der Diskussion über die 1995 veröffentlichten Tagebücher des Romanisten Victor Klemperer (1881–1960) aus der NS-Zeit. Diese Tagebücher hatten Klemperer, der den Holocaust in Dresden überlebte, als Vorarbeiten seiner Studie zur Sprache des „Dritten Reiches“ gedient. In dieser bereits 1947 erstmals erschienenen Arbeit argumentierte Klemperer, dass „der Nazismus […] in Fleisch und Blut der Menge […] durch die Einzelworte, die Redewendungen“ übergegangen sei, die ein Großteil der Bevölkerung „mechanisch und unbewußt übernommen“ habe. Während Klemperers Studie gerade in den letzten 15 Jahren wieder verstärkte Beachtung gefunden hat, bleibt ihre bedeu-tendste westdeutsche Parallelarbeit heute auffällig unterbelichtet: das von Dolf Sternberger (1907–1989) federführend konzipierte „Wörterbuch des Unmenschen“.
Wer oder was ein Intellektueller sei und worin seine politische und gesellschaftliche Aufgabe bestehe, war während des 20. Jahrhunderts stets ein umkämpfter Gegenstand intellektueller Debatten. Daniel Morat plädiert in der Auseinandersetzung mit der bisherigen Intellektuellengeschichtsschreibung für eine formale und wertneutrale Definition des Intellektuellenbegriffs, die auch unabhängig von den Selbstbeschreibungen als wissenschaftliche Analysekategorie tragfähig ist. Daran anschließend widmet er sich der Entstehung des Intellektuellen als moderner Sozialfigur im internationalen Kontext und stellt wichtige Forschungstendenzen und Themenfelder vor. Die Frage nach dem Tod des Intellektuellen in der Postmoderne verneint er klar, denn schon die anhaltende Debatte darüber sei ein Zeichen für sein Weiterleben – unabhängig davon, ob das Medium der Intellektuellen nun der klassische Leitartikel, die Fernsehshow oder aber heute der Internet-Blog ist.
Wertewandel
(2012)
Wie haben sich Normen und Werte in modernen Industriegesellschaften verändert? Isabel Heinemann beschäftigt sich in ihrem Beitrag über den Begriff des „Wertewandels“ mit der Frage, welche Möglichkeiten für eine kritische Historisierung des ursprünglich sozialwissenschaftlichen Konzepts bestehen. Sie plädiert dafür, den Begriff aus seiner vorherrschenden Fixierung auf die 1960er- und 1970er-Jahre als vermeintlicher Kernphase des Wertewandels zu lösen, um durch den Vergleich von Phasen intensiven Wandels mit Perioden von größerer sozialer und normativer Kontinuität die Bedeutung und Reichweite von Wertewandelprozessen besser erschließen zu können.
Postsozialismus
(2013)
Der Beitrag von Petra Stykow befasst sich mit „Postsozialismus“- bzw. „Postkommunismus“-Konzepten, die sich in sozialwissenschaftlichen (Anthropologie, Wirtschaftssoziologie/Politische Ökonomie, Politikwissenschaft, Geografie) sowie in kulturwissenschaftlich-philosophischen Diskursen nach dem Ende des Kalten Kriegs entwickelt haben. Sie bezeichnen historische Gemeinsamkeiten der Länder im östlichen Europa und (re-)konstruieren damit eine Geschichtsregion, die traditionell als „Osteuropa“ und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „Ostblock“ firmierte.
Die „Dritte Welt“ hat es nur als abstraktes wirkmächtiges zeitgenössisches Ordnungsmuster der Welt gegeben. Der Begriff wurde von imaginären und tatsächlichen Entwicklungen in den Ländern Asiens und Afrikas sowie zum Teil auch Lateinamerikas geprägt. Jürgen Dinkel zeigt die entsprechende Aufladung des schillernden Begriffs ebenso wie das jeweils politische und wirtschaftliche Agieren dieser an sich sehr unterschiedlichen Länder auf, um mit der Historisierung von Geschichte und Semantiken der Dritten Welt zu beginnen.
Die Zeitgeschichte ist ein Kind des „Zeitalters der Extreme“. Über die aktuellen Probleme einer zeitlichen und definitorischen Einordnung des Begriffs der Zeitgeschichte schreibt Gabriele Metzler und weist dabei gleichzeitig auf die andauernde Hochkonjunktur zeithistorischer Themen in den Medien und der Öffentlichkeit hin. Die Autorin plädiert für eine unbedingt nötige Neupositionierung der Disziplin. Denn die Zeitgeschichte sieht sich angesichts technischer Neuerungen, der Verfügbarkeit neuer Ressourcen für die Forschung sowie von gewandelten trans- und interdisziplinären Verflechtungen mit neuen Herausforderungen konfrontiert.
»Aktiv gegen Streß« – mit dieser Schlagzeile informierte »Der Scheibenwischer«, die Werkszeitung der IG Metall für die Beschäftigten der Daimler-Benz AG und der Mercedes-Benz AG am Standort Stuttgart, im Mai 1990 über die laufenden Tarifverhandlungen. Arbeitstempo und Leistungsdruck nähmen rasant zu, diesem Trend müsse man gemeinsam entgegenwirken. Dazu habe die IG Metall für die Tarifrunde ein »Anti-Streß-Paket« geschnürt, in dessen Mittelpunkt die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche »für mehr freie Zeit und Lebensfreude« stehe. Die insgesamt acht Seiten des Hefts, das vor allem an die Angestellten in den Verwaltungszentralen des Konzerns verteilt wurde, informierten über Probleme wie Personalabbau, psychische Gründe für steigende Fehlzeiten und drohende Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen durch das von der Unternehmensberatung McKinsey eingeführte Programm zur »Optimierung der Gemeinkosten« (OGK). Hervorgehobene Kästchen definierten zentrale Begriffe der Artikel, darunter »Streß«. Mit Verweis auf das seit 1976 in vielen Auflagen erschienene Buch »Phänomen Streß« von Frederic Vester wurden in knappen Worten medizinischer Hintergrund und psychisch-soziale Folgen der modernen Industriegesellschaft für den »natürlichen Verteidigungsmechanismus des Körpers« zusammengefasst.
The paper explores representations of economic reform in Czechoslovakia immediately before and after the fall of the centrally planned economy in 1989/90. By what means was the concept of rapid economic transition towards a liberal market setting mediated into the academic and the public sphere? How did it achieve wide public consent? In the first part, the paper analyzes the Czechoslovak academic discussion about perestroika in the late 1980s, where a rapid liberal transition was cast by a distinct group of younger scholars as the only possible way of reforming the socialist economy. Their training was based above all on Paul A. Samuelson’s canonical textbook Economics, which presented this discipline almost as a natural science with universal standards. Immediately after 1989/90, when some of these scholars assumed executive positions within the new Czechoslovak government, what were at first purely economic ways of reasoning merged with certain images of the national past, creating a mixture of liberal economic knowledge and national exceptionalism.
„Bürger” ist ein geschichtlicher Grundbegriff, der auf die politische Verfasstheit und Teilhabe zielte und sich seit dem 18. Jahrhundert um soziale und kulturelle Dimensionen erweitert hat. Manfred Hettling untersucht in seinem Beitrag die Begrifflichkeit des „Bürgers”, die soziale Formation des „Bürgertums” sowie das eigene Kulturmodell von „Bürgerlichkeit” und stellt Ansätze, Zugriffe und Verfahren der historischen Bürgertumsforschung bis heute vor.
Fragt man, wer wir seien oder wie wir gesehen werden möchten, antworten wir häufig mit einer Berufs- oder Tätigkeitsangabe; „[...] wir definieren uns und andere durch Arbeit. Durch die Art und Menge unserer Arbeit“ . ‚Arbeit‘ ist daher ein „Schlüsselwort“ unserer Gesellschaft, so der Linguist Fritz Hermanns. Jedenfalls in der modernen Welt ist es so, und das gilt nicht nur für die fortgeschrittenen westlichen und asiatischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften, sondern auch für die sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländer. Aber welche Wörter bilden in den gesprochenen und alten Sprachen der Welt überhaupt das Sinnfeld, das im heutigen Deutsch durch den Kollektivsingular ‚Arbeit‘, im Französischen durch travail, im Italienischen durch lavoro, im Englischen durch zwei konkurrierende Wörter – work und labour – beherrscht wird? Schon das englische Beispiel weist auf die Schwierigkeit hin, Äquivalenz des Gebrauchs und Synonymität der Bedeutungen zwischen den Sprachen – in ihren gegenwärtigen und historischen Stadien – für unser Schlüsselwort ‚Arbeit‘ ohne weiteres vorauszusetzen.
The introduction to this issue on historical surveillance studies argues for an integrated understanding of surveillance that focuses on the interconnectedness of the state, economy and sciences within the context of different forms of technological revolution. It suggests reading contemporary diagnoses of ‘total surveillance’ from a long-term historical perspective beginning in the seventeenth century. In this light, surveillance is not limited to intelligence history or state control. Rather, it produces patterns of order and data that can be deployed for political processes like urban planning, welfare policy, crime prevention, or the persecution of political opponents. Furthermore, surveillance is also part of the economy, encompassing market and consumption research, advertising, and workplace monitoring. Research into the political and the economic aspects of surveillance should be combined. After defining the term ‘surveillance’ and differentiating between security and surveillance studies, the article provides an overview of different empirical studies in this new historiographical field. It concludes with short summaries of the articles collected in this issue.
Zivilgesellschaft gilt als schillernder Projektionsbegriff. Das Konzept wird seit den 1980er-Jahren in den Geistes- und Sozialwissenschaften verwendet und ist fest in der politischen Theorie verankert. Zivilgesellschaft ist im Englischen mit dem Begriff „Civil Society“ verwandt; in Deutschland gibt es enge Verknüpfungen zur „Bürgerlichen Gesellschaft“. Die Global Civil Society untersucht zivilgesellschaftliche Fragestellungen auf globaler Ebene. Die Verwendung der Konzepte ist umstritten, gerade weil die Bürgergesellschaft auf eine gesellschaftliche Mitte abzielt und Distinktionen beinhaltet. Trotzdem lohnt es sich, die normative Seite der Zivilgesellschaft aufzugreifen und diese mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen der Dritten-Sektor-Forschung zu kombinieren.
Nach einem kurzen Überblick über die Forschung und einer Diskussion der Reichweite der dabei genutzten Begrifflichkeiten, soll die Entwicklung der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit und die Reaktionen der jüdischen Gewerbetreibenden darauf am Beispiel Berlins dargestellt und dabei in den breiteren Kontext der Holocaust-Forschung eingeordnet werden. Für eine solche exemplarische Betrachtung scheint die Stadt nicht nur wegen der Größe der 1933 ansässigen jüdischen Gemeinde, sondern auch wegen des auf den ersten Blick paradoxen Umstands, dass sich dort – in politischem Sinne – Zentrum und Peripherie überlagerten, besonders gut geeignet.
Längst beerdigt und doch quicklebendig. Zur widersprüchlichen Geschichte der »autogerechten Stadt«
(2017)
Das Automobil steht gegenwärtig wieder einmal im Brennpunkt breiter gesellschaftlicher Debatten um Themen wie Elektromobilität, Car-Sharing, »autonomes Fahren« und verwandte Fragen. Darin kommt ein tiefer Umbruch der automobilen Kultur zum Ausdruck. Wie Konflikte um Fahrverbote in den Innenstädten, den Abriss automobiler Infrastrukturen oder die Erweiterung autofreier Zonen zeigen, erfasst dieser Umbruch auch und gerade die (großen) Städte. Vor dem Hintergrund eines sich andeutenden Abschieds von der Automobilität der Hochmoderne in den metropolitanen Räumen Europas und Nordamerikas gewinnt auch die retrospektive Reflexion über Entwicklungslinien und Wendepunkte der Raumentwicklung im Zeichen des Automobils in »seinem« 20. Jahrhundert stark an Interesse. Dies gilt umso mehr, als der epochemachende Leitbegriff der »autogerechten Stadt« die Genese und die Probleme städtischer Automobilität mehr verdeckt als freilegt.
Es Ist ein fragend-tastendes sich Annähern an eine historiografische Perspektivumkehr, wie sie aus den zitierten Zeilen von Tony Bennett und Patrick Joyce spricht. Beide haben mit „Material Powers" einen der Bände herausgegeben, die hier zur Diskussion stehen. Für manche Historikerinnen und Historiker mag der,material turn1 eine „Provokation“ bedeuten (so der Untertitel einer Sektion zu Geschichte und Materialität auf dem Historikertag 2012 in Mainz). Doch beweist die gegenwärtige (Wieder-)Annäherung unterschiedlicher kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen an die Dimension Materialität, dass Jahrzehnte einer perspektivischen Ent-Materialisierung als Defizit wahrgenommen werden - der Archäologe Bjornar Olsen spricht von einer „kollektiven Amnesie“ der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften gegenüber dem Materiellen.
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges war der Abschied von einem bedingungslosen Fortschrittsglauben gekommen. Die Erfahrungen des Stellungskrieges und der Materialschlacht munitionierten die Fortschrittskritik. Die universitäre Etablierung des Fachs Volkskunde im Jahr 1919 war seit den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch wissenschaftliche Zeitschriften, Kongresse und museale Sammlungen vorbereitet und von der »Suche nach dem Elementaren in der Kultur« begleitet worden. Die Hinwendung zu den Dingen, vor allem zu Arbeits- und Hausgerät aus europäischen Reliktgebieten, spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Die Frage nach ihrer Bedeutung und Sinnaufladung verdichtete sich mit der Disziplinierung, auch wenn die Erforschung der materiellen Kultur nicht der einzige Gegenstand des Faches war, das sich aus den Philologien herausbildete. Geht man davon aus, dass das 19. Jahrhundert das »Saeculum der Dinge« ist, weil die industrielle Massenproduktion die Verfügbarkeit sowie den Verbrauch der Dinge seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immens steigerte, dann führt der Weg zu der intensivierten Aufmerksamkeit für die Dinge des Alltags in Kunst, Literatur und Wissenschaft in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
Der Beliebtheit generationeller Vergemeinschaftungen stehen forschungspraktische Unebenheiten gegenüber, wenn „Generation” nicht mehr nur als Selbstthematisierungsformel, sondern auch als analytische Kategorie dient. Gerade die begriffliche Unschärfe verweist darauf, wie wichtig es ist, danach zu fragen, was die Rede von den „Generationen” in den Blick bekommt, was sie vernachlässigt oder sogar überdeckt. In einer aktuell überarbeiteten und ergänzten Version 2.0 zeigt Ulrike Jureit, welche theoretischen Unwägbarkeiten damit verbunden sind, wenn der kollektive Selbstentwurf nicht allein als Ausdruck eines gesellschaftlichen Erfahrungswandels gedeutet wird, sondern gruppenspezifische Selbstinszenierungen zum zentralen Erklärungsfaktor für bestimmte politische, soziale oder ökonomische Umbrüche werden.
Heimat
(2017)
Das Konzept „Heimat“ lässt sich als scheinbar genauere Bestimmung vor viele Phänomene setzen. In der Unbestimmtheit des Begriffs zeigt sich seine prominente emotionale Seite, die ihn für Marketingzwecke jeder Art – und damit sind auch politische Absichten eingeschlossen – attraktiv macht. Heimat markiert eine lokale Identifizierung, die andere Identifikationen nicht ausschließt, ob es sich nun um regionale, nationale oder transnationale Institutionen, Ideologien oder Glaubensgemeinschaften handelt. Der Artikel behandelt den Begriff „Heimat“ sowie das grundsätzliche Verhältnis zwischen Individuen zu sozialen und geografischen Räumen.
Seit einiger Zeit erfreuen sich Themen wie »Gerechtigkeit«, »Würde« oder das »richtige« Leben großer Popularität. Auch in der Geschichtswissenschaft floriert die Erforschung von Moral: »Menschenrechte«, »Transitional Justice« oder »Humanitarismus« sind als neue Themenfelder erschlossen worden. In Frankfurt am Main und Berlin beschäftigen sich größere Forschungsverbünde mit der Analyse normativer Ordnungen moderner Gesellschaften. Unter dem Schlagwort »NS-Moral« geht es um Inhalte und Geltungsmacht einer partikularen Moral des Nationalsozialismus. Zeitlich übergreifende Darstellungen zur Geschichte der »Menschheit« oder des »Westens« verfolgen selbst das Ziel, eine bestimmte (politische) Moral zu rechtfertigen.
Antikommunismus
(2017)
Mit der Ausbreitung des Kommunismus, mit der Diffusion von Ideologien und Bewegungen waren Abstoßungseffekte, d.h. die Entstehung von Gegenideologien und Gegenbewegungen verbunden. Der Beitrag von Bernd Faulenbach behandelt „Antikommunismus” als historische Kategorie. Er thematisiert zunächst seine Entstehung seit 1917, dann werden die Epochen des Antikommunismus dargestellt bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Kommunismus seit der Epochenwende 1989-91. Abschließend erörtert er den Forschungsstand und offene Fragen.
Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie Migration durch Statistik sozial relevant wird. Welche Kategorien kommen dabei zum Einsatz? Zuerst wird die historische und wissenssoziologische Perspektive erläutert. Im zweiten und dritten Teil werden historische Umbrüche in der Kategorisierung von Migration am Beispiel der amtlichen Statistik im Deutschen Kaiserreich und in der Bundesrepublik Deutschland skizziert. Der Fokus verschob sich von Migration als Ein- und Ausreisebewegung zu Migration als Alteritätszuschreibung (gestützt auf die Kategorie »Migrationshintergrund« ab 2005). Vor diesem Hintergrund wird im letzten Teil gezeigt, wie sich vergangene und aktuelle Kategorisierungen von Geflüchteten mit der Migrations- und Integrationssemantik verbanden bzw. verbinden. Über die Rekonstruktion der semantischen Brüche und Kontinuitäten hinaus dient die historische Kontextualisierung dem Ziel, heute gängige Kategorien für Migration und Flucht besser reflektieren zu können, die in der Wissenschaft, Politik und Verwaltung verwendet werden.
Moderne (Version 2.0)
(2018)
Version 2.0: Wenige Begriffe dürften für die konzeptionelle Rahmung und Periodisierung zeithistorischer Forschungen, aber auch für die Erfahrungshorizonte, Selbst- und Weltdeutungen vieler Menschen im 20. Jahrhundert von ähnlich zentraler Bedeutung sein wie der Begriff der „Moderne“, den Christof Dipper in seinem Beitrag einer komplexen Historisierung unterzieht. In seiner Skizze der Moderne als einer historischen Epoche, die der Autor um 1880 beginnen und etwa 100 Jahre später enden lässt, betont Dipper die Verschränkung sozialstruktureller Basisprozesse und zeitgenössischer Erfahrungs- und Wahrnehmungsmuster einer grundstürzend neuen Epoche.
Version 2.0: Was genau bezeichnet der Diskursbegriff? Mit welchen Inhalten verbindet sich die Diskursgeschichte? Welche Forschungsthemen sind in diesem Bereich relevant, welche Kontroversen haben sich entwickelt und welche zukünftigen Aufgaben stellen sich? – Achim Landwehr nimmt in seinem Beitrag eine Bestimmung des Diskursbegriffs vor, stellt wichtige Forschungsfelder der Diskursgeschichte vor und zeigt, welchen Nutzen die analytische Kategorie des Diskurses für die Geschichtswissenschaften hat.
Moderne (english version)
(2018)
The word Moderne (modernity) has been a staple of many disciplines ever since the 1980s, though previously restricted almost exclusively to the fields of aesthetics and literary criticism (and referred to here in English as “modernism”). The term can have a variety of meanings, however, depending on its context.
Heimat (english version)
(2018)
The concept of Heimat can be used in conjunction with many phenomena and sometimes seems to have a precise definition. The very vagueness of the concept bespeaks its emotional aspect, one that makes it rather appealing for a wide range of marketing and propaganda purposes. Heimat denotes a local identification that is not exclusive of other identifications, whether regional, national or transnational institutions, ideologies or religious communities. The Article will address the concept and its varied meanings and it will also examine the fundamental relationship between individuals with respect to their social and geographic spaces.
Subjekt und Subjektivierung
(2019)
Wie werden Menschen zu Subjekten gemacht, und wie machen sie sich selbst zu Subjekten? – fragt Wiebke Wiede und stellt in dem Artikel die wichtigsten Theorieansätze zur Funktionsweise von „Subjektivierung” im 20. Jahrhundert vor. Subjekte konstituieren sich im historischen Raum, und sie unterliegen institutionellen Strukturen und Subjektdefinitionen, die historisch kontingent sind. Demnach spiegeln sich auch in den Subjekttheorien die kulturellen Orientierungsbedürfnisse unserer Gegenwart.
Cultural Turns
(2019)
Wie und nach welchen Kriterien entstehen turns? Doris Bachmann-Medick entfaltet das Spektrum der unterschiedlichen cultural turns und zeigt ihr Potential für eine Veränderung des Kulturbegriffs selbst. Wieweit die cultural turns eine Abkehr von einem übertriebenen Konstruktivismus hin zur Rückgewinnung von Referentialität befördern, wird schließlich an unterschiedlichen Formen von re-turns gezeigt. Von hier aus eröffnet sich ein breiterer Horizont, in dem sich die zukünftige Forschungslandschaft der Kulturwissenschaften ausgehend von cultural turns (und über sie hinaus?) weiterprofilieren könnte.
Welche Impulse kann das Werk Max Webers der Zeitgeschichte liefern? Wie haben sich Zeithistoriker/innen im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart bei der gedanklichen Ordnung ihrer Probleme von Weber inspirieren lassen? Ausgehend von der „Vielfalt der Perspektiven“, aus denen Webers Themen und Begrifflichkeiten fruchtbar gemacht werden, zeichnet Gangolf Hübinger die Bedeutung Max Webers für wechselnde zeitgeschichtliche Problemstellungen nach und zeigt, was seinen Denkstil letztlich ausmacht: die Verknüpfung von Universalgeschichte und Gegenwartsdiagnose.
Im März 1933 überfiel die SA das Amts- und Landgericht in Breslau. Jüdische Richter und Anwälte wurden, zum Teil unter schweren Misshandlungen, aus dem Gebäude getrieben und in den nächsten Tagen an der Ausübung ihrer Berufe gehindert. Die Justiz reagierte, indem sie ein sogenanntes Justitium verhängte: Für die Dauer von fünf Tagen wurden alle Termine abgesagt und alle Verfahren ausgesetzt. Im Rückblick stilisierten Zeitzeugen dieses Ereignis zum Streik. Der Beitrag skizziert zunächst die jahrhundertelange Rechtsgeschichte des Justitiums, das sich noch heute in der Zivilprozessordnung findet. Untersucht werden dann die näheren Umstände und Folgen der Breslauer Vorgänge von 1933. Dabei zeigt sich, dass der »Stillstand der Rechtspflege« tatsächlich kein Akt des Widerstandes gegen äußere Repression ist, sondern vielmehr ein juristischer Selbstbetrug: Auf die Gefahr von Rechtlosigkeit antwortet das Recht einfach mit dem Rekurs auf vorhandenes juristisches Vokabular, um eigene Handlungsfähigkeit zu suggerieren und selbst rohe Gewalt als Rechtszustand zu definieren.
Der Beitrag gibt einen Überblick über die Begriffsgeschichte des Antifaschismus und das dazugehörige Forschungsfeld. Ziel der Ausführungen ist es, einige Entwicklungen der internationalen Literatur und Potenziale des „transnational turn“ in Bezug auf das Thema herauszuarbeiten. Räumlich konzentriert sich der Beitrag auf die historischen Ursprungsländer Italien und Deutschland. Zugleich öffnen europäische und globale Seitenblicke vergleichende und beziehungsgeschichtliche Perspektiven.
Das Liederbuch der Bundeswehr war von Beginn an umkämpft. Diese offizielle Liedersammlung, 1958 in erster Auflage erschienen, sollte – und soll bis heute – den „Geist der Truppe“ widerspiegeln. Symbolisch wurde und wird in Debatten um die Liedauswahl verhandelt, was Soldatentum nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus bedeuten und welche Rolle Militarismus in der westdeutschen Gesellschaft einnehmen darf.
Ein Blick auf die Veränderung des Liedguts im Laufe der Jahrzehnte zeigt, wie sehr sich die Kräfteverhältnisse in der bundesdeutschen Demokratie verändert haben. Während die Liedsymbolik in der frühen Bundesrepublik mit positivem Kriegsbezug und „Soldatenehre“ brach, fanden entsprechende Lieder im Zuge der Neuauflagen von 1963 und 1976 wieder Eingang in das Liederbuch. Die Entwicklung liegt damit quer zum postulierten Durchbruch demokratischer Vorstellungen nach den langen 1960er Jahren. Sie zeigt auch, dass die aktuellen Vorfälle und Debatten um rechtsextreme Soldaten und Wehrmachts-Memorabilia in den „Traditionsräumen“ der Truppe in eine längere Geschichte des Umgangs mit Vergangenheit in der Institution Bundeswehr eingeordnet werden müssen.
Subjekt und Subjektivierung
(2020)
Wie werden Menschen zu Subjekten gemacht, und wie machen sie sich selbst zu Subjekten? – fragt Wiebke Wiede und stellt in dem Artikel die wichtigsten Theorieansätze zur Funktionsweise von „Subjektivierung” im 20. Jahrhundert vor. Subjekte konstituieren sich im historischen Raum, und sie unterliegen institutionellen Strukturen und Subjektdefinitionen, die historisch kontingent sind. Demnach spiegeln sich auch in den Subjekttheorien die kulturellen Orientierungsbedürfnisse unserer Gegenwart.
How are people made into subjects, and how do they make themselves into subjects? - asks Wiebke Wiede and presents in the article the most important theoretical approaches to the functioning of "subjectification" in the 20th century. Subjects constitute themselves in historical space and are subject to institutional structures and subject definitions that are historically contingent. Accordingly, the cultural orientation needs of our present are also reflected in subject theories.
Der Prozess der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit im Nationalsozialismus stellt wohl den radikalsten und in dieser Radikalität „erfolgreichsten“ Umsteuerungsvorgang in der Wirtschaft dar. Christoph Kreutzmüller gibt einen Forschungs-Überblick zum Thema und diskutiert die Reichweite der genutzten Begrifflichkeiten. Am Beispiel Berlins stellt er die Entwicklung der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit und die Reaktionen der jüdischen Gewerbetreibenden darauf dar und ordnet sie in den breiteren Kontext der Holocaust-Forschung ein.
Der Begriff »Diversität« hat in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Verbreitung erfahren. Traditionell bezeichnete das Wort nur einen Zustand der Verschiedenheit; in der Gegenwart erscheint es in vielen Kontexten, um dessen Gegenteil zu erreichen: Das Wort meint Verschiedenheit und zielt auf Gleichheit. Schulen und Universitäten regeln Chancengleichheit im Namen von Diversität, Unternehmen formen eine heterogene Belegschaft mittels eines »Diversitätsmanagements«, und Migrationsbewegungen haben die alte Debatte um den Multikulturalismus wieder belebt. Durch seine vielseitige Anschlussfähigkeit ist Diversität zu einem populären und meist positiv besetzten Begriff geworden, der theoretisch jedoch weithin unterbestimmt blieb. Seine Paradoxie besteht in der Kollektivierung von Individuen zu homogenen Gruppen bei gleichzeitiger Pluralisierung dieser Gruppen zu nebeneinanderstehenden Einheiten – ausdrücklich ohne eine umfassende Universalisierung anzustreben.
In der vergleichenden Forschung zu politischer Gewalt in Deutschland spielen Unterscheidungen, die sich auf die weltanschauliche oder strategische Ausrichtung der Gewalt beziehen, eine zentrale Rolle. Gewalt gilt als ‚politisch‘, wenn sie auf die Herstellung oder Veränderung einer gesellschaftlichen Ordnung zielt, oder in diesem Sinne gedeutet wird. Und da es sehr verschiedene politische Visionen und Utopien gibt, erscheint es wichtig, diese begrifflich voneinander abzugrenzen. Der politische Horizont der Gewaltakteure wird dabei häufig zu einem Attribut der Gewalt selbst. So ist etwa von ‚linker Gewalt‘ und ‚rechter Gewalt‘ die Rede, die von ‚sezessionistischer Gewalt‘, ‚djihadistischer Gewalt‘ oder auch ‚ökoterroristischer Gewalt‘ unterschieden wird.
In der Regel dienen diese Formulierungen dazu, den Gegenstandsbereich einzugrenzen. Sie signalisieren, dass hier das (Gewalt-)Handeln jeweils bestimmter Bewegungen untersucht wird, die sich politisch spezifischen Ideologien oder Weltsichten zuordnen lassen. Gewalt gilt als ‚rechts‘, wenn sie von Rechtsextremist:innen verübt wird oder sich in den Horizont rechtsextremistischer Weltvorstellungen einordnen lässt, nicht weil unterstellt wird, die Dynamik der Gewalt selbst weise Merkmale auf, die sie eindeutig als dem rechtsextremen Spektrum zugehörig identifizieren. In der Regel verweisen die zitierten Attribute also auf den Horizont der Gewaltakteure; selten stehen dahinter starke gewalttheoretische Thesen über den spezifischen Charakter der Gewalt der genannten Gruppen.
Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich
(2021)
Der Aufsatz entwickelt eine Typologie von Deindustrialisierungsregimen in globaler Perspektive und setzt diese in Beziehung zu drei verschiedenen Arten des Erinnerns an Industrialisierung und Deindustrialisierung: antagonistisches, kosmopolitisches und agonales Erinnern. In welcher Weise und in welchem Maße waren und sind nostalgische Formen des Erinnerns in den unterschiedlichen Deindustrialisierungsregimen präsent? Anknüpfend an bisherige Forschungen wird dafür plädiert, Nostalgie nicht bloß als rückwärtsgewandtes, antiquarisches Sentiment zu betrachten, sondern ihr Potential für die Konstruktion von Zukunft zu erkennen. Zugleich wird versucht, die Theorie des agonalen Erinnerns, wie sie von der Historikerin Anna Cento Bull und dem Literaturwissenschaftler Hans Lauge Hansen entwickelt wurde, für die Deindustrialisierungsforschung fruchtbar zu machen. Der Aufsatz ist ein Diskussionsangebot, wie man die Erinnerung an das Industriezeitalter für unterschiedliche Weltregionen verflechtungsgeschichtlich und vergleichend untersuchen kann – sei es in Südwales, im Ruhrgebiet oder im Osten Chinas.
Europa ist ein »Kontinent der Nostalgie«. So jedenfalls betitelte der Publizist Markus Somm im November 2018 einen Artikel in der »Basler Zeitung«. »Die Europäer verzweifeln an der Gegenwart. Früher war alles besser«, lautete der Untertitel. Den Aufhänger lieferte eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung unter mehr als 10.800 EU-Bürger*innen über ihr Verhältnis zur Vergangenheit und die daraus resultierenden Einstellungen zu gegenwärtigen Problemlagen. Ungeachtet dessen, dass die Fragen der Bertelsmann-Studie als suggestiv und die Ergebnisdeutungen als vereinfachend kritisiert werden können, ist bemerkenswert, welchen Widerhall diese »Nostalgie-Studie« in der deutschsprachigen Presselandschaft fand. Dabei war es nicht nur das Statement »Früher war alles besser«, das zahlreiche Tageszeitungen wiederholten, sondern auch der Verweis auf die politische Wirkungsmacht des Gefühls der Nostalgie. Die Autorinnen der Studie selbst behaupteten, Nostalgie sei »ein mächtiges Mittel der Politik«. Ob die Politik dieses Gefühl instrumentalisiert oder Nostalgie in spezifischen Kontexten per se politisch aufgeladen ist, ließen sie allerdings unbeantwortet.
Herrschaft und Macht
(2021)
In ihrem Artikel geben Andrea Maurer und Christoph Lau einen Überblick über die Begriffe „Herrschaft“ und „Macht“, wobei sie zunächst wichtige Charakteristika von Herrschaft in Abgrenzung zu Macht und anderen Formen der Über- und Unterordnung (Gewalt) erläutern. Daran anschließend werden Forschungsperspektiven und -desiderata besprochen und die Potenziale einer wissenschaftlich fundierten Herrschaftsdiskussion ausgewiesen.
By analysing oral history interviews with industrial workers in Poland, this article adds some nuance to the study of post-industrial and post-socialist nostalgia. It presents diverse vernacular memories of the post-1989 systemic change from state socialism to neoliberal capitalism, and shows that nostalgia for an industrial ›golden age‹, although significant, is not the only way of making sense of this change. Rather, a distinctive feature of vernacular memory is the ambiguity about both socialism and capitalism. Recognising the variety of memories, the article underlines the critical potential of nostalgic currents for highlighting what is felt to be wrong with contemporary work culture. The article also differentiates between the vernacular memories of industrial communities recorded in oral history and institutionalised political memories in order to stress that the critical potential of nostalgic memories has been largely absent in the latter. In Poland, nostalgia for industrial life has been given little opportunity to become a reflective and critically useful mechanism to protect values that remain relevant in the present, such as the importance of sociability and agency in the workplace.
Beyond Nostalgia and the Prison of English. Positioning Japan in a Global History of Emotions
(2021)
This article interrogates the history of emotions at a pivotal moment in its growth as a discipline. It does so by bringing into conversation the ways in which scholars in Japan have approached ›nostalgia‹ (and emotions more broadly) as an object of study with concepts, theories, and methods prioritised by a predominantly Eurocentric field. It argues that Anglocentric notions of nostalgia as conceptual frameworks often neglect the particularisms that underlie the way that the Japanese language communicates and operationalizes cultural norms and codes of feeling. It also examines the aisthetic work of musicologist Tsugami Eisuke to help understand historical and psychological distinctions between ›nostalgia‹ and Japanese ideas of temporal ›longing‹, working towards a global history of emotions that meaningfully embraces multilateral and multi-lingual interaction. This article thus argues for a more nuanced way of discussing nostalgia cross-culturally, transcending dominant approaches in the field which are often grounded in a specifically Euro-Western experience but claim universal reach.
Die Allgegenwart der NS-Zeit in Massenmedien und Populärkultur ist heute nichts Besonderes mehr. Als jedoch seit Beginn der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik in rascher Folge viele neue Bücher, Filme und Ausstellungen über Adolf Hitler herauskamen, erschien dies vielen als suspekt, wenn nicht gar als gefährlich: Vor dem Hintergrund des sich formierenden Rechtsradikalismus beschwor die »Hitler-Welle« das Gespenst einer »Nazi-Nostalgie« herauf. Warum dieser von heute aus gesehen vielleicht befremdliche Begriff damals nahelag, demonstriert der vorliegende Aufsatz. Er trägt zu einer Historisierung des Nostalgie-Konzepts bei und akzentuiert dessen politische Aufladung. Zugleich benutzt er den Begriff und die Debatte, um die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in den 1970er-Jahren genauer zu ergründen. In der Konzentration auf Hitler und mit der Ausblendung der NS-Verbrechen als Gesellschaftsgeschichte stand die »Hitler-Welle« einerseits in der Kontinuität der 1950er-Jahre. Andererseits wies sie nach vorn, nämlich auf die in der Bundesrepublik 1979 ausgestrahlte US-Serie »Holocaust«, deren Resonanz ohne die vorangegangene »Hitler-Welle« kaum zu verstehen ist, sowie auf den »Historikerstreit« der 1980er-Jahre.
Der Bedeutungsvielfalt entsprechen unterschiedliche disziplinäre Zugriffe: Während die Soziologie und, in noch stärkerem Maße, die Psychologie der Nostalgie durchaus positive Effekte beimessen, ist sie kaum irgendwo schlechter beleumundet als in der Geschichtswissenschaft, die im Vergleich mit anderen Disziplinen bisher eher wenig Interesse an einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit der Nostalgie gezeigt hat. Indem wir in diesem Themenheft Nostalgie-Diagnosen der Vergangenheit mit Reflexionen über die Gegenwart zusammenbringen und dabei verschiedene Zugänge inner- wie außerhalb der Geschichtswissenschaft vorstellen, wollen wir zu einem differenzierteren Umgang mit kulturellen und politischen Aspekten der Nostalgie, ihrer Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt, beitragen sowie eine stärkere zeitgeschichtliche Einordnung des Phänomens anregen.
For centuries, nostalgia denoted homesickness, but current dictionary definitions indicate that these two concepts have parted ways and acquired discrete meanings. However, it is one thing to demonstrate that contemporary definitions of nostalgia and homesickness are distinct; it is another to show that the way people think about nostalgia and its characteristics corresponds to this lexicographic knowledge. In 2012, Erica G. Hepper and colleagues therefore asked laypeople to identify which features they considered most characteristic of the construct ›nostalgia‹ and found that respondents conceptualised nostalgia as a predominantly positive, social, and past-oriented emotion. In nostalgic reverie, one brings to mind a fond and personally meaningful event, often involving one’s childhood. The person tends to see the event through rose-coloured glasses and may even long to return to the past. As a result, he or she feels sentimental, typically happy but with a hint of sadness.
Nostalgie wird oft in kulturellen und, mehr noch, popkulturellen Kontexten diskutiert. Gelegentlich – und gerade in den letzten Jahren wieder – findet sich der Begriff jedoch auch in politischen Zusammenhängen. So wird er dazu verwendet, politische Entwicklungen zu erklären: etwa das britische EU-Referendum, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, das Erstarken der AfD in Deutschland oder den Aufstieg neuer Autoritarismen im östlichen Europa. Viele Beobachter*innen stellen einen in ihren Augen alarmierenden Zusammenhang zwischen Politik und Vergangenheitssehnsucht her. Aus ihrer Sicht resultieren die Effekte einer ungebremsten Globalisierung in einer gefährlichen Rückwärtsgewandtheit. Statt über sozioökonomische Konstellationen und Interessen erklären sie Politik emotional und psychologisch, wobei sie Nostalgie repathologisieren.
»In den Musennestern, wohnt die süße Krankheit Gestern« – so schreibt Uwe Tellkamp im pathossatten Roman »Der Turm«, dem literarischen Abgesang auf die DDR. Er schildert darin ein Refugiumsbürgertum, das sich gegen die Zumutungen der DDR in den Villen der Dresdner Elbhänge eingenistet hat – Zumutungen, die nun offenbar mit der DDR nicht untergegangen sind, denn seit einiger Zeit gehört Tellkamp selbst zu einem rechtsintellektuellen Milieu ostdeutscher Neodissidenten, die sich von einem wie auch immer gearteten Mainstream ausgegrenzt fühlen. Sie erinnern an die DDR, beklagen ihr geistiges Exil, und einige von ihnen tragen zur Normalisierung der extremen Rechten in Ostdeutschland bei.