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Genozid und Genozidforschung
(2011)
Die vergleichende Genozidforschung hat seit den späten 1990er-Jahren einen erheblichen Aufschwung genommen, doch ist bisher kein einheitliches interdisziplinäres Forschungsfeld entstanden. Wenn man sich mit Genozid beschäftigt, ist es daher nicht möglich, eine Debatte um Definitionen zu vermeiden. Um das Thema zu umreißen, stellt Boris Barth zunächst die Problematik des Völkerrechts vor und geht in einem zweiten Schritt auf die UNO- bzw. UN-Genozid-Konvention ein. Schließlich zeigt er Perspektiven für die zeitgeschichtliche Forschung auf und plädiert dafür, die historische fachwissenschaftliche Diskussion stärker als zuvor aus den Begrifflichkeiten des Völkerrechtes und den dortigen politischen Kontexten zu lösen, um eigenständige, primär an der historischen Methodik orientierte Fragestellungen zu entwickeln.
Das Thema Migration hat auch in der Museumslandschaft Konjunktur. Auf Konferenzen werden Formen der Erinnerung von Einwanderung diskutiert, Ausstellungen nehmen sich europaweit verstärkt des Themas an, und in neugestalteten oder überarbeiteten Dauerausstellungen wird der Komplex zum integralen Bestandteil musealer Präsentationen. Neben Migration als Thema für das Museum steht dabei zunehmend die Gründung eigenständiger Institutionen im Raum. Der neuartige Typ Migrationsmuseum soll dabei, seinen Vordenkern gemäß, die übergeordnete Relevanz des Themas signalisieren, einen Erinnerungs- und Repräsentationsort schaffen sowie eine Plattform zur Auseinandersetzung über heutige Einwanderungsgesellschaften bieten. Die Gründung solcher Migrationsmuseen betreiben derzeit Initiativen in Deutschland, der Schweiz und Frankreich.
Der Bedeutungsvielfalt entsprechen unterschiedliche disziplinäre Zugriffe: Während die Soziologie und, in noch stärkerem Maße, die Psychologie der Nostalgie durchaus positive Effekte beimessen, ist sie kaum irgendwo schlechter beleumundet als in der Geschichtswissenschaft, die im Vergleich mit anderen Disziplinen bisher eher wenig Interesse an einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit der Nostalgie gezeigt hat. Indem wir in diesem Themenheft Nostalgie-Diagnosen der Vergangenheit mit Reflexionen über die Gegenwart zusammenbringen und dabei verschiedene Zugänge inner- wie außerhalb der Geschichtswissenschaft vorstellen, wollen wir zu einem differenzierteren Umgang mit kulturellen und politischen Aspekten der Nostalgie, ihrer Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt, beitragen sowie eine stärkere zeitgeschichtliche Einordnung des Phänomens anregen.
In den 1960er- und 1970er-Jahren führten die Satiren von Ephraim Kishon (1924–2005) die westdeutschen Bestseller-Listen an. Wie erklärt sich diese Resonanz des israelischen Autors gerade in der Bundesrepublik? Während Kishons Beliebtheit von deutschen Leser*innen (und von ihm selbst) vor allem als ironische Wendung der Geschichte bezeichnet wurde, versucht der Beitrag den publizistischen Erfolg im Kontext der frühen deutsch-israelischen Beziehungen genauer zu bestimmen, indem Akteure und Strukturen des literarischen Feldes betrachtet werden. Zum einen wird Kishons Rezeption in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund von Versöhnungsrhetoriken und Auseinandersetzungen um den jüdischen Humor interpretiert. Zum anderen beleuchtet der Beitrag die Bedeutung der beteiligten Zeitungs- und Buchverlage. Die Verlagshäuser Langen Müller (Herbert Fleissner) und Ullstein (Axel Cäsar Springer) spielten eine besondere, politisch hochgradig ambivalente Rolle. Während dieses Netzwerk Kishon vor allem als Unterhaltungsautor darstellte, äußerte er sich nach dem Sechstagekrieg 1967 immer wieder auch politisch in deutschen Medien. Kishon trug damit zu einer Politisierung bei, die bis in die Gegenwart die Rezeption israelischer Literatur in der Bundesrepublik prägt.
Der Begriff „Imperium“ kehrt verstärkt in den historisch-politischen Diskurs zurück, und wer ihn heute benutzt, redet in der Regel über die Vereinigten Staaten von Amerika.1 Während des Kalten Krieges sprach man von „Blöcken“ oder „Lagern“, doch seit Beginn des neuen Jahrhunderts hat der Versuch, Geschichte als eine Folge von Großreichen zu denken, spürbar Aufwind. Eine solche Perspektive ist keineswegs neu; vielmehr kann sie auf eine lange Tradition zurückblicken. Der Klassiker des imperialen Genres ist Edward Gibbons Werk „Decline and Fall of the Roman Empire“ (1776-1788), das man zu seiner Zeit als Kritik an der westlichen Welt und Parabel auf die Krise des britischen Weltreiches lesen konnte.2 Parallel zur Rede über den Niedergang von Imperien diskutierte man seit dem Ende Roms ihre Übertragung. So prophezeite der britische Philosoph George Berkeley bereits 1752 eine transatlantische translatio imperii: „Westward the course of empire takes its way“, schrieb er und meinte die Neue Welt.3 Im 19. Jahrhundert war die Erwartung amerikanischer Größe schon ein Allgemeinplatz des politischen Denkens.4 Mit dem Eingreifen der USA im Ersten Weltkrieg und Woodrow Wilsons Credo, Amerikas Mission sei „to make the world safe for democracy“, endete die von den Gründervätern verordnete Ära der Isolation endgültig. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts waren die USA eine globale Weltmacht, und seit Ende des Zweiten Weltkrieges überstieg ihre militärische, ökonomische und kulturelle Macht diejenige anderer Nationalstaaten. Hier setzte die gegenwärtige Rede vom amerikanischen Imperium und dem „US-Imperialismus“ ein.
Eine oft übersehene Dimension der Auseinandersetzung bundesdeutscher Sicherheitsakteure mit dem international vernetzten Linksterrorismus ab den 1970er-Jahren ist die sogenannte Polizeihilfe für Staaten des Globalen Südens. Bundesdeutsches Know-how und Polizeitechnik made in Germany sollten die Polizeibehörden in Partnerländern modernisieren und so die internationale Anti-Terror-Zusammenarbeit verbessern. Der Aufsatz untersucht die Dynamiken solcher Kooperationen in Lateinamerika und stützt sich dabei vor allem auf Akten der beteiligten Bundesministerien. Westdeutsche Behörden stuften die Region aufgrund ihrer politischen Instabilität als möglichen Rückzugsort terroristischer Gruppen ein. Anders als oft dargestellt, folgten die Programme jedoch kaum einer außen- oder sicherheitspolitischen Gesamtstrategie. Vielmehr entwickelten sich die prestigeträchtigen Polizeihilfen zu einer symbolischen »Währung« für die Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren einer zunehmend transnationalisierten »Inneren Sicherheit«. Partnerschaften zwischen den Sicherheitsinstitutionen von demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik und Militärdiktaturen wie Brasilien, Chile oder Peru waren dabei die Regel.
Der chinesische Premierminister Zhou Enlai soll in den 1970er-Jahren einmal bemerkt haben, es sei noch zu früh, die Bedeutung der Französischen Revolution zu beurteilen. Obwohl das Zitat vermutlich apokryph ist, wird es immer wieder gern bemüht, um die Flüchtigkeit des historischen Urteils zu illustrieren. Wer in solchen Zeiträumen wie der virtuelle Zhou denkt, dem muss der Versuch, nach gerade einmal zehn Jahren die Frage zu beantworten, ob die Terroranschläge des 11. September 2001 eine historische Zäsur markieren, einigermaßen absurd vorkommen. In der Tat ist gegenüber dem inflationären Gebrauch bedeutungsschwerer Begriffe wie Revolution, Epoche und Zäsur eine gesunde Skepsis angezeigt, denn in der Rückschau pflegt sich der historische Stellenwert vieler Ereignisse, welche die Zeitgenossen in Atem hielten, zu relativieren. Historiker sind sich bewusst, dass es sich bei Zäsuren um nachträgliche Konstruktionen von begrenzter räumlicher, zeitlicher und sachlicher Reichweite handelt. Dass mit wachsendem Zeitabstand auch die Klarheit des historischen Urteils zunimmt, wie es das Zhou-Zitat offenbar zum Ausdruck bringen soll, ist jedoch nicht zwingend. Genauso gut lässt sich argumentieren, nur Zeitgenossenschaft befähige zu der Empathie, die nötig sei, das Bewusstsein der Mitlebenden für einen unerwarteten und intuitiv als fundamental empfundenen historischen Bruch zu erfassen. Wer, wie der Verfasser, den Fall der Berliner Mauer vor Ort erlebt hat, wird alle Versuche, den Zäsurcharakter des 9. Novembers 1989 zu bestreiten, als blutleere Stubengelehrsamkeit empfinden.
In den ersten Wochen der Kanzlerschaft Hitlers begann der Dresdner Romanist Victor Klemperer in seinem Tagebuch öffentliche Sprachereignisse und eigene Spracherlebnisse festzuhalten, die anzeigen, wie schnell und konsequent sich die Nazifizierung der deutschen Gesellschaft vollzog. Radikal erfolgte die sprachliche »Annullierung einer Welt«, deren Grundbegriffe kurz zuvor noch Geltung gehabt hatten. Der aus seinem Amt verjagte Gelehrte hielt beinahe täglich Beobachtungen über die Art und Weise fest, wie die staatliche Propaganda den Alltag durchsetzte: In allen Schichten und Lebensbereichen sprachen die Menschen nun »nazistisch«, grüßten anders, unterhielten sich anders, schimpften anders – und schrieben auch eine andere Wissenschaftsprosa, wie Klemperer teils ungläubig, teils verzweifelt an den Veröffentlichungen in seinem Fach konstatieren musste. Seine Notizen zur »LTI« (»Lingua Tertii Imperii«, »Sprache des Dritten Reiches«) führte er bis Mai 1945 fort (und später auch darüber hinaus). In einem Eintrag vom April 1937 hielt Klemperer das methodologische Credo der von ihm geplanten Sprachstudie fest, wenn er mit Blick auf den öffentlich zelebrierten Bekenntnisrausch der NS-Paraden, der Parteifahnen, Lieder und Schlagworte, das lateinische Sprichwort über Wein und Wahrheit zum Motto seiner Sprachkritik abwandelte: »In lingua veritas«. Diese Sentenz bündelte die Überzeugung Klemperers, der seine Sprachbeobachtungen zeitgleich auch in einem Brief an seinen Schwager Martin Sußmann erläuterte, der sich mit seiner Familie ins schwedische Exil retten konnte: »Die Arbeit bekommt eine psychologische und eine damit zusammenhängende historische Seite. […] Es ist nämlich nur zum kleiner[e]n und oberflächlichen Teile wahr, dass die Sprache dem Menschen zum Verbergen seiner Gedanken gegeben ist, vielmehr: sie verrät ihn.«
Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich
(2021)
Der Aufsatz entwickelt eine Typologie von Deindustrialisierungsregimen in globaler Perspektive und setzt diese in Beziehung zu drei verschiedenen Arten des Erinnerns an Industrialisierung und Deindustrialisierung: antagonistisches, kosmopolitisches und agonales Erinnern. In welcher Weise und in welchem Maße waren und sind nostalgische Formen des Erinnerns in den unterschiedlichen Deindustrialisierungsregimen präsent? Anknüpfend an bisherige Forschungen wird dafür plädiert, Nostalgie nicht bloß als rückwärtsgewandtes, antiquarisches Sentiment zu betrachten, sondern ihr Potential für die Konstruktion von Zukunft zu erkennen. Zugleich wird versucht, die Theorie des agonalen Erinnerns, wie sie von der Historikerin Anna Cento Bull und dem Literaturwissenschaftler Hans Lauge Hansen entwickelt wurde, für die Deindustrialisierungsforschung fruchtbar zu machen. Der Aufsatz ist ein Diskussionsangebot, wie man die Erinnerung an das Industriezeitalter für unterschiedliche Weltregionen verflechtungsgeschichtlich und vergleichend untersuchen kann – sei es in Südwales, im Ruhrgebiet oder im Osten Chinas.
In der Bundesrepublik und in der gesamten westlichen Welt außerhalb der USA wurde Auslandsbestechung bis Ende der 1980er-Jahre als ein legales Mittel der Exportförderung behandelt. Sie war straffrei und sogar steuerlich absetzbar. Das änderte sich erst im Zuge der »Compliance Revolution« der 1990er-Jahre. Der Beitrag analysiert diesen Wandel für die Bundesrepublik und untersucht die Debatten um die Auslandskorruption. Er konzentriert sich dabei auf die Positionen der Unternehmerschaft und der im Bundestag vertretenen Parteien. Ausgangspunkt ist der stabile Korruptionskonsens der Bonner Republik, der zunächst auch noch in der Berliner Republik Bestand hatte, dann aber unter dem Einfluss einer zunehmend kritischen Zivilgesellschaft und der internationalen Staatengemeinschaft zerbrach. Nachdem es unausweichlich geworden war, die Auslandskorruption zu ächten, wurde hartnäckig darum gerungen, mit welchen juristischen Mitteln sie zu bekämpfen sei. Am Ende eines von vielen Blockaden und Umleitungen verzögerten Prozesses stand ab 2002 die Strafbarkeit aller Arten von Auslandskorruption. Welche Ermittlungsinstrumente eingesetzt werden durften und wie effektiv die Strafverfolgung sein sollte, blieb jedoch weiter strittig. Der Aufsatz zeigt nicht zuletzt die Rückwirkungen internationaler Rechtsnormen für die nationalstaatliche Ebene.
»So darf es nicht weitergehen«, forderten im September 2019 hunderte deutsche Ärzte und Verbände des Gesundheitssektors. Sie formulierten eine flammende Anklage gegen »das Diktat der Ökonomie« und gegen eine »Enthumanisierung der Medizin« in Krankenhäusern und Arztpraxen. Dieser »Ärzte-Appell« ist ein aktueller Beitrag zu einer langjährigen intensiven Debatte um das Verhältnis von Gesundheit und Ökonomie. In der Öffentlichkeit stehen die »Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens« meist als Menetekel für eine »Medizin ohne Empathie« und für die Verschärfung sozialer Ungleichheiten am Krankenbett: Kinder, aber auch Migranten, Alte und Arme seien die Leidtragenden, wenn es »an Geld, Ärzten und Pflegern« fehle. Die Binnenperspektive eröffnet nicht minder alarmierende Einblicke. In einer Studie wurden 2018 zahlreiche Geschäftsführer und Ärzte an Kliniken zu betriebswirtschaftlichen Einflüssen auf ihre Arbeit befragt. Sie zeichneten ein bedrückendes Bild, das die Autoren der Studie wie folgt zusammenfassten: »Die Krankenhausmedizin nimmt fabrikmäßige Züge an, die medizinische Arbeit wird für das ärztliche und pflegerische Personal tendenziell als fremdbestimmt erlebt. [...] Insofern verändert die Ökonomisierung auch mittelbar den Charakter der Medizin.«
Since the late 1950s, nutrition experts have debated whether foods enriched with micronutrients such as protein could alleviate world hunger. Industrial production of such ›wonder foods‹ began in the 1960s, making the food industry an actor in international food aid. Following a brief review of the history of scientific nutrition research, the article analyzes the first boom of fortified foods between the 1950s and the 1970s. With particular reference to the NGO CARE and the Institute of Nutrition of Central America and Panama (INCAP) with its product Incaparina, it shows how the conflict-ridden cooperation between humanitarian actors, governments, business and science developed. In addition to looking at contemporary debates about prices, quality controls and marketing strategies, consumer perspectives must be considered in order to understand the success or failure of new products. After a temporary slump in euphoria from the 1970s onwards, ›wonder foods‹ have experienced a revival since the 1990s – mainly because the networks between governments, nutrition experts, international organizations and the food industry were further cultivated and greater consideration was given to the needs of consumers.
Seit den späten 1950er-Jahren diskutierten ErnährungsexpertInnen, ob mit Mikronährstoffen wie Protein angereicherte Nahrungsmittel den Hunger auf der Welt lindern könnten. Die industrielle Produktion solcher »Wonder Foods« begann in den 1960er-Jahren. Damit wurde die Lebensmittelindustrie zu einem Akteur in der internationalen Nahrungsmittelhilfe. Nach einem kurzen Rückblick auf die Geschichte wissenschaftlicher Ernährungsforschung analysiert der Aufsatz den ersten Boom angereicherter Nahrungsmittel zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren. Am Beispiel der NGO CARE und des zentralamerikanischen Ernährungsinstituts INCAP mit seinem Produkt »Incaparina« wird gezeigt, wie sich die konfliktreiche Kooperation zwischen humanitären Akteuren, Regierungen, Wirtschaft und Wissenschaft entwickelte. Neben dem Blick auf zeitgenössische Debatten über Preise, Qualitätskontrollen und Marketingstrategien müssen insbesondere KonsumentInnenperspektiven einbezogen werden, um Erfolg oder Scheitern neuer Produkte zu verstehen. Nach einem temporären Einbruch der Euphorie ab den 1970er-Jahren erlebten »Wonder Foods« seit den 1990er-Jahren ein Revival – vor allem deshalb, weil die Netzwerke zwischen Regierungen, ErnährungsexpertInnen, internationalen Organisationen und Lebensmittelindustrie weiter gepflegt wurden und die Bedürfnisse von KonsumentInnen mehr Berücksichtigung fanden.
What is the link between consumer society, fear of a nuclear war, design, modernity and utopia? According to the curators David Crowley and Jane Pavitt, the answer can be summarized in one concept: the Cold War. ‘Cold War Modern’ is an exhibit intending to show how the two postwar superpowers, the US and the USSR, engaged in aggressive contests in art, architecture and design in order to ‘demonstrate a superior vision of modernity’.
Wer sich heute über die Veränderung moderner Arbeit Gedanken macht, kommt an neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (I&K-Technologien) nicht vorbei. Ohne entsprechende Lösungen der Informationtechnologie (IT) sind aktuelle – und prominent diskutierte – Entwicklungen wie Cloud Working und Crowd Sourcing, permanente Erreichbarkeit und die damit verbundene Un-Kultur permanenter Verfügbarkeit in vielen Unternehmen ebenso wenig denkbar wie die Öffnung von Organisationsstrukturen durch den Einsatz von Social Media. Auch die häufig thematisierte Ökonomisierung der Binnenstrukturen und die verstärkte Shareholder Value-Orientierung in der Unternehmenssteuerung basieren wesentlich auf dem Einsatz von computergestützten Systemen des Enterprise-Resource-Planning. Nicht zuletzt spielen I&K-Technologien bei der Etablierung neuer Produktions- und Geschäftsmodelle sowie neuer Formen der Arbeitsorganisation eine wichtige Rolle und werden damit zum Ausgangspunkt von Veränderungen in der Arbeitswelt.
Die Pyrenäen bilden eine natürliche Grenze zwischen Frankreich und Spanien, zwischen dem europäischen Hauptland und der iberischen Halbinsel. Dort, wo sie nicht in den Himmel ragen, in ihren Tälern und auf ihren Passhöhen sowie an den Meeren, waren die Pyrenäen auch stets eine tierra de paso, eine Transitzone. An ihren östlichen Ausläufern gibt es zwei bedeutende Übergänge. Einer liegt im sanften, flachen Tal von La Jonquera und quert die Landesgrenze bei Le Perthus. Der andere kreuzt an der Küste am Coll dels Belitres zwischen Cerbère (Frankreich) und Portbou (Spanien). Daneben und dazwischen durchziehen kleine Wege die Landschaft, offizielle und inoffizielle, Pfade für Schmuggler, Verfolgte, Fliehende. Jede Gegend und jede Route hat ihre Konjunktur. Die Hoch-Zeit dieser Transitlandschaft, als sich die europäische Kriegs- und Verfolgungsgeschichte des 20. Jahrhunderts an dieser Grenze kristallisierte, war zwischen dem Winter 1938/39, als der spanische Krieg mit dem Sieg Francisco Francos endete, und den Jahren 1940/41, bevor im Sommer 1941 die systematische Vernichtung der europäischen Juden begann.
Geographische Informationssysteme (GIS) wurden bereits seit den 1960er-Jahren mit der beginnenden Computerisierung der Geographie entwickelt. Ihr Konzept folgt der Idee, Daten bzw. Informationen in ihren Raumbezügen zu organisieren und analysierbar zu machen. Mit der Weiterentwicklung und wachsenden Leistungsfähigkeit digitaler Infrastrukturen sind inzwischen komplexe Datenmodelle, flexiblere Datenformate, neue Formen der Visualisierung sowie umfassende geostatistische Analysen möglich geworden. Zudem sind kartographische Visualisierungen nicht mehr nur statisch, sondern in einem GIS können überdies Veränderungen der Daten im Zeitverlauf dargestellt und untersucht werden. Der Einsatz von GIS ist aus Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und medialer Kommunikation kaum noch wegzudenken. Die Produkte der Arbeit mit GIS umgeben uns vielerorts, oft ohne dass wir uns der dahinterliegenden Architekturen und Annahmen bewusst sind. Aktuelle Debatten über die Sammlung zeit- und geocodierter Daten, etwa über Mobiltelefone, um Personengruppen – Konsument*innen, Migrant*innen, Geflüchtete, Bürger*innen – retrospektiv, in Echtzeit oder mit prädiktiven Modellen auf der Grundlage biometrischer und/oder sozialer Daten zu tracken, haben mit Recht Fragen zum Datenschutz und zu ethischen Implikationen dieser Technologien aufgeworfen. Anwendungen GIS-basierter Technologien, etwa bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, dem Tracking von Verbreitungs- und Infektionswegen, der Entwicklung von Krisenreaktionsstrategien oder der medialen Kommunikation der Situation scheinen uns zugleich die beträchtlichen Potentiale der raum-/zeitsensiblen Datenanalyse – in Echtzeit – zu vermitteln. Deutlich wird, dass die ethischen, methodischen und epistemologischen Effekte der Verbreitung digitaler Werkzeuge zur Durchdringung wachsender und zunehmend komplexer Datenbestände einer mehrdimensionalen Reflexion bedürfen, die augenblicklich nur mühsam mit der Expansion der technischen Möglichkeiten Schritt hält.
Die moderne Versicherungswirtschaft entstand als Reaktion auf die vielfältigen neuen Risiken, die sich mit der Industrialisierung entwickelten. Die verstärkte Risikoabsicherung war verbunden mit einem Denken in Wahrscheinlichkeiten und deren rechnerischer Bestimmung. Ende des 19. Jahrhunderts war die Versicherungsindustrie bereits voll entwickelt, und der Staat erklärte das Versicherungsprinzip zur Leittechnik der Risikovorsorge. Heute stößt die Versicherungswirtschaft aufgrund der global wirksamen ökologischen, ökonomischen und terroristischen Risiken jedoch an ihre finanziellen Grenzen; sie kann mit der raschen Expansion der Risiken kaum noch Schritt halten. Der Aufsatz skizziert die Anfänge von Versicherungen sowie die Durchsetzung des Versicherungsprinzips vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts. Er gibt einige Hinweise zur weiteren Entwicklung von Versicherungen im 20. Jahrhundert und lenkt den Blick schließlich auf die neuartigen Probleme, denen sich Versicherungen in der „Weltrisikogesellschaft“ des beginnenden 21. Jahrhunderts ausgesetzt sehen.
Europa ist ein »Kontinent der Nostalgie«. So jedenfalls betitelte der Publizist Markus Somm im November 2018 einen Artikel in der »Basler Zeitung«. »Die Europäer verzweifeln an der Gegenwart. Früher war alles besser«, lautete der Untertitel. Den Aufhänger lieferte eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung unter mehr als 10.800 EU-Bürger*innen über ihr Verhältnis zur Vergangenheit und die daraus resultierenden Einstellungen zu gegenwärtigen Problemlagen. Ungeachtet dessen, dass die Fragen der Bertelsmann-Studie als suggestiv und die Ergebnisdeutungen als vereinfachend kritisiert werden können, ist bemerkenswert, welchen Widerhall diese »Nostalgie-Studie« in der deutschsprachigen Presselandschaft fand. Dabei war es nicht nur das Statement »Früher war alles besser«, das zahlreiche Tageszeitungen wiederholten, sondern auch der Verweis auf die politische Wirkungsmacht des Gefühls der Nostalgie. Die Autorinnen der Studie selbst behaupteten, Nostalgie sei »ein mächtiges Mittel der Politik«. Ob die Politik dieses Gefühl instrumentalisiert oder Nostalgie in spezifischen Kontexten per se politisch aufgeladen ist, ließen sie allerdings unbeantwortet.
»Apartheid tötet – boykottiert Südafrika!«. Plakate der westdeutschen Anti-Apartheid-Bewegung
(2016)
In ganz Nord- und Mitteleuropa bildeten sich in den 1960er- und 1970er-Jahren Anti-Apartheid-Bewegungen, die durch Aktionen in ihren Heimatländern den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika unterstützen wollten. In der Bundesrepublik Deutschland wurde am 21. April 1974 im niedersächsischen Othfresen (südlich von Salzgitter) der Verein »Anti-Apartheid-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin« (AAB) gegründet. Zu diesem ersten Treffen eingeladen hatten der Mainzer Arbeitskreis Südliches Afrika (MAKSA) – ein 1971 entstandener Zusammenschluss evangelischer Kirchenmitarbeiter, die selbst einige Jahre in Südafrika tätig gewesen waren und meist wegen ihrer Haltung zur Apartheid das Land hatten verlassen müssen –, die Arbeitsgruppe »Freiheit für Nelson Mandela«, die aus dem MAKSA 1973 unter der Federführung des Stuttgarter Pfarrers Karl Schmidt hervorgegangen war, sowie der Pfarrer Hans-Ludwig Althaus. Sie wollten über die Situation in Südafrika informieren und Protest gegen die Apartheid mobilisieren. Sie kritisierten insbesondere die Zusammenarbeit der Bundesregierung und westdeutscher Unternehmen mit dem Apartheid-Regime. Der Begriff Anti-Apartheid-Bewegung hat aber eine doppelte Bedeutung: Neben dem Namen des Vereins bezeichnet er zugleich allgemein die gesellschaftliche Bewegung derer, die sich gegen die Apartheid in Südafrika engagierten. Diverse Gruppen waren daran beteiligt; im Laufe der Jahre erstellten sie eine Fülle von Plakaten. Dieser Beitrag soll einen Einblick in die verschiedenen Gestaltungsformen der Anti-Apartheid-Plakate in der Bundesrepublik geben.
Bernd Greiner präsentiert in seinem konzisen Überblick die jüngeren Tendenzen der Cold War Studies. In dreifacher Hinsicht habe sich der historische Blick geöffnet: Zum einen seien die Cold War Studies einer multipolaren bzw. transnationalen Perspektive verpflichtet, zum Zweiten führten sie zu einer Neugewichtung der beteiligten Akteure, und zum Dritten entwickelten sie eine Gesellschaftsgeschichte des Kalten Kriegs, die Bereiche des kulturellen und sozialen Lebens berücksichtige, die in den klassischen Meistererzählungen bisher vernachlässigt würden.
Timothy S. Brown highlights in his article that the year „1968” must be conceived as a cipher for the political and social change in the second half of the 20th century. He inquires the generational connection and the transnational entanglement of the “Global Sixties”. Despite the numerous research in the course of the 50th anniversary of “1968” remains the subject fruitful: Brown points out the potential of interdisciplinary studies, which give more weight to the cultural aspects of “1968” and the new kinds of the political, focus on the analysis of reactions of the states and their elites as well as on the changes in gender relations and in general on the long-term effects of this “epoch-making” year.
Vor zehn Jahren konnte man des Lobes voll sein: Viele Facetten des „Großen Krieges“ wurden beleuchtet und auch verschiedene Formen des Gedenkens berücksichtigt. Zahlreiche gut erklärte Exponate waren zu sehen, und ein ebenso umfassender wie interessanter Katalog rundete die Ausstellung ab, die das Deutsche Historische Museum (DHM) 1994 unter dem Titel „Die letzten Tage der Menschheit - Bilder des Ersten Weltkrieges“ im Berliner Alten Museum präsentierte. Auch die Ausstellung „Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918“, 1998 ausgerichtet vom Osnabrücker Museum Industriekultur, verdiente höchstes Lob für die Ausstellungskonzeption, die gut präsentierten und erläuterten Exponate sowie den vorzüglichen Katalog.
Sowohl der Aufstieg der christlichen Rechten in den USA als auch der 11. September 2001 und seine Folgen haben erneut gezeigt, dass Religion und Politik keine Dichotomien darstellen, sondern vielfach miteinander verflochten sind. Das für die Erklärung dieses Sachverhaltes eminent wichtige Konzept der „Zivilreligion“ ist aber bislang hauptsächlich in den USA diskutiert worden und gerade von HistorikerInnen (sträflich) vernachlässigt worden. Wir plädieren im Folgenden für eine „offenere“ Definition von Zivilreligion sowie für eine intensivere Nutzung des Konzepts, um Phänomene des Religiösen im Politischen zu erklären sowie Politik-, Kultur- und Kirchengeschichte stärker miteinander zu vernetzen.
Institutionen, Ideen oder Deutungsmuster lassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven erforschen. Für gewöhnlich wird vor allem die Perspektive der untersuchten Akteure analysiert. Wer als Historiker über die Sozialdemokratie, das Militär oder die Bildung in einer bestimmten Zeit arbeitet, wertet vornehmlich die Schriften, Dokumente oder Statistiken aus, die die damit verbundenen Organisationen selbst produzierten. Ähnliche Ansätze verfolgte auch die Religions- und Kirchengeschichte lange Zeit, indem sie sich auf Quellen der kirchlichen Institutionen konzentrierte, auf deren Akteure, Texte, Statistiken oder auf die Lebenswelt religiöser Gruppen. Allerdings erscheint es in modernen Gesellschaften unzureichend, Institutionen oder weltanschauliche Gruppen vornehmlich von ihrer Selbstbeschreibung her zu begreifen. Gerade Beharrungs- oder Wandlungsprozesse sind zumeist auch mit externen Veränderungen und Außendeutungen verbunden. Wer den Wandel der Sozialdemokratie, der Universitäten oder eben der Kirchen erklären will, muss die von außen an sie herangetragenen Erwartungen und Deutungen ebenfalls einbeziehen, da gerade Großorganisationen sich eher durch Außendruck bewegen.
Annette Vowinckel weist in ihrem Artikel eingangs auf unterschiedliche Forschungsfelder hin, in denen sich Mediengeschichte bewegt. Um jedoch die differenten Zugänge zur Mediengeschichte adäquat zu verstehen, sind die unterschiedlichen disziplinären Forschungsansätze, Forschungstraditionen und Mediendefinitionen deutlicher zu vergegenwärtigen.
Im Jahr 2000 bemerkte Wilfried Loth, dass unter deutschen Historikerinnen und Historikern bislang selten systematisch über Internationale Geschichte nachgedacht worden sei. Bis heute ist mit dem Ansatz der Internationalen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts eher eine Perspektive auf die „große Politik“ und auf die klassische Diplomatiegeschichte verbunden. Daran hat auch die inzwischen weitgehend etablierte Umbenennung der „Geschichte der internationalen Beziehungen“ in „Internationale Geschichte“ nur wenig geändert. Die Bände, die in der von Loth gemeinsam mit Eckart Conze, Anselm Doering-Manteuffel, Jost Dülffer und Jürgen Osterhammel seit 1996 herausgegebenen Reihe „Studien zur Internationalen Geschichte“ erschienen sind, öffneten sich zwar durchaus sozial- und kulturhistorischen Ansätzen. Das Repertoire der Globalgeschichtsschreibung ist hier aber noch nicht ausgeschöpft worden. Innovative globalhistorische Monographien, wie beispielsweise Sebastian Conrads Untersuchung zu „Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich“, liegen für die deutsche Zeitgeschichtsforschung noch nicht vor. Für das ‚lange 19. Jahrhundert‘ hat Conrad es verstanden, gerade das Deutsche Kaiserreich als nationales Gebilde in den Bezugsrahmen Internationaler Geschichte einzuspannen und hierbei den deutschen Nationalismus „auch als Produkt und Effekt von Interaktionen, Austausch und Zirkulation innerhalb einer zunehmend vernetzten Welt“ zu analysieren.
„Generation” ist ein geschichtlicher Grundbegriff. Er verspricht, eine spezifische Ausprägung des Denkens, Fühlens und Handelns zu erklären, indem die unterstellte dauerhafte und gleichartige Wirkung von Sozialisationsbedingungen auf eine Gruppe von Menschen als kollektive Erfahrung aufgefasst wird.
Das Erdklima hat auch früher Phasen der Erwärmung und Abkühlung erlebt, ich gehe jedoch davon aus, dass die gegenwärtige globale Erwärmung im Wesentlichen anthropogen, also von Menschen gemacht ist. Die Idee einer anthropogenen globalen Erwärmung ist nicht neu, es gibt sie schon mindestens seit der Zeit der Aufklärung. Heute wird diese Hypothese jedoch auf breiter Front von der Klimaforschung gestützt.
Few of Hannah Arendt’s declarations have had as enduringly a controversial legacy as the one she gave in her famous 1964 West German television conversation with Günter Gaus, proclaiming uncompromised loyalty to her first language – German – despite Hitler. The statement was misconstrued as a privileging of the language of the perpetrators and expressing a bias against Eastern European Jews. In conversation with the recent ›Taytsh turn‹ (Saul Zaritt) in Yiddish Studies, this article focuses instead on two Yiddish newspaper articles published by Arendt in 1942 and 1944 and explores what I call a ›Taytsh move‹ in Arendtʼs language politics. Taytsh, an alternative name for the Yiddish language meaning, literally, German, foregrounds (Jewish) cultures’ inherent translational mode and interconnectivity with the world that makes and sustains these cultures. Arendt reactivated the inherent unbordered nature of languages – with an awareness of the dangers of monolingualism; for the sake of overcoming reductive constructions of Jewishness and modern identity; against the atomizing forces of fascism.
I first came across Harlan Lane’s work towards the end of my PhD, which I was undertaking at University College London, UK. My dissertation was on the construction of ›difference‹ in the British Empire, particularly the differences ascribed to race and gender. Using nineteenth-century medical missionaries as a way in, I had started to think about differences evoked by health, disability, and the body. In particular, I noted the way in which missionaries used the language of disability as a discourse of racialisation. The African and Indian colonial subjects they encountered were described throughout missionary literature as ›deaf to the Word‹, ›blind to the light‹ and ›too lame‹ to walk alone. I have two d/Deaf cousins, one of whom is the sign language sociolinguist Nick Palfreyman, and around about this time Nick had started to familiarise me with some of the issues surrounding Deaf politics. Becoming interested and wanting to know more, I began to learn British Sign Language (BSL) and contemplate the connections between the historical work I was doing and contemporary struggles of Deaf politics and disability politics (I was particularly interested in DPAC – Disabled People Against Cuts – given the contemporary climate of austerity in the UK). As I did so I became acquainted with the work of Harlan Lane. Here, although acutely aware of my own positionality as a white, British, hearing woman, I have taken up the challenge set by the editors of this special issue to re-read his work twelve years on from my initial encounter with it, using the insights into postcolonial study I have gained through my historical work.
Manche Bücher sollte man besser vom Ende her lesen, lässt sich doch so ihr archimedischer Fluchtpunkt rasch entdecken. Gewiss, für Kriminalromane empfiehlt sich eine solche Lesart nicht, wohl aber für diesen Essay-Band Hans Magnus Enzensbergers. Darin schließt der Autor seine Reiseberichte aus sieben Ländern mit einem »Epilog« ab, in dem ein fiktiver amerikanischer Journalist namens Timothy Taylor im Jahr 2006 den ebenfalls fiktiven finnischen EG-Präsidenten Erkki Rintala interviewt, der von seinem Amt freiwillig zurückgetreten ist, nachdem er wegen seiner Erfahrungen in den Korridoren der Brüsseler Politik zu einem Gegner der europäischen Integration geworden war.
In den 1990er-Jahren ist das Interesse am Ersten Weltkrieg nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch seitens populärer Geschichtsdarstellungen enorm gestiegen – ein Trend, der bis in die jüngste Vergangenheit angehalten hat. So erlebte das Jahr 2014 eine Vielzahl von Publikationen, Diskussionen, Ausstellungen und Fernsehsendungen zum Thema. Dabei fällt es auch Fachleuten schwer, angesichts des historischen Groß- und Medienereignisses die Übersicht zu behalten. Um diesem mannigfaltigen medialen Angebot ein wissenschaftlich fundiertes Überblicksportal an die Seite zu stellen, wurde im Oktober 2014 die Website »1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War« freigeschaltet, die seither stetig erweitert wird. Um es vorwegzunehmen: Sie besticht durch eine Fülle an erhellenden und thematisch neuen Artikeln zum Ersten Weltkrieg. Mit einer dezidiert globalen Perspektive und verschiedenen Zugriffen (inhaltlich, zeitlich, regional) bietet sie nicht nur gezielte Rechercheoptionen, sondern lädt bewusst zum Stöbern und Lesen ein. Dabei weist das Portal eine sinnvolle und nachvollziehbare Systematik auf.
Keine Stunde Null. Sozialwissenschaftliche Expertise und die amerikanischen Lehren des Luftkrieges
(2020)
Alle Kriegsparteien bombardierten im Zweiten Weltkrieg Ziele, die lange Zeit als zivil gegolten hatten. Diese sogenannten strategischen Bombardierungen wurden im Auftrag der US-Regierung ab dem Kriegsende mit einem Stab von über 1.000 Mitarbeitern in Deutschland und Japan aufwendig evaluiert (United States Strategic Bombing Survey, USSBS). Mithilfe ambitionierter Sozialwissenschaftler gelang es der jungen US Air Force, den strategischen Luftkrieg als militärisch und psychologisch entscheidend darzustellen, und so taten sich für die Luftkriegsexperten auch nach 1945 attraktive neue Beschäftigungsfelder auf. Die Wissenschaftler argumentierten, sie seien in der Lage, methodisch abgesichert einen schnellen und vermeintlich »sauberen« Krieg aus der Luft zu planen. Der Aufsatz stellt die bisher kaum erforschten Logiken und Folgen dieser Kooperation sowie die behaupteten Lehren des Weltkrieges für den Korea- und den Vietnamkrieg dar. Damit hinterfragt er das gängige Verständnis einer radikalen Zäsur, die der erste Einsatz der Atombombe mit sich gebracht habe, und plädiert für einen neuen Blick auf die Militär-, Gewalt- und Wissensgeschichte des »Kalten Krieges«.
Seit 2004 ist in Berlin vielfach die Einrichtung eines speziellen Museums zur Geschichte des Kalten Krieges gefordert worden. Auslöser war ein Projekt Alexandra Hildebrandts, der Leiterin des Mauermuseums/Haus am Checkpoint Charlie. Auf einer Freifläche neben dem Grundstück des Mauermuseums eröffnete sie am 31. Oktober 2004 ein privates Denkmal. Es bestand aus einem aus Originalteilen neu zusammengesetzten Stück der Berliner Mauer und 1.065 Holzkreuzen. Die Kreuze waren überwiegend mit Namen und Fotografien versehen und sollten an diejenigen erinnern, die infolge der deutschen Teilung zu Tode gekommen waren. Im Juli 2005 wurde das Areal von der Polizei zwangsgeräumt, da Hildebrandt die Pacht für das Grundstück nicht mehr bezahlen konnte. In der publizistischen Debatte, die diese Aktion begleitete, ging es zunächst einmal um die genaue Zahl der Mauertoten und um angemessene Formen des Gedenkens an die Opfer der deutschen Teilung, mittelbar aber auch um die historische Bewertung der Rolle Berlins im Kalten Krieg. Der Streit über die Umsetzung eines fachlich fundierten Erinnerungskonzepts am Checkpoint Charlie und somit über die Deutungshoheit im Hinblick auf den Kalten Krieg entbrannte zwischen Pressevertretern unterschiedlicher politischer Lager, der Berliner Landespolitik und engagierten Wissenschaftlern – ein klassischer geschichtspolitischer Konflikt.
The centennial of the outbreak of World War I in the summer of 1914 has already produced a wave of new books, exhibitions, documentaries, films, articles, websites, and research projects on the war and will continue to do so over the course of the next years, at least until the centenary of the armistice in 2018. One might witness this rising tide with mixed feelings: the arbitrariness of anniversaries and the ambivalent suggestive power of round numbers are a topic which merits reflection in and of its own. But the First World War has continued to be of lasting and even growing interest for historians over the past decades independently of anniversaries. Jay Winter and Antoine Prost have noted that the number of volumes that were catalogued in the British Library under the rubric of ›The World War, 1914 to 1918‹ quadrupled between 1980 and 2001, and Roger Chickering gathered further evidence for the ›enduring charm of the Great War‹ in 2011. At the same time, these last decades have witnessed a number of methodological shifts and changes within the historical profession, which also affected the study of the First World War. The centennial might therefore be a good opportunity for taking stock of the current state of affairs in World War I studies and for pondering their possible future directions. This is why our journal has decided to contribute to the rising tide of World War I publications with a roundtable discussion.
In den heutigen »wissens- und technologieintensiven« Zeiten, so könnte man annehmen, drehen sich Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr um Immaterielles. Manche hoffen sogar, dass diese post-industrielle Revolution der Weltwirtschaft den Schub geben wird, den sie braucht, um weiterhin auf einem Wachstumspfad zu bleiben und – dieses kleine Detail bleibt oft unerwähnt – weiterhin eine asymmetrische Verteilung von Produktivität und Einkommen sicherzustellen. Warum sollte sich also ein Themenheft der »Zeithistorischen Forschungen« ausgerechnet jetzt mit dem »Wert der Dinge« beschäftigen, wo diese doch gerade zusammen mit der industriellen Produktion an Bedeutung zu verlieren scheinen? Gewählt haben wir dieses Thema nicht primär aufgrund der Konjunktur, welche die dinglichen Dimensionen der Vergangenheit momentan in der Geschichtswissenschaft genießen, sondern eben aufgrund der Rede vom Bedeutungsverlust des Materiellen. Sie macht es notwendig, den vermeintlichen Gegensatz zwischen Dingen und Menschen oder zwischen Stoffen und Gedanken neu zu fassen.
Nach 1989/90 wurde kriegerische Gewalt innerhalb Europas auf neue Weise zum Thema und gerade auch für Intellektuelle zu einer unerwarteten Herausforderung. Die Diskussion unter deutschsprachigen Schriftstellern über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien war hauptsächlich eine Debatte um Peter Handke. Sie fungierte als eine Art Stellvertreterdebatte, während engagierte politische Interventionen deutscher Literaten meist ausblieben. In seinen kontroversen Texten seit 1996 versuchte Handke einen ‚dritten‘ Standpunkt jenseits der zweiwertigen Logik des politischen Diskurses in den Medien zur Geltung zu bringen. Dennoch tendierte sein ‚poetischer‘ Blick auf Serbien zunehmend zur politischen Parteinahme, wie etwa seine Annäherung an den in Den Haag angeklagten serbischen Präsidenten Miloševic zeigt. Obwohl seine Sprache eine Alternative zum ‚herrschenden‘ medialen Diskurs suchte, wurde sie wie die Figur ‚Peter Handke‘ letztlich von den Regeln der politischen Öffentlichkeit absorbiert.
Hannah Arendts Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” ist ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Buch.[1] Sein Genre ist schwer auszumachen. Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne ist es nicht. Auch handelt es sich nicht um ein systematisches Werk der politischen Theorie oder Philosophie. Ein Hinweis auf die Gattung ergibt sich aus Stil und Sprache: Ihnen ist ein auffällig rhetorischer, ein gleichsam verschärfender Zug eigen. (...)
Wiederveröffentlichung von: Dan Diner, Kaleidoskopisches Denken. Überschreibungen und autobiographische Codierungen in Hannah Arendts Hauptwerk, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 37-41.
Die „Dritte Welt“ hat es nur als abstraktes wirkmächtiges zeitgenössisches Ordnungsmuster der Welt gegeben. Der Begriff wurde von imaginären und tatsächlichen Entwicklungen in den Ländern Asiens und Afrikas sowie zum Teil auch Lateinamerikas geprägt. Jürgen Dinkel zeigt die entsprechende Aufladung des schillernden Begriffs ebenso wie das jeweils politische und wirtschaftliche Agieren dieser an sich sehr unterschiedlichen Länder auf, um mit der Historisierung von Geschichte und Semantiken der Dritten Welt zu beginnen.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist auch in Deutschland ein steigendes öffentliches und wissenschaftliches Interesse an kriegerischen Konflikten zu beobachten. War dieses Forschungsfeld lange vor allem Zeithistorikern und -historikerinnen vorbehalten, so interessieren sich zunehmend auch die Politik- und Sozialwissenschaften für das Gebiet, was sich an einer Fülle von Publikationen und Konferenzen zeigt. Besonders mit dem Erscheinen von Herfried Münklers Buch „Die neuen Kriege“ (2002) ist eine lebhafte Diskussion entbrannt. Münkler konstatiert in seinem Werk die Entstehung einer neuen Form von Kriegen: Die Kriegsakteure hielten sich nicht mehr an Regeln; die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten sei aufgehoben; und die Kriege hätten in erster Linie einen ökonomischen Hintergrund. Ob man nun von „neuen“, „asymmetrischen“, „kleinen“ oder „low-intensity-Kriegen“ sprechen will: Die AKUF distanziert sich von der Vorannahme, die aktuellen Konflikte seien eine gänzlich neue Entwicklung.
In seinem Beitrag über „Amerikanisierung und Westernisierung“ widmet sich Anselm Doering-Manteuffel zwei bedeutenden Formen des Kulturtransfers in der Mitte des 20. Jahrhunderts. „Amerikanisierung“ bezeichnet im Wesentlichen den wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss Amerikas und die Adaption von Gebräuchen, Verhaltensweisen, Bildern und Symbolen in Politik, Kunst und Alltagswelt. „Westernisierung“ beschreibt hingegen die politisch-ideelle Homogenisierung Westeuropas, die Sozialliberalisierung sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien sowie ganz konkret die Beeinflussung der westdeutschen publizistischen und akademischen Öffentlichkeit mit dem Ziel, deren antiwestliche und antiliberale Traditionen zu durchbrechen.
Für dieses Buch muss man sich etwas Zeit nehmen. Ich hatte die gut 700 Seiten umfassende amerikanische Originalausgabe von »Mechanization Takes Command« (den Titel kürzte Giedion in seinen Notizen mit dem Akronym »M.T.C.« ab) im Sommer 2017 im Amtrak California Zephyr auf meiner Reise von Greenriver, UT, nach Chicago, IL, im Gepäck. Diese Reise bot aktualisiertes Anschauungsmaterial zu Giedions Sondierungen der US-amerikanischen Industrialisierungsgeschichte. Sie folgte jener Eisenbahnlinie, welche Kalifornien (wo die Frontier-Gesellschaft Amerikas im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihr Ende gelangte) mit Chicago verbindet (der nach dem großen Brand von 1871 zur Industriemetropole avancierten Stadt am Lake Michigan). Dazwischen öffnete sich der Midwest, dessen verrostete und verlassene industrielle Infrastruktur (Bahnhöfe, Fabriken, Brücken, Städte) durch das Zugfenster ins Blickfeld geriet und somit den Endpunkt der von Giedion dokumentierten Entwicklungen brutal vor Augen führte. Die heruntergewirtschafteten Landschaften des Midwest und Giedions Streifzüge in ihre Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts flossen ineinander über. Etwa dann, wenn der Zug stillstand und mein Blick bei den Getreide-Elevatoren hängen blieb, wo sich die Eisenbahnlinien kreuzen und der Personenzug den unendlich langen Güterwagen, die von Diesellokomotiven angetrieben werden, den Vortritt lassen musste. Oder wenn ich beim mäandrierenden Durchblättern des Buches und dem Blick aus dem Zugfenster den Faden verlor und eindöste – und dann beim Eindunkeln jäh von den sleeping car attendants, welche die ausklappbaren Sitze für die Nacht mit ein paar Handgriffen zu Betten umwandelten, in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Oder im Nachfolgemodell des von George M. Pullman 1869 in seinem Patent beschriebenen Speisewagens, wo die Reisende aus Europa und Wählerinnen des amtierenden Präsidenten sich am gemeinsamen Tisch zum Verzehr von Burger, Steaks und Hot Dogs wiederfanden. Jenes Präsidenten, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Re-Industrialisierung abgehängter Regionen im einst prosperierenden Rostgürtel der USA versprach.
Ein Foto von der US-amerikanischen Flaggenhissung auf der japanischen Insel Iwo Jima vom Februar 1945 entwickelte sich noch während des Zweiten Weltkrieges zu einer national mobilisierenden Ikone für letzte Kriegsanstrengungen. Nach dem Krieg betonte das US Marine Corps mit diesem Foto seine Leistungen und seine Eigenständigkeit. Ein Bronzedenkmal, das 1954 am Rande von Arlington eingeweiht wurde, war gleichsam die dreidimensionale Umsetzung des Fotos und Ausdruck des Selbstbewusstseins des Marine Corps. Dieser Beitrag geht der Konkurrenz nationaler Indienstnahme und sektoraler Interessen bis in die Gegenwart nach. Aufgezeigt werden die unterschiedlichen medialen Repräsentationen der Iwo-Jima-Geste und ihre wechselnden Bedeutungen – beispielsweise die fotografische Aktualisierung im Zusammenhang des 11. September 2001. So entsteht ein Panorama der nationalen Ikonographie der USA seit dem Zweiten Weltkrieg.
Der „Kalte Krieg“, so er sich denn als sinnvoller Epochenbegriff durchsetzt, sollte vorerst nicht insgesamt musealisiert werden. Eine Darstellung der Teilung Berlins, Deutschlands und Europas, aber auch der wechselnden und fortdauernden Verflechtungen würde einen bescheideneren und angemesseneren Rahmen bilden. Eine Ausstellung könnte dabei ein Kern sein, sollte jedoch vor allem eines leisten: eine vielfältige Erinnerungslandschaft in Berlin, in Deutschland, in Europa erschließen und neugierig auf sie machen.
This article explores the variability and the limits of the political in regard to cyclists‘ unions in Germany and the Netherlands between 1900 and 1940. In both countries, cyclists formed national consumer organizations, mixing consumer demands with social and even political im-plications. The Dutch Cyclists‘ Union managed to establish herself as an eminent political actor and „system builder“ with lasting impact on traffic legislation and road construction. While liber-als were loosing the political majority in Dutch parliament, the Cyclists‘ Union became a strong-hold of Dutch liberalism outside the narrow confines of the old institutionalized political arena. In contrast, German cyclists‘ dreams of opening up social elites and fostering social and political change through the bicycle were shattered. The bicycle, which had started off as a luxury good in the 1890s and had become a common means of transport by the 1920s, was more suitable for political communications „from top to bottom“. Old liberal elites in the Netherlands were quite successful in making use of this consumer object in order to reformulate their existing claims to power and create new realms of the political. A transformation of social and political conditions, „from the bottom up“, as it was hoped for by part of the German cyclists‘ movement, however, turned out to be utopian.
Staudammbauten in Afghanistan, Ahmed Ben Bella und wie er die Welt sah, die Fotos hungernder Kinder in Nigeria und Bangladesch, amerikanische Agrarwissenschaftler, die in Manila Reissorten züchten, Chinas Werben um Afrika, eine UN-Erklärung, niemals umgesetzt, über die Errichtung einer »Neuen Weltwirtschaftsordnung« – wer hätte vor 20 Jahren vorausgesagt, dass diesen Episoden einmal symptomatische Bedeutung zugemessen würde, wenn es um das Verständnis der internationalen Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht. Wie stark sich das geschichtswissenschaftliche Bild des Zeitraums gewandelt hat, lässt sich tatsächlich, noch vor allen interpretatorischen Einordnungen und methodischen Konzeptualisierungen, besonders eindrücklich an der Fülle neuen Wissens ablesen, das historische Studien in den letzten gut 15 Jahren hervorgebracht haben. Weltregionen, über die man wenig wusste, Akteure, die eher im Hintergrund operierten, politische Projekte, die nebensächlich erschienen, Konflikte, die als sekundär galten, sind inzwischen eingehend erforscht.
Die Bedeutung der Apartheid für die internationale Menschenrechtspolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt in ihrer Exzeptionalität: Kein anderes Thema stand so lange auf der menschenrechtspolitischen Agenda, nämlich von den späten 1940er-Jahren bis zum Ende der Minderheitsherrschaft 1994, als der »Kalte Krieg« schon einige Jahre vorüber war. Keine andere Regierung erfuhr in dieser Zeit eine stärkere internationale Isolierung als die südafrikanische. Kein anderes Staatsverbrechen zog in der internationalen Politik, unter zivilgesellschaftlichen Aktivisten und in der medialen Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit auf sich, als es die Rassendiskriminierung am Kap während der Hochphase der weltweiten Entrüstung gegen Ende der 1980er-Jahre tat. Das Faszinosum der transnationalen Geschichte Südafrikas besteht nicht in dem, was an ihr typisch, sondern in dem, was an ihr besonders ist.
„Was machen Sie eigentlich noch außer Afrika?“, fragte mich vor einigen Jahren ein jeder Ironie unverdächtiger Professor für Neuere, also vor allem deutsche Geschichte. Denn noch immer gilt in der „Zunft“ deutscher Historiker zwar als breit ausgewiesen, wer seine Forschungsschwerpunkte etwa im Kaiserreich und in der DDR-Geschichte hat - die Beschäftigung mit fast 50 Ländern südlich der Sahara (oder analog etwa mit Lateinamerika) über mehrere Jahrhunderte hinweg wird in der Regel als exotisches Laster angesehen, dem allenfalls ergänzend zu frönen sei. Nun ist Provinzialismusschelte auf die Dauer für alle Beteiligten ermüdend; der Nachweis etwa, dass hierzulande ausgerechnet methodisch als besonders progressiv daherkommende Fachorgane sich als regional besonders introspektiv, nämlich germanozentrisch erwiesen haben, ist ohnehin längst - und sine ira et studio - geführt worden.
Im Gegensatz zu Teilen Asiens, wo die Unabhängigkeitskämpfe etwa in Indochina und Malaya durch langjährige militärische Auseinandersetzungen gekennzeichnet waren, kam es auf dem afrikanischen Kontinent nur in Algerien zu einem vergleichbar blutigen Dekolonisationskrieg. Das heißt freilich nicht, dass das Ende der europäischen Empires im Rest von Afrika ein friedlicher Prozess gewesen wäre. In der britischen Siedlerkolonie Kenia etwa mussten im Zuge des so genannten Mau-Mau-Aufstandes Tausende von Menschen ihr Leben lassen. Mehr als 1.000 Afrikaner wurden auf der Grundlage von hastig verabschiedeten Antiterrorgesetzen gehenkt, weit mehr als in jedem anderen kolonialen Konflikt einschließlich Algeriens.1 Doch es war vor allem der Algerienkrieg, welcher sich im Bewusstsein der Zeitgenossen mit spätkolonialer Gewalt und Gegengewalt verknüpfte.2 Und wie kaum ein zweiter Autor hat der intensiv am algerischen Unabhängigkeitskampf beteiligte Frantz Fanon damalige Debatten über den Prozess der Dekolonisation, über die Berechtigung antikolonialer Gewalt sowie über die Zukunft der „Dritten Welt“ geprägt.
Im Frühjahr 2020 tauchten die Begriffe »Postkolonialismus«, »postkoloniale Theorie« und verwandte Kategorien mit ungewohnter Dichte in den deutschen Feuilletons auf, waren Gegenstand von Streitgesprächen im Radio und aufgeregten Twitter-Kommentaren. Zentraler Anlass für die ambivalente Hausse des Postkolonialismus war die Erklärung des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, der Kameruner Historiker Achille Mbembe sei wegen antisemitischer Positionen als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale »nicht geeignet«. Daraus entwickelte sich eine heftige und durchaus verwirrende Debatte, in der Klein und gleichgesinnte Mbembe-Kritiker*innen des Rassismus und McCarthyismus gescholten wurden, während andere anhand weniger Passagen aus Mbembes umfangreichem Werk nicht nur darauf insistierten, er sei Antisemit und »Israel-Hasser«, sondern zugleich die »postkoloniale Theorie« anprangerten, als deren wichtiger Vertreter Mbembe gilt. Irritierend daran war nicht allein der Gestus, mit dem beispielsweise so mancher Journalist auftrat, als sei er der erste, der Kritik am Postkolonialismus oder an Mbembe übe. Insgesamt fiel zudem auf, wie sehr die Debatte auf einer bestenfalls oberflächlichen Lektüre relevanter Texte basierte. Dies galt zum Teil auch für jene, die etwa die Antisemitismusvorwürfe gegen Mbembe vehement ablehnten. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die in der Öffentlichkeit rasch zu einer der führenden Verteidiger*innen Mbembes aufstieg, gestand zunächst freimütig ein, sie könne seiner Theorie eigentlich gar nicht so richtig folgen.