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Die Zeit der weitreichenden antikommunistischen Repression in den USA zwischen 1947 und 1954, verkürzt als McCarthyism bekannt, ist bis heute ein bedeutsamer Bezugspunkt - sowohl in politischen Debatten wie innerhalb der Historiographie. Während ein erster Abschnitt des Beitrags einen Überblick zum McCarthyism gibt und dabei den Stellenwert von Denunziationen diskutiert, widmet sich ein zweiter Teil am Beispiel des Theater- und Filmregisseurs Elia Kazan konkret der Frage, wie Denunziationen in zeitgenössischen Debatten als liberale, staatsbürgerliche Akte gedeutet und gerechtfertigt wurden. Unter Bezugnahme auf Michel Foucaults Theorie der Gouvernementalität wird erkennbar, dass die zur patriotischen Tat umgedeutete Denunziation für den antikommunistischen Liberalismus nach 1945 die Funktion einer maßgeblichen Selbsttechnologie besaß.
Historische Ausstellungen und Museen haben in der Bundesrepublik seit mehr als drei Jahrzehnten Konjunktur. Seit den 1970er-Jahren häufen sich die Sonderausstellungen zu historischen Themen, und es gibt einen bisher ungebrochenen Museumsboom. Beobachten lässt sich nicht nur eine stetige quantitative Zunahme von und ein wachsendes öffentliches Interesse an historischen Ausstellungen; zugleich bildeten sich auch neue Ausstellungstypen und Präsentationsformen heraus. Schließlich wurden in den 1980er-Jahren die Forderungen nach der Errichtung eines zentralen historischen Museums immer lauter, bis dies zur Gründung von gleich zwei Geschichtsmuseen mit gesamtstaatlichem Anspruch führte (dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin). Der Trend scheint ungebrochen. Nach der Eröffnung der neuen Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) im Frühjahr 2006, mit der eine fast 20-jährige Planung zum vorläufigen Abschluss kam und mit der erstmals der Versuch einer historischen Überblicksdarstellung von der Römerzeit am Rhein bis zum wiedervereinigten Deutschland unternommen wurde, steht als ein weiteres historisches Großmuseum der Neu- bzw. Umbau eines Militärhistorischen Museums in Dresden an. Dieses wird nicht nur mit den expressiven Bauformen des amerikanischen Architekten Daniel Libeskind auf sich aufmerksam machen, sondern auch mit einem anspruchsvollen inhaltlichen und gestalterischen Konzept.
Das Deutsche Historische Museum (DHM) ist Teil einer vernetzten Erinnerungslandschaft, die aus Museen, Gedenkstätten, Mahnmalen und anderen Gedenkorten besteht. Für die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist diese Erinnerungslandschaft nicht nur in Berlin und seinem Umland besonders vielgestaltig. Während die meisten Museen und Gedenkstätten Objekte bzw. Dokumente zu ihrem jeweiligen Spezialgebiet sammeln, hat das DHM den Auftrag, zur gesamten deutschen Geschichte im europäischen Kontext zu sammeln. Da die Bestückung der Dauerausstellung mit Originalen das vorrangige Sammlungsziel ist, wird am DHM nicht ganz so detailliert gesammelt wie an den thematischen Spezialmuseen und Gedenkstätten. Gesucht werden vielmehr aussagekräftige und anschauliche Originale, die einen historischen Sachverhalt exemplarisch verdeutlichen.
Historische Ausstellungen und Museen gelten als typische Arbeitsfelder für Historiker. In der Tat ist eine geschichtswissenschaftliche Grundausbildung eine gute Voraussetzung, doch reicht sie aus, um eine gute historische Ausstellung zu entwickeln? Was macht überhaupt eine gute Ausstellung aus? Hier kommt neben der wissenschaftlichen Arbeit die praktische Umsetzung ins Spiel - ein Aspekt, der bei der Beurteilung von Ausstellungen oft vergessen wird. Dabei geht es nicht um die Entscheidung zwischen Oberflächlichkeit und Tiefgang, zwischen Inszenierung und Originalobjekten oder zwischen Eventkultur und Bildungsangebot. Vielmehr geht es darum, sich der sprachlichen Unschärfen sowie der Vermischung von Begriffen wie Geschichte, Museum, Ausstellung, Erinnerung, Gedächtnis auf der einen und Event, Erlebnis, Management, Unterhaltung auf der anderen Seite bewusst zu werden. Erst dann nämlich steht die Qualität einer Ausstellung zur Debatte, nicht die Güte der wissenschaftlichen Leistung. Anders ausgedrückt: Eine Ausstellung zu realisieren erfordert mehr als die wissenschaftliche Basis der Fachdisziplin, in unserem Fall der Geschichtswissenschaft. Hier geht es darum, (aktuelle) Bezugspunkte für die Besucher zu schaffen, ein Konzept zu entwickeln, das Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes (be)greifbar macht. Es ist der dreidimensionale Raum, in dem sich das Konzept bewähren muss, in dem Geschichte gestaltet werden will. Dazu gehören auch und vor allem die Objekte - die im Geschichtsstudium nicht oder nur am Rande behandelt werden. Hinzu kommt die praktische Durchführung des Vorhabens, die Planung und Organisation von Arbeitsabläufen, die Vermittlung sowie die Finanzierung. Und spätestens hier sieht sich der Historiker vor Aufgaben gestellt, auf die ihn sein Studium in den seltensten Fällen vorbereitet hat.
Zeitgeschichte - verstanden als Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts - ist im Bereich der Ausstellungen in der Regel darauf angewiesen, dass es zu dem gewählten Thema Objekte gibt. Das gilt für Sonderausstellungen ebenso wie für die Teile einer Dauerausstellung. Ein eigener Ausstellungstyp sind solche Veranstaltungen, die - wie vergrößerte Bücher - einen Denkraum schaffen, in dem man entlang der Zeitleiste Ereignisse kennenlernen kann. Im Gegensatz zum Buch sind sie soziale Orte - Plätze, an denen Menschen miteinander ins Gespräch kommen können, an denen sie sich gemeinsam etwas intellektuell aneignen. Wie für eine gute Unterrichtsstunde sollte dabei ein Medienwechsel stattfinden zwischen Texten, vergrößerten Fotografien, Filmen - seien es Wochenschauen oder mitgeschnittene Reden von Politikern, Dokumentar- oder Spielfilme.
Mitten in der Stadt, direkt neben dem Viktualienmarkt, eröffnete im Frühjahr 2007 das Jüdische Museum München. Integriert in ein Ensemble aus der neuen Hauptsynagoge, dem jüdischen Gemeindezentrum und dem Stadtmuseum, soll es nicht nur ein Ort von Geschichte und Erinnerung sein, sondern ein Ort der Gegenwart, Kommunikationsraum und Haus der Begegnung. Jüdisches Leben in den verschiedensten Facetten in Vergangenheit und Gegenwart zu zeigen - das ist Konzept und Ziel des neuen Museums.
Der für uns ungewöhnlich klingende Name „Deutsches Hygiene-Museum“ bezeichnet ein einzigartiges Spezialmuseum in der gegenwärtigen Museumslandschaft. Im Zentrum seiner Arbeit stehen der Mensch und die unterschiedlichen Aspekte des menschlichen Lebens, eingebettet in den natur-, kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Kontext. Doch warum trägt das Museum diesen eigenartigen und belasteten Namen, der museologischen Marketingstrategien so gar nicht entspricht und die heutigen Ausstellungsinhalte höchst unvollständig beschreibt? Dies ist nur aus der Geschichte des Museums und seiner Themen zu erklären.
Als „Wohlstand für alle“ im Februar 1957 erstmals erschien, genau rechtzeitig zu Erhards 60. Geburtstag, nahm die Öffentlichkeit eher verhalten Notiz. Die „Süddeutsche Zeitung“ ging auf den Inhalt des Buches nicht weiter ein; sie lobte stattdessen den Optimismus des Bundeswirtschaftsministers und seine Verdienste als „Psychologe der Konjunktur“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schenkte der gleichzeitig erschienenen Festschrift für Erhard sogar mehr Aufmerksamkeit. Nur das „Handelsblatt“ reservierte eine gute Viertelseite, rühmte den „sehr fesselnden, oft amüsanten“ Stil und wagte die Prognose, das Buch werde „ohne Zweifel in die Breite wirken“. Trotzdem war zum damaligen Zeitpunkt nicht zu erwarten, dass das - zumindest aus heutiger Sicht - streckenweise dröge und betuliche, nur durch zahlreiche Karikaturen aufgelockerte Buch bis 1964 acht Auflagen erleben würde oder gar, in Gestalt einer „aktualisierten Neuausgabe“, 1990 „unseren Landsleuten in der DDR“ gewissermaßen als Leitfaden „aus dem Morast des Sozialismus“ in die „offene, demokratische Gesellschaft“ dienen könnte („Vorrede an den Leser“, S. If.). 1999 war eine Gesamtauflage von 250.000 Exemplaren erreicht. Zurzeit ist das Werk jedoch nur noch antiquarisch zu bekommen - oder kostenlos als Download bei der Ludwig-Erhard-Stiftung.
Obwohl die 1952 gegründete „Bild“-Zeitung seit Jahrzehnten die größte westdeutsche Tageszeitung ist, hat sich die Zeitgeschichtsforschung mit ihr bisher höchstens am Rande befasst. Der Aufsatz untersucht die Bedeutung von „Bild“, indem er die Entwicklung des Blatts in den 1950er-Jahren analysiert. In diesem Jahrzehnt errang die Zeitung ihre überragende Stellung auf dem publizistischen Markt der Bundesrepublik; in dieselbe Zeit fällt auch der erste Versuch des Verlegers Axel Springer, das Blatt mit konkreten politischen Aufträgen zu lenken. Geprüft wird, wie die „Bild“-Redaktion die Direktiven des Verlegers in den Jahren 1957/58 umgesetzt hat. Dabei wird erkennbar, dass die Boulevardzeitung als bereits etablierter Markenartikel selbst von ihrem Eigentümer nur begrenzt verändert oder in eine bestimmte politische Richtung gelenkt werden konnte. Der Beitrag plädiert dafür, die Macht von „Bild“ eher auf der lokalen Ebene zu suchen, und demonstriert diesen Ansatz am Beispiel von Hamburg. Dies ermöglicht auch allgemeinere Zugänge zur Mentalitäts- und Gefühlsgeschichte der Bundesrepublik.
Die Last der Vergangenheit
(2008)
Das übergreifende Thema dieser Debatte ist der ‚Dialog der Disziplinen‘. Die Gedächtnisforschung eignet sich besonders gut für einen solchen Dialog, denn sie ist selbst ja keine Einzeldisziplin, sondern ein Thema, in dem sich die Fragen vieler Disziplinen kreuzen. Die Neurowissenschaften, die Psychologie, die Psychoanalyse, die Soziologie, die Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft, die Politologie und nicht zuletzt die Geschichtswissenschaft sind in diesen Diskurs eingebunden. Die verstärkte Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung bedeutet für die Geschichtswissenschaft auch, dass sie sich in einer immer stärker ausdifferenzierten Medienlandschaft verorten muss. Die Ge-schichte ‚gehört‘ heute einer ständig wachsenden Gruppe von Sachwaltern - neben den Professoren auch den Politikern, den Ausstellungsmachern, den Geschichtswerkstätten, den Bürgerbewegungen, den Filmregisseuren, den Künstlern, den Tourismusveranstaltern, den Infotainern und den Eventplanern. Das heißt keineswegs, dass der Einflussbereich der Historiker schrumpfen würde - im Gegenteil: Sie werden bei allen Geschichtsprojekten dringend gebraucht, müssen sich aber daran gewöhnen, enger mit anderen Akteuren zusammenzuarbeiten. Die Auseinandersetzung mit Geschichte verlagert ihren Schwerpunkt von der Universität zum Kulturbetrieb und damit zur Logik des Marktes. Im Folgenden sollen zwei Themenbereiche angesprochen werden, die auf eine paradigmatische Weise im Spannungsfeld von ‚Geschichte‘ und ‚Gedächtnis‘ stehen: die Figur des ‚Zeitzeugen‘ und die Frage des Umgangs mit historisch belasteter Vergangenheit.
Das Fotoarchiv der Reemtsma Cigarettenfabriken besteht aus ungefähr 70.000 Aufnahmen, die als Einzelbilder, in Fotoalben, als Negative oder Dias gesammelt wurden. Die Überlieferung umfasst Aufnahmen aus dem Zeitraum vom Umzug des Unternehmens von Erfurt nach Altona-Bahrenfeld im Jahr 1923 bis zur Übernahme durch Imperial Tobacco im Jahr 2002 und spiegelt das breite Spektrum der firmenbezogenen Fotografie zwischen Dokumentation, Selbstdarstellung und Werbung: Hier finden sich Aufnahmen aus dem Betrieb oder zur Firmengeschichte ebenso wie Bildmaterial für Broschüren, Mitarbeiterzeitschriften oder Werbekampagnen. Eine Besonderheit sind die Bilder der „Tabakreisen“, auf denen bekannte Fotografen und Bildjournalisten den Tabakanbau in verschiedenen Gebieten und die Verarbeitung dokumentierten; zwei dieser Reportagen werden im Folgenden beispielhaft vorgestellt. Sofern die Fotografie in der Werbung eingesetzt wurde - was seit den 1920er-Jahren zunehmend geschah und wofür die beiden ausgewählten Teilbestände ebenfalls Beispiele sind -, überschneiden sich die Bestände des Fotoarchivs mit jenen des Werbemittelarchivs. Dieses enthält als nahezu vollständige Überlieferung der Werbeaktivitäten Reemtsmas aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die jüngste Vergangenheit insgesamt etwa 3.500 Plakate, 25.000 Anzeigen, 12.000 bis 15.000 Packungen und über 50.000 Aufsteller, Schilder, Aufkleber und ähnliches, dazu Werbepläne und interne Dokumente.
Wohl kaum ein anderer Film hat die Vision von der Stadt der Zukunft und dem mechanisierten Menschen so geprägt wie Fritz Langs „Metropolis“. Dabei war dieser heutige Klassiker 1927 im Kino zunächst mit mäßigem Erfolg gestartet. Obwohl er mit einem für die damalige Zeit sehr hohen Aufwand produziert wurde (18 Monate Drehzeit, Budget von letztlich 6 bis 7 Mio. Reichsmark), wollten ihn nach der Premiere nur 15.000 Berliner sehen. Inzwischen hingegen hat sich das Filmbild der Metropole mit ihren auftürmenden Hochhäusern, dem pulsierenden Verkehr mit Autos, Bahnen und Flugzeugen in unser kollektives Gedächtnis eingeschrieben. Es ist zum Symbol geworden für die architektonische Moderne und für die Visualisierung des Begriffs „Moloch Großstadt“. „Metropolis“ gilt inzwischen als der wichtigste deutsche Stummfilm und wurde 2001 als erster Film überhaupt von der UNESCO in das Register „Memory of the World“ aufgenommen. Neben der vielfältigen Rezeptionsgeschichte hat der Film auch eine höchst interessante Überlieferungsgeschichte.
Drei Bücher haben im 20. Jahrhundert zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Bild der Deutschen über die Sowjetunion geprägt: René Fülöp-Millers „Geist und Gesicht des Bolschewismus“ aus dem Jahr 1926, Klaus Mehnerts „Der Sowjetmensch“ aus dem Jahr 1958 und Lois Fisher-Ruges „Alltag in Moskau“ aus dem Jahr 1984. Allen drei Publikationen ist gemeinsam, dass sie kaum auf die historischen Ereignisse oder das politische Tagesgeschäft zu sprechen kommen, sondern einen Einblick in die sowjetische Alltagskultur zu geben versuchen. Den Autoren der drei Bücher war von Anfang an klar, dass sie eigentlich Unmögliches vorhatten: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle Facetten einer Gegenwartskultur zu erfassen und darzustellen. Im Fall der Sowjetunion kam erschwerend dazu, dass man kaum auf verlässliche Quellen zurückgreifen konnte: Die Kultur teilte sich in einen offiziellen Betrieb und einen verbotenen Untergrund, soziologische Daten waren nicht erhältlich oder manipuliert, die Gesprächspartner mussten immer auf der Hut vor den staatlichen Überwachungsorganen sein. So blieb den Autoren nichts anderes übrig, als sich auf ihre persönliche Erfahrung zu stützen, die naturgemäß nur einen beschränkten Radius aufwies. Der Erfolg der genannten Bücher verdankte sich nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch dem Erscheinungsdatum, das jeweils eine Wendezeit markierte: Fülöp-Miller lieferte nach zehn Jahren Sowjetregime eine erste Bilanz, Mehnert dokumentierte das Ende des Stalinismus, Fisher-Ruge gab einen Einblick in die gesellschaftlichen Startbedingungen der Perestrojka.
Nach 1989/90 wurde kriegerische Gewalt innerhalb Europas auf neue Weise zum Thema und gerade auch für Intellektuelle zu einer unerwarteten Herausforderung. Die Diskussion unter deutschsprachigen Schriftstellern über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien war hauptsächlich eine Debatte um Peter Handke. Sie fungierte als eine Art Stellvertreterdebatte, während engagierte politische Interventionen deutscher Literaten meist ausblieben. In seinen kontroversen Texten seit 1996 versuchte Handke einen ‚dritten‘ Standpunkt jenseits der zweiwertigen Logik des politischen Diskurses in den Medien zur Geltung zu bringen. Dennoch tendierte sein ‚poetischer‘ Blick auf Serbien zunehmend zur politischen Parteinahme, wie etwa seine Annäherung an den in Den Haag angeklagten serbischen Präsidenten Miloševic zeigt. Obwohl seine Sprache eine Alternative zum ‚herrschenden‘ medialen Diskurs suchte, wurde sie wie die Figur ‚Peter Handke‘ letztlich von den Regeln der politischen Öffentlichkeit absorbiert.
Die Rote Armee Fraktion im Original-Ton. Die Tonbandmitschnitte vom Stuttgarter Stammheim-Prozess
(2009)
Unter der Überschrift „Stimmen aus Stammheim“ berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 1. August 2007 von zuvor noch nicht veröffentlichten Originaltönen, die während des Strafprozesses gegen die RAF-Gründungsmitglieder - Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe - in Stuttgart-Stammheim aufgenommen worden waren. Eindeutig habe es „Signale“ gegeben, „die damals niemand verstand“. Am gleichen Tag konstatierte die „Frankfurter Rundschau“: „Nur Hass und Verbitterung. Neue Tonbandmitschnitte erhellen das vergiftete Klima im Prozess gegen die RAF-Gründer“. Andere Schlagzeilen lauteten: „Ulrike Meinhofs letzte Worte“, „Im Keller vergessen“, „Stimmen aus dem Grab“ oder „Mythische Stimmen aus dem Jenseits“. In der „ZEIT“ wurde kritisch angemerkt, die Konkurrenz vom „Spiegel“ mache „viel Aufhebens um die Stammheimer Tonband-Mitschnitte, die ein findiger Journalist in den Katakomben der Justiz aufgestöbert hat“.
Sehnsucht nach einem stillen Land. Wie zwei Reporter der „ZEIT“ im Jahr 1979 die DDR darstellten.
(2009)
Die heutige Lektüre des Buches irritiert, so eigenartig und doch auch vertraut wirkt das vor 30 Jahren entworfene DDR-Bild. Die Texte und Fotos wurden zwischen Herbst 1978 und Sommer 1979 zunächst als einzelne Reportagen im „ZEIT“-Magazin veröffentlicht. Die Journalistin Marlies Menge und der Fotograf Rudi Meisel waren seit 1977/78 die ersten akkreditierten „ZEIT“-Korrespondenten in der DDR - und blieben es bis 1990. Der Hanser-Verlag brachte sieben dieser Beiträge als großformatigen Bildband heraus. Meisel erhielt dafür 1979 den Kodak-Fotobuchpreis.
Wie haben sich die Perspektiven auf die NS-Zeit seit 1989/90 verändert? Nach einem knappen Rückblick auf die „historiographische Systemkonkurrenz“ in der Ära des Kalten Krieges werden zunächst wichtige Blickerweiterungen skizziert, die bereits vor 1989/90 einsetzten: die wachsende Aufmerksamkeit für alltagsgeschichtliche Zusammenhänge sowie vor allem für die Verfolgung und Ermordung der Juden. Die Zäsur von 1989/90 brachte für die NS-Forschung einen zusätzlichen Schub, weil sie die Bedeutung von Akteuren in historischen Entscheidungssituationen nachhaltig in den Vordergrund rückte. Der Aufsatz erläutert darüber hinaus drei Stränge der aktuellen NS-Forschung: Ansätze einer integrierten Geschichte, die eine dichotomische Betrachtung von Opfern und Tätern überwinden; die Europäisierung und Globalisierung nicht nur der Erinnerungspolitik, sondern auch der wissenschaftlichen Arbeiten zur NS-Zeit; sowie das übergreifende Phänomen einer verstärkten Medialisierung von Geschichte.
Die visuelle Überlieferung aus der Zeit der NS-Diktatur lässt sich nur interdisziplinär erforschen. Die fotografische Massenkommunikation, die im NS-Staat dem Propagan-daministerium unterstellt wurde, kann mit herkömmlichen zeithistorischen Methoden, aber auch mit dem kunstwissenschaftlichen Instrumentarium allein nicht umfassend erklärt werden. Qualitative Ansätze etwa der Kommunikationswissenschaft bieten zusätzliche Möglichkeiten des Erkenntnisfortschritts – nicht zuletzt im Hinblick auf die private Fotografie. Im Paradigma der „Bildwissenschaft“ können sich die Kompetenzen der Einzeldisziplinen neu verbinden und zum differenzierten Verständnis der NS-Herrschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Der Aufsatz skizziert zunächst die fotohistorische Erforschung der NS-Zeit seit den 1980er-Jahren. Gefragt wird dann nach der Überlieferungssituation in den Archiven und den Auswirkungen der Digitalisierung. Eine zentrale These lautet dabei, dass sich das Problem der bisher oft mangelhaften Klassifizierung und Erschließung von Fotomaterial durch dessen digitale Zirkulation weiter verschärft.
Vor einer Trivialisierung des Holocaust warnend, bezeichnete Claude Lanzmann vor acht Jahren den Regisseur Steven Spielberg als „eine Art big brother der Erinnerung“. Damit gehörte Lanzmann zu einem Kreis von Historikern, Publizisten und Gedenkstättenmitarbeitern, die massive Kritik an Spielbergs ambitioniertem Vorhaben äußerten, weltweit möglichst viele Überlebende des Holocaust zu befragen. Die Gegenstimmen waren vielfältig und bezogen sich unter anderem auf die in den 1990er-Jahren noch gewöhnungsbedürftige Tatsache, dass Spielberg die digitalisierten Videointerviews in einem computergestützten, internetfähigen Riesenarchiv des Holocaust speichern wollte. Zudem bestand die Sorge, Spielbergs Medienpräsenz und erfolgreiche Sponsorenwerbung werde dazu führen, dass anderen, seit Jahrzehnten arbeitenden Oral-History-Projekten keinerlei Förderung mehr zukomme. Beanstandet wurde auch, dass nicht professionell ausgebildete Personen als Interviewer eingesetzt wurden. Wegen der hohen Zahl archivierter Aussagen von Überlebenden werde sich der inhaltliche Fokus von den Getöteten hin zu jenen verschieben, die der Ermordung entgangen waren. So werde die Geschichte des Holocaust als Geschichte eines Triumphs erzählt, die sie historisch nicht sei. Die Interviews seien darauf angelegt, genau jene Gefühle hervorzurufen, die Raul Hilberg für unlauter hielt: „There is nothing to be taken from the Holocaust that imbues anyone with hope or any thought of redemption.“ Tatsächlich kann die Interviewsammlung Spielbergs vielzitierten und wegen seiner Assoziation zu verbrannten Leichen etwas obszön wirkenden Anspruch, „jedes Körnchen Asche“ aufzusammeln, nicht einlösen. Denn diejenigen, die sprechen können, haben, wie Primo Levi es nannte, „den tiefsten Punkt des Abgrunds“ nicht berührt. Deutlich wird jedoch Spielbergs nachdrücklicher, fast obsessiv wirkender Versuch, vergehende Erinnerungen an den Holocaust vor dem Vergessen bannen zu wollen.
Othering begegnet uns nicht nur im geschriebenen Wort. Es kann sich ebenfalls in der Kombination von Bild und Text manifestieren. Wie wichtig eine Reflexion der Artikelbebilderung durch die Redaktion ist, möchte ich im Folgenden anhand eines Artikels der „Berliner Morgenpost“ veranschaulichen. Hierzu ist ein poststrukturalistisch orientierter Zugriff besonders geeignet, da hier die Auffassung vertreten wird, dass die Bedeutungen den Dingen nicht immanent sind, sondern sie ihnen diskursiv zugewiesen werden. Somit werden im Diskurs die Dinge erst als soziale Phänomene konstituiert, über die gesprochen bzw. geschrieben wird. Mittels einer solchen anti-essentialistischen Perspektive auf Identitäten kann die Forschung dazu beitragen, binäre Identitätskonstruktionen aufzudecken, zu hinterfragen und letztlich zu überwinden.
Die zu keinem Zeitpunkt besonders exklusive Position der akademischen Zeitgeschichte in der Öffentlichkeit wird heute mehr denn je herausgefordert von außerakademischen Beiträgen zur Geschichtsschreibung. Das gestiegene wie auch pluralisierte Bedürfnis nach geschichtlicher Einordnung der Gegenwart findet in den populären Geschichtsformaten ganz offensichtlich eine breite Resonanz. Bei dieser Ausweitung spielen fundamentale politische, sozialgeschichtliche und kulturelle Entwicklungen eine Rolle, namentlich die Aufweichung der nationalgeschichtlichen und nationalkulturellen Rahmenbedingungen, unter denen die moderne Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung seit dem frühen 19. Jahrhundert entstanden waren. Im frühen 21. Jahrhundert verstehen sich vormals undiskutierte Bezugsrahmen einer solchen Geschichtsschreibung nicht mehr von selbst. Vielmehr muss zunehmend klargestellt werden, wer welche Art der Geschichte für welches Publikum darstellen will.
Wie verändern sich die Objekte der Geschichtsschreibung, also die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit, durch die Medien? Wie verändert sich die Geschichtsschreibung selbst durch die Medien? Was bedeutet die in Forschung und Öffentlichkeit verbreitete Rede von der ‚Mediengesellschaft‘ aus historischer Perspektive eigentlich genau? Der Aufsatz unterscheidet zunächst einige Prozesse der ‚Medialisierung‘, geht damit verbundenen Strukturverschiebungen nach und betrachtet insbesondere Veränderungen von Öffentlichkeiten. Dabei wird dafür plädiert, die Ambivalenz der Entwicklungen anzuerkennen und nicht vorschnell Paradigmenwechsel zu behaupten. Zudem werden einige Leitlinien formuliert, was eine Medialisierung der Zeitgeschichtsschreibung bedeuten könnte. Hier gilt es, neue Wege zu beschreiten und neue Ziele zu setzen, die der Ära der Audiovisualität gerecht werden.
Jürgen Thorwalds „Die große Flucht“, erstmals 1949/50 in zwei Bänden erschienen und zuletzt 2005 wieder aufgelegt, ist eines der verbreitetsten Werke über das Ende des Zweiten Weltkriegs im Osten sowie Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung. In den 1950er-Jahren gehörte Konrad Adenauer zu den Lesern, und bis heute argumentiert Erika Steinbach mit Elementen aus Thorwalds Darstellung. Sehr früh hatte Thorwald (Pseudonym für Heinz Bongartz) exklusiven Zugriff auf eine Fülle von Dokumenten und Zeitzeugenberichten. Sein Erfolg lässt sich jedoch eher mit der besonderen Darstellungsweise erklären, die sich zugleich sachlich und emotional gibt. Historiographischer Anspruch und literarische Verdichtung sind in dem Werk eng verbunden. Ästhetisch knüpfte Thorwald an den Kriegsbericht an, zu dem er als Autor journalistischer Artikel und Bücher über Luftwaffe und Marine vor 1945 selbst beigetragen hatte. Gleichzeitig bilden Thorwalds Bücher spezifische diskursive Formationen der Nachkriegszeit ab.
In Auseinandersetzung mit Jörn Rüsens „vier Typen des historischen Erzählens“ (traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Erzählen) wird ein fünfter Idealtypus zu begründen versucht, der sich aus gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen sowie der Emergenz digitaler Medien ergibt. Das „situative Erzählen“ als neuer Modus der historischen Sinnbildung antwortet zum einen auf Formen der Identitätskonstruktion innerhalb einer „flüchtigen Moderne“, deren Kennzeichen die Absage an „große Erzählungen“ und die Auflösung stabiler Identitäten sind. Zum anderen wird diese Erzähl- und Sinnbildungspraxis durch hypertextuelle Kulturtechniken codiert, ausgestaltet und prämiert. Der Beitrag nennt einige historiographische Ansätze des „situativen Erzählens“ und fragt nach den Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft.
Wie stellen sich aktuelle Tendenzen in der Zeitgeschichtsschreibung dar – im Vergleich mit dem auffällig gewachsenen Interesse literarischer Autoren für zeitgeschichtliche Themen? Welche Konvergenzen sind zu verzeichnen, und welche textsortenbedingten Differenzen bleiben? Sind die zeitgeschichtlichen Erzählmuster in diesem Umfeld vorwiegend konstant, oder gibt es strukturelle Veränderungen? Worauf lassen sich diese eventuell zurückführen?
Die folgende Skizze verzichtet ganz auf normative Stellungnahmen. Wie man „gute“ Zeitgeschichte schreiben und welche Aufgaben sie haben sollte – solche Proklamationen sind eine allzu verbreitete Übung von Historikern, zumal sie ohne die Anstrengung empirischer Forschung von der Hand gehen. Stattdessen soll hier gefragt werden, inwieweit wir es uns überhaupt erlauben können, Diagnosen über Wandel und Kontinuität in der Zeitgeschichtsschreibung aufzustellen und daran Empfehlungen zu knüpfen, solange wir nicht auf empirisch gesichertem Grund stehen. Wohlgemerkt, es geht um Anfragen, nicht um Resultate oder Lösungen. Sind die oft behaupteten Tendenzen – zunehmende Marktabhängigkeit, Emotionalisierung, Internationalisierung, mangelnde Selbstreflexion der Zeitgeschichte, teleologische und gegenwartslegitimatorische Geschichtsschreibung à la Treitschke – typisch für die Zeitgeschichte? Vorausgesetzt, die Elemente des Merkmalskatalogs treffen überhaupt zu: Was davon betrifft die Zeitgeschichte, was die gesamte Geschichtsschreibung?
„Lach über alles und vergiss es.“ Dieses Motto stellte der Holländer Aart M. an den Beginn eines Fotoalbums, das seine bildlichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und den Einsatz als Zwangsarbeiter in Berlin festhält. Es zeigt die Widersprüchlichkeit privater Fotoalben: Werden die Bilder aufbewahrt, um zu erinnern oder zu vergessen? Hilft ein solches Album dem Besitzer dabei, über die Erfahrungen der Zwangsarbeit zu lachen? Und wie kann die Geschichtswissenschaft die oft so ‚fröhlich‘ wirkenden Fotoalben als historische Quellen interpretieren?
Im Oktober 2007 startete der „Spiegel“ sein eigenes Historien-Portal „einestages“. Die Seite wurde zunächst als lebendige Art der Geschichtsvermittlung und der Konservierung von Erinnerungen überwiegend gelobt und heimste entsprechend auch Preise ein. Dieser Erfolg bewog den „Spiegel“ dazu, ausgewählte Beiträge in einer Printausgabe zu veröffentlichen, die sich jedoch nicht am Markt etablieren konnte. Bei „einestages“ soll es weniger um die großen historischen Fragen gehen, als um Episoden des Alltags, biographische Skizzen und antiquarische Erinnerungsstücke – Geschichten statt Geschichte, lautet das erklärte Ziel. So sollen etwa auch „das Musik-Phänomen Tokio Hotel“ und die „Tapeten der 1970er Jahre“ thematisiert werden. Dabei bedienen sich die Macher des Portals recht großzügig des mittlerweile auch schon in die Jahre gekommenen Memoria-Vokabulars und verkünden ganz unbescheiden den „Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses unserer Geschichte“.
Für Alexander Kluge gibt es keine abgeschlossenen Werke: „Bücher halten nicht still. Sie sind auch nie ‚beendet‘“. So ist es auch im Fall der „Schlachtbeschreibung“ nicht bei der Erstausgabe von 1964 geblieben. Kluge versteht seine Bücher als „work in progress“, als „Baustellen“ und als Produkte einer Sammlertätigkeit, die nicht beendet werden kann. Ein Buch wie die „Schlachtbeschreibung“ ist in diesem Sinne lediglich ein kleiner Teil eines stetig wachsenden und sich immer wieder aufs Neue verändernden multimedialen Netzwerks, das nicht nur literarische Texte umfasst, sondern auch philosophische Arbeiten, Kinofilme und Fernsehmagazine. Bis heute sind nicht weniger als sieben zum Teil sehr stark voneinander abweichende – gekürzte, erweiterte, neu arrangierte und um Abbildungen ergänzte – Ausgaben des Stalingrad-Buchs erschienen. Die vorerst letzte (gedruckte) Überarbeitung stammt aus dem Jahr 2000, als Kluge sein erzählerisches Gesamtwerk, ergänzt durch neu entstandene Texte, unter dem Titel „Chronik der Gefühle“ in einer umfangreichen zweibändigen Ausgabe versammelte. Darin findet sich die „Schlachtbeschreibung“ – als ein Kapitel unter vielen – in einen neuen Zusammenhang gestellt.
Heute gilt es als unbestritten, dass die allgegenwärtigen Geschichtsdarstellungen in den Medien massiv das Geschichtsbewusstsein prägen. Allerdings wurde selten gefragt, welche Konsequenzen dies für die Geschichtswissenschaft hat und wie diese damit umging. Ein früher Beitrag eines Historikers, der die Folgen von Geschichts-Fernsehserien für die Forschung reflektierte, stammt von Martin Broszat, der 1979 auf den damaligen Erfolg der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ reagierte. Seinen Aufsatz neu zu lesen lohnt in doppelter Hinsicht: Einerseits ist der Text ein frühes selbstkritisches Zeugnis dafür, wie ein renommierter Historiker aus einer medialen Geschichtsdarstellung einen Perspektivwechsel für die Forschung ableitet. Andererseits lässt sich der Artikel als eine trotzige Verteidigungsschrift der Zunft verstehen, die zahlreiche problematische Punkte aufweist, welche die Beziehung zwischen Geschichtswissenschaft und Medien bis heute prägen.
Virtual Reality. Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren
(2010)
Am Beispiel eines zur Bild-Ikone geratenen Lenin-Fotos aus dem Jahr 1920 untersucht der Beitrag die Praxis manipulativer Eingriffe in das visuelle Gedächtnis der UdSSR vom Stalinismus bis zur Perestrojka. Die Aufnahme, die im Original Lenin und Trotzki vor sowjetischen Truppen in Moskau zeigte, wurde massiven Geschichtsfälschungen unter-zogen, an denen sich prototypisch die Intentionen, Mechanismen und politischen Strukturen der sowjetischen Bild- und Medienzensur seit den 1930er-Jahren rekonstruieren lassen. Die UdSSR gab sich ein neues ideologisches wie visuelles Design, das den Staat im In- und Ausland als Erfolgsmodell darstellen sollte. Dieses Design erforderte nicht nur eine nachträgliche „Optimierung“ der Vergangenheit; in ihm manifestierten sich zugleich stalinistische Visualisierungsstrategien, mit denen Staat und Partei politische Sichtbarkeiten zu kontrollieren versuchten. Trotz des enormen Aufwands war dieser Versuch indes nur teilweise erfolgreich: Es erwies sich letztlich als unmöglich, die Unperson Trotzki flächendeckend aus dem kulturellen Gedächtnis zu eliminieren.
„Anarchie der Zellen“.
Geschichte und Medien der Krebsaufklärung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Am Beispiel des Films „Krebs“ (1930) wird die historische Bedeutung und Funktion von Filmen im Rahmen der Gesundheitsaufklärung analysiert. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert und verstärkt durch den Ersten Weltkrieg etablierten sich in verschiedenen Ländern Kampagnen zu medizinischen und hygienischen Themen. Neben Plakaten und Ausstellungen erschienen Filme als ein ideales Medium der Wissensvermittlung. Die Filme verknüpften Inszenierungen von Wissenschaft mit gesellschaftspolitischen Visionen und Aufforderungen für das individuelle Verhalten. Ein zentraler Akteur war dabei – vor und nach 1945 – das Hygiene-Museum in Dresden, das unter anderem den Film „Krebs“ produzierte. Die Argumentationsstrategien dieses Films werden hier näher untersucht, um damit einen Einblick in die Entstehung der Wissensgesellschaft im 20. Jahrhundert zu geben. Der Aufsatz verbindet medizin-, medien- und museumsgeschichtliche Zugänge mit Fragen der Körpergeschichte und des social engineering.
Berlin-Moabit, 1971: Drei Anwälte sitzen im Gerichtssaal – der eine, Horst Mahler, als Angeklagter, dem die Mitgliedschaft in der Roten Armee Fraktion (RAF) vorgeworfen wird; die beiden anderen, Hans-Christian Ströbele und Otto Schily, als seine Verteidiger. Ein Foto dieser Szene wählt die Regisseurin Birgit Schulz als Einstieg für ihren Dokumentarfilm „Die Anwälte“ über die Lebensläufe von Mahler, Ströbele und Schily, die sich damals in jenem Gerichtssaal kreuzten, in dem sie nun für den Film interviewt wurden. Doch geht Schulz weit über diesen Schnittpunkt hinaus. Sie nutzt das Foto als Ausgangspunkt für eine filmische Parallelbiographie, die den Werdegang der drei Anwälte bis in die Gegenwart verfolgt. Die Protagonisten werden nicht allein als „RAF-Anwälte“ beschrieben – eine Kennzeichnung, gegen die sie sich auch selbst verwahren. So betont Schily, wie unsinnig das Label „Terroristenanwalt“ sei. Man werde ja auch nicht zum „Mörderanwalt“, wenn man einen Mörder verteidige, oder zu einem „Flick-Untersuchungsanwalt“, nur weil man den gleichnamigen Untersuchungsausschuss geleitet habe. Damit gibt Schily das Stichwort für eine weitere zentrale Episode der jüngeren bundesdeutschen Zeitgeschichte, die der Film in biographisch verdichteter Form erzählt. „Eine deutsche Geschichte“ lautet schließlich auch der Untertitel des Films, dessen Protagonisten die Geschichte der Bundesrepublik gleichermaßen entscheidend mitgestaltet haben, wie sie umgekehrt von ihr geprägt wurden.
This article reassesses the emergence of human rights advocacy in 1970s West Germany from the perspective of memory politics. Focusing on the campaigns against political violence in South America, the article first traces the boom and bust of antifascist activism against the Chilean junta in the early 1970s. It then analyzes the displacement of abstract antifascist discourses by a more humanitarian human rights talk closely intertwined with concrete references to National Socialist crimes. Taking the perspective of grassroots advocates, this article explores how and why activists referenced the crimes of Nazism to defend human rights in the present. Finally, the article moves beyond the claim that human rights politics were minimalistic and even anti-antifascist, by showing how some human rights activists continued to think of themselves as antifascists. They infused antifascism with entirely new meanings by recovering the 20 July 1944 assassination attempt against Hitler as an acceptable example of anti-government violence.
Seit einigen Jahren verdichtet sich auch in Deutschland das Gespräch über Herausforderungen und Perspektiven des digitalen Zeitalters für die Geschichtswissenschaft. Auf jedem Historikertag seit 2010 gab es mehrere Sektionen, die sich unterschiedlichen Facetten des Themas zuwandten. Es entstehen Fachpublikationen, Überblickswerke, Dissertationen und erste Ansätze, das Feld institutionell neu zu gestalten. Die Geschichtswissenschaft bemüht sich, produktiv auf die Veränderungen einzugehen. Punktuell ist es auch bereits zu einem Dialog mit Archiven und der Archivwissenschaft gekommen. So hat der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) 2015 unter Federführung der Vorsitzenden Eva Schlotheuber und Frank Bösch ein Grundsatzpapier verabschiedet, das sich der Quellenkritik im digitalen Zeitalter annimmt. Die Forderung, Elemente der Digital Humanities in die Historischen Grundwissenschaften zu integrieren, wurde seitdem noch weiter unterstrichen.
»[…] wenn ›die Quelle‹ die Reliquie historischen Arbeitens ist – nicht nur Überbleibsel, sondern auch Objekt wissenschaftlicher Verehrung –, dann wäre analog ›das Archiv‹ die Kirche der Geschichtswissenschaft, in der die heiligen Handlungen des Suchens, Findens, Entdeckens und Erforschens vollzogen werden.« Achim Landwehr wirft in seinem geschichtstheoretischen Essay den Historikern ihren »Quellenglauben« vor – diese Kritik ließe sich im digitalen Zeitalter leicht auf die Heilsversprechen der Apostel der »Big Data Revolution« übertragen. Zwar regen sich mittlerweile vermehrt Stimmen, die den »Wahnwitz« der digitalen Utopie in Frage stellen, doch wird der öffentliche Diskurs weiterhin von jener Revolutionsrhetorik dominiert, die standardmäßig als Begleitmusik neuer Technologien ertönt. Statt in der intellektuell wenig fruchtbaren Dichotomie von Gegnern und Befürwortern, »First Movers« und Ignoranten zu verharren, welche die Landschaft der »Digital Humanities« ein wenig überspitzt auch heute noch kennzeichnet, ist das Ziel dieses Beitrages eine praxeologische Reflexion, die den Einfluss von digitalen Infrastrukturen, digitalen Werkzeugen und digitalen »Quellen« auf die Praxis historischen Arbeitens zeigen möchte. Ausgehend von der These, dass ebenjene digitalen Infrastrukturen, Werkzeuge und »Quellen« heute einen zentralen Einfluss darauf haben, wie wir Geschichte denken, erforschen und erzählen, plädiert der Beitrag für ein »Update« der klassischen Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft. Die kritische Reflexion über die konstitutive Rolle des Digitalen in der Konstruktion und Vermittlung historischen Wissens ist nicht nur eine Frage epistemologischer Dringlichkeit, sondern zentraler Bestandteil der Selbstverständigung eines Faches, dessen Anspruch als Wissenschaft sich auf die Methoden der Quellenkritik gründet.
Zu den drängenden Problemen der Historischen Grundwissenschaften gehört es heute, ein erweitertes Instrumentarium für digitale Quellengattungen zu entwickeln. Dabei ist das breite Feld der digitalen Informationstypen der Gegenwart, der sogenannten born digitals (also der genuin digitalen Objekte), noch nicht einmal vollständig in den Blick geraten.1 Dies liegt zum einen daran, dass sich das Quelleninteresse der Zeitgeschichtsforschung in wachsendem Maße auch auf frei im Netz zugängliche Ressourcen richtet.2 Das dort vorhandene Material ist von beachtlicher Vielfalt (und quellenkritischer Brisanz), was eine quellenkundliche Erfassung erschwert. Die mangelnde Durchdringung des digitalen Quellenkanons hat aber auch mit den im Umbruch befindlichen Fachaufgaben der Archive als »traditionellem Ort« der Geschichtsforschung zu tun. Denn die Archive haben in vielen Fällen erst in den letzten Jahren mit systematischen Übernahmen und der Bereitstellung digitaler Unterlagen begonnen. Dementsprechend stehen viele digitale Quellen aus Verwaltungszusammenhängen der Forschung noch gar nicht zur Verfügung. Gleichwohl werden sie für die spätere geschichtswissenschaftliche Erforschung unserer heutigen Gegenwart und jüngsten Vergangenheit von zentraler Bedeutung sein.
Archive investieren mittlerweile sehr viel Geld in die Digitalisierung ihrer Bestände, um sie ihren NutzerInnen komfortabel online bereitzustellen. Mit dem Aufbau virtueller Lesesäle geht es nicht mehr um die schon traditionell zu nennende Form der Digitalisierung, bei der exemplarisch besondere Einzelstücke in Form einer Ausstellung online präsentiert werden, sondern es geht tatsächlich um die Bereitstellung von Archivgut zur wissenschaftlichen Auswertung im virtuellen Raum statt im analogen Lesesaal. Doch während Fördermittel in großem Stil beantragt und bewilligt sowie die technischen Rahmenbedingungen geschaffen und ausgebaut werden, finden inhaltlich-methodische Diskussionen in Deutschland bisher kaum statt. In Frankreich hingegen wird in Anlehnung an das vor 30 Jahren erschienene Buch von Arlette Farge der »Geschmack des Archivs« im digitalen Zeitalter debattiert, und in der Schweiz wird das klare Ziel verfolgt, dass der virtuelle Raum den analogen ersetzen soll. In skandinavischen Ländern ist dies sogar schon geschehen. Dabei ist es in Deutschland keine programmatische Festlegung, dass am traditionellen Lesesaal festgehalten wird, oder muss es zumindest nicht sein, weil die schiere Menge an analogem Archivgut noch für lange Zeit auch herkömmliche Lesesäle erforderlich machen wird. Umso schwieriger wird es in dieser Übergangsphase, die Konturen des virtuellen Raumes genauer zu fassen und zu klären, was eigentlich das Ziel der digitalen Bereitstellung sein soll: eine Art Add-on, ein gleichwertiges Nebeneinander oder eine neue Form der Quellennutzung?
Für dieses Buch muss man sich etwas Zeit nehmen. Ich hatte die gut 700 Seiten umfassende amerikanische Originalausgabe von »Mechanization Takes Command« (den Titel kürzte Giedion in seinen Notizen mit dem Akronym »M.T.C.« ab) im Sommer 2017 im Amtrak California Zephyr auf meiner Reise von Greenriver, UT, nach Chicago, IL, im Gepäck. Diese Reise bot aktualisiertes Anschauungsmaterial zu Giedions Sondierungen der US-amerikanischen Industrialisierungsgeschichte. Sie folgte jener Eisenbahnlinie, welche Kalifornien (wo die Frontier-Gesellschaft Amerikas im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihr Ende gelangte) mit Chicago verbindet (der nach dem großen Brand von 1871 zur Industriemetropole avancierten Stadt am Lake Michigan). Dazwischen öffnete sich der Midwest, dessen verrostete und verlassene industrielle Infrastruktur (Bahnhöfe, Fabriken, Brücken, Städte) durch das Zugfenster ins Blickfeld geriet und somit den Endpunkt der von Giedion dokumentierten Entwicklungen brutal vor Augen führte. Die heruntergewirtschafteten Landschaften des Midwest und Giedions Streifzüge in ihre Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts flossen ineinander über. Etwa dann, wenn der Zug stillstand und mein Blick bei den Getreide-Elevatoren hängen blieb, wo sich die Eisenbahnlinien kreuzen und der Personenzug den unendlich langen Güterwagen, die von Diesellokomotiven angetrieben werden, den Vortritt lassen musste. Oder wenn ich beim mäandrierenden Durchblättern des Buches und dem Blick aus dem Zugfenster den Faden verlor und eindöste – und dann beim Eindunkeln jäh von den sleeping car attendants, welche die ausklappbaren Sitze für die Nacht mit ein paar Handgriffen zu Betten umwandelten, in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Oder im Nachfolgemodell des von George M. Pullman 1869 in seinem Patent beschriebenen Speisewagens, wo die Reisende aus Europa und Wählerinnen des amtierenden Präsidenten sich am gemeinsamen Tisch zum Verzehr von Burger, Steaks und Hot Dogs wiederfanden. Jenes Präsidenten, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Re-Industrialisierung abgehängter Regionen im einst prosperierenden Rostgürtel der USA versprach.
In den 1960er- und 1970er-Jahren führten die Satiren von Ephraim Kishon (1924–2005) die westdeutschen Bestseller-Listen an. Wie erklärt sich diese Resonanz des israelischen Autors gerade in der Bundesrepublik? Während Kishons Beliebtheit von deutschen Leser*innen (und von ihm selbst) vor allem als ironische Wendung der Geschichte bezeichnet wurde, versucht der Beitrag den publizistischen Erfolg im Kontext der frühen deutsch-israelischen Beziehungen genauer zu bestimmen, indem Akteure und Strukturen des literarischen Feldes betrachtet werden. Zum einen wird Kishons Rezeption in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund von Versöhnungsrhetoriken und Auseinandersetzungen um den jüdischen Humor interpretiert. Zum anderen beleuchtet der Beitrag die Bedeutung der beteiligten Zeitungs- und Buchverlage. Die Verlagshäuser Langen Müller (Herbert Fleissner) und Ullstein (Axel Cäsar Springer) spielten eine besondere, politisch hochgradig ambivalente Rolle. Während dieses Netzwerk Kishon vor allem als Unterhaltungsautor darstellte, äußerte er sich nach dem Sechstagekrieg 1967 immer wieder auch politisch in deutschen Medien. Kishon trug damit zu einer Politisierung bei, die bis in die Gegenwart die Rezeption israelischer Literatur in der Bundesrepublik prägt.
Auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges reagierten die Archivare des französischen Außenministeriums mit kühlem Realismus. Angesichts der Tatsache, dass man auf der anderen Seite des Rheins seit zwei Jahrzehnten gegen das »Diktat von Versailles« zu Feld gezogen war, lag es auf der Hand, dass die am Quai d’Orsay verwahrte Originalurkunde des Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 vor jedwedem Zugriff deutscher Eroberer in Sicherheit gebracht werden musste. Noch während der Mobilisierungsphase im September 1939 wurden darum ältere Pläne der Bestandssicherung aktiviert und die Pariser Friedensverträge zusammen mit anderen zentralen Unterlagen in geheime Depots an der Loire verlagert.
Menschen schreiben, Menschen notieren. Papierne (heute auch digitale) Gedächtnisstützen halten fest, was sich im Kopf der oder des Schreibenden abspielt, um es für kurze oder längere Zeit zu sichern und zu übertragen. Termine, Kontakte und Adressen werden besonders oft verschriftlicht, da es sich um Informationen handelt, die präzise wiedergegeben werden müssen. Jeder einzelne Datensatz (eine Adresse, Telefonnummer, Ort und Zeit eines Treffens, Kontakte zu einer bestimmten Person) ist in sich eher trocken und schwer zu merken, die Verschriftlichung verwaltet also und assistiert unserer Erinnerung. An der Schnittstelle zwischen Alltagslogistik, Sozialleben und Erinnerung sind Adressbücher Hilfsmittel und Kulturtechnik zugleich. Das Adressbuch als Gegenstand dient im Sinne Bruno Latours der Delegation, da sein*e Benutzer*in Informationen auslagern kann. Dadurch werden Adressbücher fester Bestandteil von Netzwerken, welche ohne diese Niederschrift nicht aufrechtzuerhalten wären. Das lässt sich am Beispiel europäischer Netzwerke in London während des Zweiten Weltkrieges darlegen: anhand eines edierten »Who’s Who« und des persönlichen Adressbuches des Juristen René Cassin.
Dass der Angeklagte dem Gerichtsreporter sympathisch gewesen wäre, kann man kaum behaupten. Der Delinquent, so notierte Ilja Ehrenburg während des ersten Nürnberger Prozesses, sei »ein übler Komödiant«, »gleicht einem alten Weib, und seine Kopfhörer sehen wie ein Kopftuch aus. Er spielt die Rolle des gutmütigen Onkels, der zufällig eine Million Menschen ermordet hat.« Als sowjetischer Berichterstatter entsprach es schwerlich Ehrenburgs Selbstverständnis, die Angeklagten in ein freundliches Licht zu setzen, und für den weithin – nicht zuletzt von sich selbst – als Anführer der verbliebenen Regimespitze wahrgenommenen Hermann Göring galt dies ganz besonders. Doch während andere Prozessbeobachter die nach Abschminken, Drogenentzug und Gewichtsverlust wiedergewonnene, maskuline Statur des Reichsmarschalls a.D. betonten, bemühte sich Ehrenburg nach Kräften, ein effeminiertes Bild zu zeichnen und Göring lächerlich zu machen. Das Kopftuch passte da ins Bild – irritierend war allenfalls, dass ausgerechnet ein Kopfhörer diesen Eindruck vermitteln sollte. Weder sah das im Nürnberger Justizpalast verwendete, metallene Gerät so aus, noch wollte es mit seiner Verwendung in Militär und Nachrichtentechnik so recht zum Anliegen des Journalisten passen.
Cognac, Zigarren, Wackelpudding und wechselnde Damenbekanntschaften gehörten zur Standardausstattung der von 1986 bis 1998 in fünf Staffeln mit insgesamt 58 Folgen ausgestrahlten SFB/ARD-Anwaltsserie »Liebling Kreuzberg«. Mit einer Einschaltquote von bis zu 47 Prozent in der ersten Staffel1 verdankte die Serie ihren Erfolg nicht zuletzt dem Hauptdarsteller Manfred Krug (1937–2016). Als Anwalt der »kleinen Leute«, von seinem langjährigen Freund und Kollegen Jurek Becker als »einzige[r] Kleinbürger im deutschen Fernsehen mit Sexappeal« bezeichnet, verkörperte Krug den zuweilen raubeinigen, lebenserfahrenen und hilfsbereiten Rechtsanwalt Robert Liebling.
Ist die aktuelle Krise schon hinreichend beschrieben, verstanden und erklärt, nur weil sich die Geschwindigkeit erhöht hat, mit der ein globales Phänomen von Wissenschaftlern durchleuchtet, von Journalisten interpretiert und von Interessengruppen instrumentalisiert werden kann? Gegenwärtig spielen sich diese kommunikativen Akte in Echtzeit ab und gönnen sich kaum den nötigen Abstand zum Ereignis. Ratlosigkeit herrschte nur in jenem kurzen Augenblick, der allen Beobachtern zum ersten Mal bewusst machte, wie ernst die Lage wirklich war: Am 4. Oktober 2008, dem Sonntag eines langen Wochenendes, traten Kanzlerin und Bundesfinanzminister vor die Presse und beteuerten, dass alle Spareinlagen notfalls durch den Staat gesichert seien. Davor und danach aber ist eine eigentümliche Paradoxie zu beobachten: Eine extrem unsichere Situation, deren genaue Dimension heute ebenso wenig zu ermessen ist wie das Ausmaß ihrer Folgen, wird fortwährend im kommunikativen Modus der Gewissheit thematisiert.
Die sozialistischen Vordenker Marx, Engels und Lenin begründeten die „sozialen Ursachen“ der Kriminalität mit dem herrschenden kapitalistischen Gesellschaftssystem, dessen „ökonomische Basis die Wurzel allen Übels“ sei. Das Verbrechen sei keine dem Menschen angeborene Eigenschaft, sondern „historisch entstanden und wird mit dem Sozialismus/Kommunismus allmählich überwunden“. Entsprechend teilte auch die DDR-Führung die Sicht, dass „mit der Liquidierung der Ausbeuterordnung in der DDR die wesentlichen Wurzeln der Kriminalität verschwunden [sind]. Das ermöglicht [es] erstmalig in der deutschen Geschichte, die Vorbeugung der Verbrechen zur Aufgabe der gesamten Gesellschaft zu machen.“
Inwiefern können Bilder aus polizeilichen Überwachungskameras als „Quellen“ zeithistorischer Forschung verstanden und genutzt werden? Und was steht einem solchen Verständnis entgegen? Einerseits liegt mit den Bildern aus Überwachungskameras, als Instrumenten der Beobachtung und der Dokumentation des Miteinanders im öffentlichen Raum, ein materialreicher Fundus aktueller Daten und Aussagen der Gesellschaft vor. Andererseits ist dieses Archiv unserer Gegenwart für Sozialwissenschaftler und Historiker weitgehend unzugänglich, da die Aufnahmen aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes strengen Regeln unterliegen. Sofern es sich um Kameras im öffentlichen Raum handelt, sind die Bilder für andere als polizeiliche Zwecke nicht verwertbar (oder nur in stark eingeschränkter Weise). Kurz und überspitzend formuliert: Die Gesellschaft bildet sich in all ihren Äußerungen ab, nur um die meisten dieser Bilder sofort und ungesehen wegzusperren – ein Umstand, der im Übrigen in auffälligem Kontrast zu unserer sonstigen visuellen Kultur steht, die darauf angelegt ist, Bilder, auch privat hergestellte, möglichst breit zirkulieren zu lassen. Im Folgenden soll die Geschichte polizeilicher Videoüberwachung in Großbritannien skizziert werden, verbunden mit einigen allgemeineren Thesen zu Überwachungsbildern am Ende des Beitrags.
The American evangelist Billy Graham held several revival meetings – so-called crusades – in West Germany in the 1950s and 1960s. Many thousands of Germans came to hear him. This article explores the reasons for Graham’s success in the Federal Republic in the context of a transatlantic religious and cultural history. Graham’s campaigns were embedded in the discourse of rechristianization and secularization after the end of the Second World War. Leading Protestant bishops such as Otto Dibelius and Hanns Lilje supported him. Furthermore, Graham’s campaigns played an important role in the West German culture of the Cold War as political stagings of the Free World consensus. In addition, the orchestration of the crusades reconciled religion and consumerism. Billy Graham’s crusades are a prism through which to explore important modernization processes in German Protestantism in the first two decades of the Federal Republic.
In konfessionsvergleichender Perspektive behandelt der Beitrag das Verhältnis der christlichen Großkirchen zu den sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik. Genauer untersucht werden die Interaktionen mit den frühen Protestbewegungen, der Studentenbewegung, der „Dritte-Welt“-Bewegung sowie der Friedensbewegung. Die Abgrenzungs- und Transferprozesse zwischen Kirchen und Bewegungssektor werden als Reaktionen des kirchlich verfassten Christentums auf die Wandlungsprozesse der bundesdeutschen Gesellschaft verstanden. Es wird gezeigt, dass die beiden Kirchen aus strukturellen, kirchenpolitischen und theologischen Gründen bei ähnlichen Herausforderungen verschieden agierten. Als Bindeglieder zu den sozialen Bewegungen werden die Bewegungsgruppen innerhalb und am Rande der Kirchen ausgemacht, die oft transkonfessionell handelten. Sie beförderten innerhalb der Bewegungen eine Moralisierung der Politik und in ihren Kirchen eine Politisierung der Religion.
Institutionen, Ideen oder Deutungsmuster lassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven erforschen. Für gewöhnlich wird vor allem die Perspektive der untersuchten Akteure analysiert. Wer als Historiker über die Sozialdemokratie, das Militär oder die Bildung in einer bestimmten Zeit arbeitet, wertet vornehmlich die Schriften, Dokumente oder Statistiken aus, die die damit verbundenen Organisationen selbst produzierten. Ähnliche Ansätze verfolgte auch die Religions- und Kirchengeschichte lange Zeit, indem sie sich auf Quellen der kirchlichen Institutionen konzentrierte, auf deren Akteure, Texte, Statistiken oder auf die Lebenswelt religiöser Gruppen. Allerdings erscheint es in modernen Gesellschaften unzureichend, Institutionen oder weltanschauliche Gruppen vornehmlich von ihrer Selbstbeschreibung her zu begreifen. Gerade Beharrungs- oder Wandlungsprozesse sind zumeist auch mit externen Veränderungen und Außendeutungen verbunden. Wer den Wandel der Sozialdemokratie, der Universitäten oder eben der Kirchen erklären will, muss die von außen an sie herangetragenen Erwartungen und Deutungen ebenfalls einbeziehen, da gerade Großorganisationen sich eher durch Außendruck bewegen.