Mittel-/Osteuropa
Der Entwicklung der Einkommen in den Ostblockländem lag ein Widerspruch zwischen den ideologischen und legitimatorischen Grundlagen des ihnen eigenen staatssozialistischen Systems auf der einen und den wirtschaftlichen Erfordernissen auf der anderen Seite zugrunde. Die in diesen Staaten herrschenden kommunistischen Parteien vertraten den Anspruch, die sozialistische Utopie von materieller Gleichheit und Gerechtigkeit verwirklichen zu können. Jedoch wurde diese Idee von den Führungen jener Parteien auch instrumentalisiert, um ihre Macht zu legitimieren. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit faszinierte an dieser Vision besonders die Annahme, auf der Basis gesellschaftlichen Eigentums und gesamtwirtschaftlicher Planung Vollbeschäftigung garantieren zu können. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit wurde für den Staatssozialismus zu einem wesentlichen Wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ziel und damit zu einer weiteren legitimatorischen Grundlage. Auf dem sozialisierten Eigentum an den Produktionsmitteln beruhte auch die Vorstellung, daß die Arbeitskraft - im Unterschied zum Kapitalismus, für den das Marx herausgearbeitet hatte - ihren Warencharakter verlieren werde. Da alle Gesellschaftsmitglieder Eigentümer der Produktionsmittel seien, müßten sie ihre Arbeitskraft nicht mehr an die Besitzer der Produktionsmittel verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der damit letztlich zu verwirklichende Gleichheitsanspruch war jedoch nicht absolut, sondern stand latent im Widerspruch zu dem Erfordernis, auch in diesem als Alternative zur liberalen Wettbewerbswirtschaft gedachten System Wirtschaftswachstum inklusive Produktivitätssteigerung zu gewährleisten.
Sowohl der Blick nach Westeuropa als auch nationale Selbstpositionierungen bestimmten Europavorstellungen im Ostblock. Besonders in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts dynamisierten sich hier Debatten um Europa, und verschiedene Narrationen von Europa standen dabei in einer Bedeutungskonkurrenz. Die politische Integration im westlichen Teil des Kontinents strahlte in die Kreise unabhängiger Intellektueller positiv aus, doch es wurden auch Debatten um eine regionale Identität Zentraleuropas geführt. Beide Stränge traten in der bekannten „Mitteleuropa-Debatte“ in einen Widerstreit. Auch wurde die Auseinandersetzung um „Polens Platz in Europa“ über die Jahre des Staatssozialismus hinweg fortgeführt, und in den Friedensbewegungen suchte man länderübergreifend nach einer europäischen Ordnung außerhalb der Systemkonfrontation. Sogar in den Parteieliten wurde darüber nachgedacht, wie sich die westlichen Staaten des Ostblocks angesichts des schwachen Zusammenhalts im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wirtschaftlich neu orientieren könnten. So wurden den westeuropäischen Staaten Angebote zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit, zu einer Verstärkung des Ost-West-Handels und gar zum politischen Dialog gemacht. Selbst in sich ideologisch stark vom Westen distanzierenden Staaten wie der DDR kam zur aus der Nachkriegszeit stammenden antikapitalistischen Rhetorik das intensive Reden über Ost-West-Kooperationen hinzu. Zwar wurde die Nachkriegspropaganda der Abgrenzung vom westlichen „Kleineuropa“ noch bis 1989 verfolgt, parallel wurde jedoch versucht, sich der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft anzunähem, um wirtschaftliche Vorteile zu realisieren und damit die Herrschaft zu stabilisieren. Oppositionelle Vorstellungen von Europa befanden sich trotz der restriktiven Bedingungen der staatssozialistischen Diktaturen nicht allein in einem abgrenzenden Gegensatz, sondern auch in einem Austausch mit denen der offiziellen Propaganda.
Die Regularien der Austragung von Arbeitskämpfen, die in der tschechoslowakischen Republik zwischen 1918 und 1938 institutionalisiert und kodifiziert wurden, sind bereits vor der kommunistischen Machtübernahme (Februar 1948) so weit ausgehöhlt worden, daß die Errichtung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) unter diesem Gesichtspunkt nicht als qualitative Zäsur betrachtet werden kann. Ausschlaggebend für die Erosion der rechtlichen, organisatorischen und politisch-sozialen Grundlagen von Arbeitskämpfen war das machtpolitische Konfliktszenarium der formal demokratisch verfaßten Nachkriegsrepublik (1945-1948), d. h. die oft dargestellten Auseinandersetzungen zwischen der KPTsch und den anderen Parteien der Nationalen Front, in deren Verlauf die legitime Verfolgung von Gruppeninteressen und das freie Ausschwingen sozialer Konflikte in beiden politischen Lagern rigoros parteipolitischem Kalkül untergeordnet wurden. Unser Thema ist dafür ein besonders anschauliches Beispiel. Die Parteien rechts von Kommunisten und Sozialdemokraten forderten einen restriktiven Umgang mit Arbeitskämpfen, um dem sozialen Radikalismus und der politischen Mobilisierung der Industriearbeiterschaft, die in der Masse zur Klientel der KPTsch gehörte, das Wasser abgraben zu können. Auf der Gegenseite akzeptierte und unterstützte das linke Machtkartell, das die kommunistische Partei und die im Mai 1945 als Einheitsgewerkschaft gegründete Revolutionäre Gewerkschaftsbewegung (ROH) bildeten, industrielle Konflikte nur insoweit, als diese mit seinen klassenpolitischen Zielsetzungen und dem - wenn auch zunächst vage formulierten - volksdemokratischen Konzept vereinbar erschienen. Das verdeutlichen in erster Linie die von den beiden Organisationen teils selbst organisierten, teils nachträglich in Regie genommenen politischen Streiks für die Verstaatlichung von Industriebetrieben oder gegen die Restitution industrieller Konfiskatę in privates Eigentum.
Workers always have something to complain about - even in the ,workers’ and peasants’ states’ of state socialism. Many of the causes of worker discontent across eastern European states in the period from the late 1940s to 1990 were similar, although varying in level and intensity at different times in different areas. What differed were the ,hard‘ and ,soft‘ institutional strategies for dealing with worker discontent; the varying resources, alliances and interests of workers; and the varying forms of protest, in the light of particular historical conditions and distinctive heritages of experience and culture. A comparative approach, paying attention both to changes within the working classes and to wider social changes across time, can yield some potentially very fruitful hypotheses about patterns of worker protest in eastern European communist states.
Die Geschichte der mittel- und osteuropäischen Arbeiterschaft in der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Parteidiktaturen gehört nicht zu den besonders gut erforschten Segmenten moderner Arbeitsgesellschaften. Dabei schlagen nicht so sehr quantitative Defizite und methodische Probleme zu Buche. Vielmehr wirken noch immer Wahmehmungsmuster aus der Zeit des Kalten Krieges nach. Die seit den fünfziger Jahren entwickelten Argumentationslinien ließen die Arbeiter in den Ländern und Gesellschaften des sowjetischen Blocks aus der westlichen Perspektive zumeist in einem mehr oder weniger manifesten Dauerkonflikt mit den Parteiregimes erscheinen. Diese wiederum beanspruchten, nicht nur selbst ein Teil der Arbeiterklasse zu sein, sondern auch als deren Avantgarde bei der Erfüllung einer historischen Mission aufzutreten. Ihre offizielle Historiographie war auf dieses Erklärungsmuster festgelegt. Solche apologetischen Positionen wurden nach 1989 nahezu völlig aufgegeben. Allenfalls im Verweis auf soziale Sicherheit der Arbeiterexistenz im Realsozialismus finden sich Anklänge daran. Statt dessen neigte sich das Pendel in die Richtung eines „historischen Turpismus“. In seinem Licht erschien der Arbeiteralltag im sowjetischen Macht- und Einflußbereich als permanente Misere. Solche bipolaren, an den einfachen Koordinaten des Kalten Krieges orientierten Interpretationen traten seit Mitte der neunziger Jahre gegenüber einer differenzierteren Sicht auf die Arbeitergeschichte Mittel- und Osteuropas etwas zurück. Inzwischen dominiert eine eher ambivalente Perzeption. Ihr zufolge war der Arbeiterschaft durchaus ein gegen die Parteidiktaturen gerichtetes Resistenzpotential eigen, doch blieb sie auch um Arrangements mit den Machteliten nicht verlegen.
The first thesis the paper argues is that a certain collective identity emerged at the shop floor („we“, the workers as opposed to „them“, party leaders, intelligentsia, peasants, the self-employed) that was built - and declared - increasingly in opposition to the official ideology and the communist party.5 Important factors in this process were the growing economic difficulties, the party’s apparent inability to solve them and the increasing materialism people experienced in the everyday life - including party member- and leadership. From the mid-70s onwards, the workers could perceive the worsening economic situation of the country by the decrease of the real wages and the need to do overwork or take extra jobs (first in the agriculture and then in the so-called vgmk-s) to keep the former standards of living. The continuously increasing prices made the impact of the „global market“ real regardless of the stance of the Central Committee. The sharpening criticism of the system is formulated, however, not from the viewpoint of the individual but that of the worker, which suggests the existence of a collective identity. One may call it a paradox of the Communist ideology that the system, after all, was successful to develop working-class collective identities but these were built in opposition to the Communist regime and not for it. The paper will attempt to show how these „oppositionist“ identities were formulated and in what ways they are indicative of the alienation of the workers from the workers’ state.
Der vorliegende Band vereint methodisch-theoretische Überlegungen zur sozialhistorischen Netzwerkanalyse und empirische Einzelstudien zum Phänomen der Netzwerke im Realsozialismus. Er lädt dazu ein, die Substrukturen der realsozialistischen Gesellschaften zu analysieren. Netzwerke sind definitorisch nur schwer zu erfassen und lassen sich nicht immer scharf gegenüber Begriffen wie Patronage, Seilschaft, Arrangement etc. abgrenzen. Die Autoren der Beiträge experimentieren quasi mit dem Netzwerkbegriff auf der Grundlage ihrer jeweiligen empirischen Ergebnisse. Dabei kommt es zu Überschneidungen mit den Netzwerkbegriffen der Wirtschaftsgeschichte, der Organisationssoziologie und der Politikwissenschaften. Auf den ersten Blick scheinen sich einige der vorliegenden Untersuchungen wenig auf den Netzwerkbegriff zu beziehen. Auf den zweiten Blick jedoch, und das macht die Spezifik des Bandes aus, untersuchen sie Sonderformen von Netzwerken. Die Netzwerke in staatssozialistischen Systemen wurden, anders als etwa in westlichen Unternehmen, nicht aufgrund kalkulierter Effizienzkriterien installiert und aktiv betrieben, sondern dienten in der Regel dazu, eine Vielzahl von Defiziten zu kompensieren.
Ausblick. Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR
(2008)
Netzwerktheorien sind aus den technischen Disziplinen und aus der allgemeinen Systemtheorie, aus den Naturwissenschaften, aus Ökonomie und Soziologie auch in die Geschichtswissenschaft „hineingewandert“. Die einschlägige Forschung hat sich, hierfür ist der vorliegende Band ein Beleg, in den letzten beiden Jahrzehnten stark verdichtet und ausdifferenziert. Sie hat damit allerdings auch eine Mode welle generiert: vor allem in kulturwissenschaftlichen Forschungskontexten wird der Netzwerk-Begriff ausufemd, oft mit unverkennbar normativer Konnotierung (Netzwerk als „guter“, weil angeblich nichthierarchischer Modus von Vergesellschaftung) verwendet. Häufig degeneriert er zur vagen Metapher, generell wird als analytisches Passepartout überschätzt.
Der demokratische Zentralismus als das prägende Herrschaftsprinzip staatssozialistischer Gesellschaften, das nicht nur in der politischen Sphäre, sondern auch in der Staats- und Wirtschaftsordnung volle Gültigkeit beanspruchte, lässt die Frage nach möglicherweise daneben existierenden kooperativen „Netzwerken“ auf den ersten Blick als nachgeordnet erscheinen. Das Herrschaftsprinzip des demokratischen Zentralismus, das sei kurz in Erinnerung gerufen, stellte die wichtigste Grundlage für die zentralistische Leitung und den einheitlich-hierarchischen Aufbau des gesamten politischen, staatlichen und wirtschaftlichen Institutionengefiiges in den staatssozialistischen Gesellschaften dar. Legitimiert wurde es bekanntlich mit dem ideologischen Postulat, die sozialistische Gesellschaft bedürfe der einheitlichen und planmäßigen Führung durch die Partei der Arbeiterklasse, die deshalb keine konkurrierenden Macht- und Selbstbestimmungsansprüche neben sich dulden könne. Von der Partei wurde das Prinzip des demokratischen Zentralismus folglich nicht nur im eigenen Organisationsaufbau berücksichtigt, sondern - leicht abgewandelt - auch auf den ihrer Leitung subordinierten Staat sowie die ihm einverleibte Wirtschaft übertragen.
Im April 1953 stand es schlecht um die monatliche Planerfüllung in den Vereinigten Stahlwerken Kladno. Der Direktor der Stahlwerke nannte einem Emissär des Ministeriums für Hüttenindustrie und Erzgruben die Gründe. Vor allem gehe es mit dem sozialistischen Wettbewerb nicht voran, dem Motor der Planerfüllung. Die Materialzufuhr sei unregelmäßig, die Auftragslage decke nicht alle Werksabteilungen ab, die künftige Auslastung der einzelnen Produktionsbereiche sei wegen einer sich hinziehenden Entscheidung der Planungsbehörde über eine Senkung des Plansolls offen. Der Emissär beruhigte den besorgten Direktor. Die Vereinigten Stahlwerke sollten nicht versuchen, bei der Planerfüllung „Wunder zu vollbringen“, denn Luppen und Schrott für die Hochöfen seien rar. Einige Tage vor diesem Gespräch hatten Partei und Regierung einen „mobilisierenden“ Beschluss zum Plansoll der Stahlwerke in Kladno gefasst und ließen im „Rüde prävo“, dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch), die Werbetrommel für den „Kampf an den Hochöfen“ in Kladno rühren.
Die politische und wirtschaftliche Krise in der Tschechoslowakei 1953 und Versuche ihrer Überwindung
(1999)
Die Verhaftung einer Reihe führender Persönlichkeiten der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) im Laufe des Jahres 1951, ihre Verurteilung in gespenstischen Schauprozessen und schließlich die Hinrichtung einiger von ihnen im Jahre 1952 erschütterten die kommunistische Parteimaschinerie in ihren Grundfesten. Die Verfolgung der „Agenten des Imperialismus“ im innersten Kreis der Partei zog immer weitere Kreise. Niemand war vor ihr sicher. Es mußten nicht nur diejenigen ihre Positionen verlassen, gegen die von der Staatssicherheit (Stätni bezpecnost, StB) ermittelt wurde, sondern auch ihre nächsten Mitarbeiter und manchmal sogar ihre Verwandten. Die Funktionäre und Mitglieder der KPTsch befiel ein bisher unbekanntes Gefühl der Unsicherheit, das ihre bis dato festgefügten Reihen ins Wanken brachte.
Eines der größten Probleme eines klassischen stalinistischen Systems ist, ob es über ausreichend Informationen verfügt, um notwendige Veränderungen durchzuführen. Die Frage ist, in welchem Umfang die Alarmzeichen einer bevorstehenden Krise wahrgenommen werden? Das ungarische kommunistische System erfuhr im Sommer 1952 eine Krise, die durch eine schlechte Ernte und einen exzessiv zwanghaften Fünf-Jahres-Plan verursacht war. Alle Bereiche der Wirtschaft zeitigten ernsthafte Ungleichgewichtigkeiten. Obwohl Anzeichen der Krise seit dem Sommer 1952 evident waren, wurde die Krise erst ein Jahr später, im Frühsommer 1953 wahrgenommen.