Körper
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Der Beitrag untersucht Motive und Voraussetzungen des Engagements west- bzw. gesamtdeutscher zivilgesellschaftlicher Initiativen in Belarus nach der Katastrophe von Tschernobyl. Gefragt wird, welche Wahrnehmungen und Maßstäbe von Sicherheit und Verunsicherung die Akteure leiteten. Die Fundamente des Engagements lagen in den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre – vor allem in der Anti-AKW- und der Friedensbewegung. Die zunehmende Sensibilisierung für ökologische Schäden, das sinkende Vertrauen in die schützende Rolle des Staates und wachsende Zweifel an der Autorität von „Experten“ verbanden sich mit einem Wandel in der Kommunikation von Emotionen. Angst und Verunsicherung wurden in der Spätphase des Kalten Krieges zum Mobilisierungspotenzial für ein zivilgesellschaftliches Handeln, das zum Teil bis heute andauert und vielfältige Kontakte zwischen Deutschland und Belarus etabliert hat.
While British coal miners are often cast in the collective memory as traditionalists, the article reveals a more complex conception of identity. During the 1970s and 1980s, the National Union of Mineworkers (NUM) combined ideas of heroic masculinity with support for the workplace rights of women and ethnic minorities. ›Muscular masculinity‹ was used as a resource to further the opportunities of disadvantaged groups and to defend the miners’ own interests, as is demonstrated with reference to the ›Grunwick‹ dispute of 1976–78 and the great miners’ strike of 1984/85. The miners’ prioritising of muscular masculinity did not go uncontested at the time. Yet it was not until the events of 1984/85 that the NUM’s cult of masculinity came to be seen as a cause of the miners’ defeat and a problem for the British Left in general. Following a famous dictum by E.P. Thompson, the article argues that historical conceptions of masculinity should be measured by the standards of the time rather than the expectations of our present.
Im Zentrum des Beitrags steht die Sozialfigur des britischen Bergmanns in den 1970er- und 1980er-Jahren. Während der Bergarbeiter im kollektiven Gedächtnis der Gegenwart gern als traditionsverhaftet dargestellt wird, rekonstruiert der Aufsatz einen vielschichtigeren Identitätsentwurf, der eine heroisierte Form von Männlichkeit mit dem Einsatz für die Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten am Arbeitsplatz verband. »Muskuläre Männlichkeit« galt der National Union of Mineworkers als Machtressource, die sowohl zur Ausweitung der Lebenschancen anderer als auch zur Verteidigung eigener Interessen eingesetzt werden konnte, wie am Beispiel des »Grunwick«-Arbeitskampfes der Jahre 1976–1978 sowie des großen Bergarbeiterstreiks von 1984/85 dargelegt wird. Bereits zeitgenössisch blieb die gewerkschaftliche Betonung heroisierter Männlichkeit nicht unwidersprochen. Erst infolge des verlorenen Streiks 1984/85 setzte sich allerdings eine Sicht durch, die diese Form von Männlichkeit mitverantwortlich machte für das Scheitern der Gewerkschaft und die Krise der britischen Linken in den 1980er-Jahren. Im Anschluss an ein berühmtes Diktum E.P. Thompsons plädiert der Beitrag dafür, historische Männlichkeitsentwürfe stärker an den Maßstäben der Zeit als an den Erwartungen unserer Gegenwart zu messen.
Was verrät der Umgang mit Behinderung über moderne Gesellschaften? Während in Arbeiten von Disability Historians zu lesen ist, dass die Linse »Behinderung« einen ganz neuen, kritischen Blick auf Kultur und Gesellschaft und ihren Umgang mit Diversität ermögliche, erweckt die Durchsicht der großen Synthesen etwa zur bundesrepublikanischen Zeitgeschichte den Eindruck, dass es offenbar auch ohne diese Kategorie geht. Weder kommen Menschen mit Behinderung dort vor, noch wird »Behinderung« als Strukturkategorie verstanden. Dies erstaunt umso mehr, als die Relevanz des Phänomens nicht bestritten werden kann: Etwa ein Siebtel der Weltbevölkerung lebt mit einer körperlichen, seelischen oder kognitiven Behinderung. In der Bundesrepublik ist dieser Wert kaum niedriger. Der Anteil derjenigen, die wir heute als Menschen mit Behinderungen bezeichnen würden, dürfte in früheren Gesellschaften – legt man zum Beispiel die an Teilhabechancen orientierte Definition des deutschen Sozialgesetzbuches (SGB) IX zugrunde – mitunter noch größer gewesen sein. Die Geschichte dieser Menschen und des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen wurde von der historischen Forschung lange Zeit vernachlässigt. Die seit den 1980er-Jahren im Kontext der angelsächsischen Emanzipationsbewegung entstandene Disability History rückt beides ins Zentrum.
Klaus Ender wurde 1939 in Berlin geboren. Aus politischen Gründen flieht er 1957 aus der DDR und schließt in Friedrichshafen am Bodensee eine Ausbildung als Bäcker ab. Nach eineinhalb Jahren kehrt er in die DDR zurück. Auf Rügen gründet er den Fotoclub Saßnitz. 1963 entstehen erste Aktaufnahmen. Zwei Jahre später werden Fotos von ihm in der Zeitschrift „Das Magazin“ veröffentlicht. Nach seiner Zulassung als Bildreporter ist er als Volkskorrespondent tätig und veröffentlicht im Fotokinoverlag Leipzig das Lehrbuch „Mein Modell“. 1975 wird in Potsdam seine Fotoausstellung „Akt & Landschaft“ eröffnet, in der Bilder von ihm und dem Fotografen Gerd Rattei zu sehen sind. Sie ist ein großer Erfolg und tourt durch sechs Städte in der DDR. Im Jahr 1981 reist Ender aus der DDR nach Österreich aus. Seit 1996 lebt er wieder auf Rügen, veröffentlichte über 150 Bücher und zeigt seine aktualisierte Ausstellung „Akt & Landschaft“ in verschiedenen Orten, zuletzt 2016 in Wittenberg.
Ein Denkmal in Gursuf, einem Schwarzmeerküstenort auf der Krim – man könnte es betiteln mit »Lenin spannt aus«. Statt der gewohnten Lenin-Statuen aus sowjetischer Zeit, die aufrecht stehend mit großer Geste den Weg in eine »strahlende Zukunft« (so auch ein weiterer Romantitel Sinowjews) weisen, finden wir in Gursuf einen ebenso überlebensgroßen, erhabenen Lenin vor; er sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen, fast in Urlaubshaltung auf einer Bank vor einer prunkvollen Villa, die in der UdSSR dem Sanatorium des Verteidigungsministeriums zugeordnet war. Bereits in der frühen Sowjetunion – in den 1920er-Jahren – hatte Lenin dekretiert, die Kurorte der Krim seien für die Arbeiter und Bauern zu nutzen sowie die Villen und Besitztümer der Adligen in entsprechende Sanatorien umzuwandeln. Die gesamte Schwarzmeerküste der Sowjetunion wurde als Kurregion entwickelt. So ließ Stalin einst Sotschi – 2014 die Stadt Putins subtropischer Winterolympiade – als Modell-Kurstadt und Prestigeprojekt ausbauen. Die Krim, deren Badeorte bereits auf das 19. Jahrhundert zurückgingen, und vor allem die Gegend um Jalta – auch russische Riviera genannt – wurde zur wichtigsten Erholungs- und Sanatorienregion der UdSSR.
»So darf es nicht weitergehen«, forderten im September 2019 hunderte deutsche Ärzte und Verbände des Gesundheitssektors. Sie formulierten eine flammende Anklage gegen »das Diktat der Ökonomie« und gegen eine »Enthumanisierung der Medizin« in Krankenhäusern und Arztpraxen. Dieser »Ärzte-Appell« ist ein aktueller Beitrag zu einer langjährigen intensiven Debatte um das Verhältnis von Gesundheit und Ökonomie. In der Öffentlichkeit stehen die »Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens« meist als Menetekel für eine »Medizin ohne Empathie« und für die Verschärfung sozialer Ungleichheiten am Krankenbett: Kinder, aber auch Migranten, Alte und Arme seien die Leidtragenden, wenn es »an Geld, Ärzten und Pflegern« fehle. Die Binnenperspektive eröffnet nicht minder alarmierende Einblicke. In einer Studie wurden 2018 zahlreiche Geschäftsführer und Ärzte an Kliniken zu betriebswirtschaftlichen Einflüssen auf ihre Arbeit befragt. Sie zeichneten ein bedrückendes Bild, das die Autoren der Studie wie folgt zusammenfassten: »Die Krankenhausmedizin nimmt fabrikmäßige Züge an, die medizinische Arbeit wird für das ärztliche und pflegerische Personal tendenziell als fremdbestimmt erlebt. [...] Insofern verändert die Ökonomisierung auch mittelbar den Charakter der Medizin.«
Stress ist als Begriff und Problem weit über die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte hinaus relevant; Stressdiskurse können als Sonde für breitere gesellschaftsgeschichtliche Konstellationen dienen. Eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Stress muss daher zum einen dem medizinisch-biologischen Konzept nachgehen, zum anderen dessen gesellschaftliche Funktionalität erfassen. Die Zeitgeschichte wird den Fokus besonders auf die sozioökonomischen Prozesse und die soziale Sinngebung richten. Gleichwohl gibt es ein nicht zu vernachlässigendes methodisches Grundproblem: Wie lässt sich eine Beziehung herstellen zwischen den biochemischen und psychologischen Dimensionen, die mit dem Stressbegriff verknüpft sind, sowie den komplexen sozialen Konfigurationen, die dieser Begriff rationalisieren soll? Was sind die Konstituenten und Selbstbeschreibungsmodi einer Gesellschaft, die sich durch Flexibilisierung und Regulierung gleichermaßen auszeichnet? In welchem Verhältnis stehen zudem die jüngere Entwicklung seit den 1970er-Jahren, in der Stress eine hohe Deutungsmacht erhalten hat, und die Überforderungsdiskurse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts?
Since the late 1950s, nutrition experts have debated whether foods enriched with micronutrients such as protein could alleviate world hunger. Industrial production of such ›wonder foods‹ began in the 1960s, making the food industry an actor in international food aid. Following a brief review of the history of scientific nutrition research, the article analyzes the first boom of fortified foods between the 1950s and the 1970s. With particular reference to the NGO CARE and the Institute of Nutrition of Central America and Panama (INCAP) with its product Incaparina, it shows how the conflict-ridden cooperation between humanitarian actors, governments, business and science developed. In addition to looking at contemporary debates about prices, quality controls and marketing strategies, consumer perspectives must be considered in order to understand the success or failure of new products. After a temporary slump in euphoria from the 1970s onwards, ›wonder foods‹ have experienced a revival since the 1990s – mainly because the networks between governments, nutrition experts, international organizations and the food industry were further cultivated and greater consideration was given to the needs of consumers.
Seit den späten 1950er-Jahren diskutierten ErnährungsexpertInnen, ob mit Mikronährstoffen wie Protein angereicherte Nahrungsmittel den Hunger auf der Welt lindern könnten. Die industrielle Produktion solcher »Wonder Foods« begann in den 1960er-Jahren. Damit wurde die Lebensmittelindustrie zu einem Akteur in der internationalen Nahrungsmittelhilfe. Nach einem kurzen Rückblick auf die Geschichte wissenschaftlicher Ernährungsforschung analysiert der Aufsatz den ersten Boom angereicherter Nahrungsmittel zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren. Am Beispiel der NGO CARE und des zentralamerikanischen Ernährungsinstituts INCAP mit seinem Produkt »Incaparina« wird gezeigt, wie sich die konfliktreiche Kooperation zwischen humanitären Akteuren, Regierungen, Wirtschaft und Wissenschaft entwickelte. Neben dem Blick auf zeitgenössische Debatten über Preise, Qualitätskontrollen und Marketingstrategien müssen insbesondere KonsumentInnenperspektiven einbezogen werden, um Erfolg oder Scheitern neuer Produkte zu verstehen. Nach einem temporären Einbruch der Euphorie ab den 1970er-Jahren erlebten »Wonder Foods« seit den 1990er-Jahren ein Revival – vor allem deshalb, weil die Netzwerke zwischen Regierungen, ErnährungsexpertInnen, internationalen Organisationen und Lebensmittelindustrie weiter gepflegt wurden und die Bedürfnisse von KonsumentInnen mehr Berücksichtigung fanden.
Methoden queeren Forschens
(2023)
Queere Methoden – der Begriff ist ebenso unklar wie widersprüchlich. Wie kann so etwas wie Methoden, die für Ordnung und Übersichtlichkeit stehen, mit queer in Verbindung gebracht werden, also mit den damit verbundenen flüchtigen, widerspenstigen Praktiken und Subjektpositionen oder gar mit einem Theoriekorpus, der alle normativen Setzungen zu unterlaufen verspricht? Zunächst ließe sich vermuten, dass queeres Forschen sich mit queeren Themen, Lebensweisen und Selbstverständnissen beschäftigt – so wie sich die historische Forschung mit der Vergangenheit auseinandersetzt. Warum sollten dazu andere als die etablierten Methoden des archivalischen, historischen oder ethnographischen Forschens notwendig sein? So einfach liegen die Dinge jedoch nicht. Genauso wenig wie die Geschichtswissenschaft schlicht Vergangenes erzählt, beschreibt queere Forschung lediglich queere Lebensweisen. Schon lange ist queer nicht mehr nur ein Adjektiv, das im Sinne von LSBTIA* ein Feld von Subjektpositionen bezeichnet. Häufig wird queeren auch als Verb gebraucht, das ein aktives Tun meint – zum Beispiel im Umgang mit Methoden und dem Forschen selbst. Es geht also darum, die Art und Weise zu queeren, wie sich Forscher*innen den Feldern ihres Interesses nähern und ihre Themen erkunden.
»The Wisdom of the Body«: Das klingt nicht erst heute mehr nach Esoterik als nach dem wichtigen physiologischen Hauptwerk, als das es Walter Bradford Cannon 1932 für ein breites Publikum verfasste. Solche Überraschungen hören nicht beim Titel auf. Gleich der erste Satz der Einleitung lautet zum Beispiel: »Our bodies are made of extraordinarily unstable material.« Und das erste Kapitel trägt den Titel »The Fluid Matrix of the Body«. War Cannon ein postmoderner Theoretiker dynamisch-fluider Körperlichkeit avant la lettre? Soweit wird man nicht gehen können, aber tatsächlich hat das Buch heute in Zeiten von Stress, Resilienz und einem wiedererstarkten Systemdenken in der Biologie an Aktualität und Überzeugungskraft zurückgewonnen. Was Cannon hier auf dem Höhepunkt seiner Karriere vorgelegt hatte, war mehreres in einem: die Summa seiner Forschungen, das Lehrbuch einer neuen integrierten Theorie des Organismus – für die er den Neologismus »Homöostase« prägte –, ein populäres Werk über die Fortschritte physiologischer Forschungen seiner Zeit und schließlich das Plädoyer eines fest in den Naturwissenschaften verankerten Humanisten für eine bessere Weltordnung. Denn auf der Basis seiner Theorie der Homöostase wollte er schließlich auch den Staat reformieren – zu einem perfekten Vorsorgestaat nach biologischem Vorbild, inklusive systematischer Vorratsplanung mitsamt Reservearbeitsplätzen für Krisenzeiten. Mit etwas Zögern, aber dafür umso nachdrücklicher hatte er deshalb dem Buch einen Epilog hinzugefügt: »Relations of Biological and Social Homeostasis«.