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In den 1990er-Jahren ist das Interesse am Ersten Weltkrieg nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch seitens populärer Geschichtsdarstellungen enorm gestiegen – ein Trend, der bis in die jüngste Vergangenheit angehalten hat. So erlebte das Jahr 2014 eine Vielzahl von Publikationen, Diskussionen, Ausstellungen und Fernsehsendungen zum Thema. Dabei fällt es auch Fachleuten schwer, angesichts des historischen Groß- und Medienereignisses die Übersicht zu behalten. Um diesem mannigfaltigen medialen Angebot ein wissenschaftlich fundiertes Überblicksportal an die Seite zu stellen, wurde im Oktober 2014 die Website »1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War« freigeschaltet, die seither stetig erweitert wird. Um es vorwegzunehmen: Sie besticht durch eine Fülle an erhellenden und thematisch neuen Artikeln zum Ersten Weltkrieg. Mit einer dezidiert globalen Perspektive und verschiedenen Zugriffen (inhaltlich, zeitlich, regional) bietet sie nicht nur gezielte Rechercheoptionen, sondern lädt bewusst zum Stöbern und Lesen ein. Dabei weist das Portal eine sinnvolle und nachvollziehbare Systematik auf.
Der Computer und die mit ihm verbundenen Informations- und Kommunikationstechnologien sind spätestens mit dem Aufkommen der Mikroelektronik Anfang der 1970er-Jahre zu entscheidenden Faktoren der Entwicklung moderner Industriegesellschaften geworden. Im Verlauf der 1980er-Jahre diffundierten Computer und neue Medien in nahezu alle Bereiche der Gesellschaft – angefangen von der Arbeit über die Formen der sozialen Kommunikation, die politische Kultur, die Bildung, den Konsum und die Freizeit bis hinein in die individuellen Lebensstile. Der „Informationsgesellschaft“ (ein Begriff, der nicht zufällig ab etwa 1980 populär wurde) hat die zeithistorische Forschung bislang eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Mit Blick auf die wichtigsten Phasen und Zäsuren diskutiert der Aufsatz mögliche Perspektiven einer Zeitgeschichte der Informationsgesellschaft. Plädiert wird dabei für eine integrierende gesellschaftsgeschichtliche Analyse des mit dem Computer verbundenen Wandels sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontexte.
In den heutigen »wissens- und technologieintensiven« Zeiten, so könnte man annehmen, drehen sich Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr um Immaterielles. Manche hoffen sogar, dass diese post-industrielle Revolution der Weltwirtschaft den Schub geben wird, den sie braucht, um weiterhin auf einem Wachstumspfad zu bleiben und – dieses kleine Detail bleibt oft unerwähnt – weiterhin eine asymmetrische Verteilung von Produktivität und Einkommen sicherzustellen. Warum sollte sich also ein Themenheft der »Zeithistorischen Forschungen« ausgerechnet jetzt mit dem »Wert der Dinge« beschäftigen, wo diese doch gerade zusammen mit der industriellen Produktion an Bedeutung zu verlieren scheinen? Gewählt haben wir dieses Thema nicht primär aufgrund der Konjunktur, welche die dinglichen Dimensionen der Vergangenheit momentan in der Geschichtswissenschaft genießen, sondern eben aufgrund der Rede vom Bedeutungsverlust des Materiellen. Sie macht es notwendig, den vermeintlichen Gegensatz zwischen Dingen und Menschen oder zwischen Stoffen und Gedanken neu zu fassen.
Christliches Abendland gegen Pluralismus und Moderne. Die Europa-Konzeption von Christopher Dawson
(2012)
Der englische Kulturhistoriker Christopher Dawson (1889–1970) bewegte sich im Laufe seiner Karriere eher am Rande der institutionellen akademischen Welt. Genau genommen kam Dawson erst 1958 zu akademischen Ehren, als er auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Römisch-Katholische Theologische Studien der Universität Harvard berufen wurde. Dennoch ist Dawsons früheres Werk auch heute noch populär. Insbesondere im katholisch-intellektuellen Milieu bzw. im katholisch geprägten geisteswissenschaftlichen und theologischen Kontext wird Dawson rege rezipiert. Der eigentliche Grund, sein Werk „neu“ zu lesen, liegt an dieser Stelle jedoch in Dawsons Bedeutung für eine Tradition antiliberaler Europa-Konzeption, die in der Zwischenkriegszeit entwickelt, unter anderen Vorzeichen aber auch in der Nachkriegszeit wirkungsmächtig wurde. Dawsons geschichtsphilosophischer Ansatz bestand in einer Fundamentalkritik der europäischen Aufklärung und in der Herleitung Europas über das abendländische Mittelalter, dessen Beitrag zur europäischen Zivilisation er der modernen nationalstaatlichen Entwicklung entgegenhielt. Zentral für Dawsons Werk und sein Wirken war die historische Konstruktion abendländischer Kultureinheit in seinem wohl bekanntesten Buch: „The Making of Europe“ von 1932.
Für dieses Buch muss man sich etwas Zeit nehmen. Ich hatte die gut 700 Seiten umfassende amerikanische Originalausgabe von »Mechanization Takes Command« (den Titel kürzte Giedion in seinen Notizen mit dem Akronym »M.T.C.« ab) im Sommer 2017 im Amtrak California Zephyr auf meiner Reise von Greenriver, UT, nach Chicago, IL, im Gepäck. Diese Reise bot aktualisiertes Anschauungsmaterial zu Giedions Sondierungen der US-amerikanischen Industrialisierungsgeschichte. Sie folgte jener Eisenbahnlinie, welche Kalifornien (wo die Frontier-Gesellschaft Amerikas im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihr Ende gelangte) mit Chicago verbindet (der nach dem großen Brand von 1871 zur Industriemetropole avancierten Stadt am Lake Michigan). Dazwischen öffnete sich der Midwest, dessen verrostete und verlassene industrielle Infrastruktur (Bahnhöfe, Fabriken, Brücken, Städte) durch das Zugfenster ins Blickfeld geriet und somit den Endpunkt der von Giedion dokumentierten Entwicklungen brutal vor Augen führte. Die heruntergewirtschafteten Landschaften des Midwest und Giedions Streifzüge in ihre Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts flossen ineinander über. Etwa dann, wenn der Zug stillstand und mein Blick bei den Getreide-Elevatoren hängen blieb, wo sich die Eisenbahnlinien kreuzen und der Personenzug den unendlich langen Güterwagen, die von Diesellokomotiven angetrieben werden, den Vortritt lassen musste. Oder wenn ich beim mäandrierenden Durchblättern des Buches und dem Blick aus dem Zugfenster den Faden verlor und eindöste – und dann beim Eindunkeln jäh von den sleeping car attendants, welche die ausklappbaren Sitze für die Nacht mit ein paar Handgriffen zu Betten umwandelten, in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Oder im Nachfolgemodell des von George M. Pullman 1869 in seinem Patent beschriebenen Speisewagens, wo die Reisende aus Europa und Wählerinnen des amtierenden Präsidenten sich am gemeinsamen Tisch zum Verzehr von Burger, Steaks und Hot Dogs wiederfanden. Jenes Präsidenten, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Re-Industrialisierung abgehängter Regionen im einst prosperierenden Rostgürtel der USA versprach.
Sehnsucht nach einem stillen Land. Wie zwei Reporter der „ZEIT“ im Jahr 1979 die DDR darstellten.
(2009)
Die heutige Lektüre des Buches irritiert, so eigenartig und doch auch vertraut wirkt das vor 30 Jahren entworfene DDR-Bild. Die Texte und Fotos wurden zwischen Herbst 1978 und Sommer 1979 zunächst als einzelne Reportagen im „ZEIT“-Magazin veröffentlicht. Die Journalistin Marlies Menge und der Fotograf Rudi Meisel waren seit 1977/78 die ersten akkreditierten „ZEIT“-Korrespondenten in der DDR - und blieben es bis 1990. Der Hanser-Verlag brachte sieben dieser Beiträge als großformatigen Bildband heraus. Meisel erhielt dafür 1979 den Kodak-Fotobuchpreis.
Der Mainzer Europa-Kongress im März 1955 war ein publizistisch stark beachtetes Ereignis, zudem dasjenige, mit dem das knapp fünf Jahre zuvor ins Leben getretene Institut für Europäische Geschichte erstmals bewusst den Lichtkegel der Öffentlichkeit suchte. Die Tagung wurde von mehr als 300 Wissenschaftlern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus 16 Staaten besucht, sprengte die räumlichen Kapazitäten des Instituts bei weitem und musste deswegen an den prominentesten Platz der Rheinstadt verlagert werden, nämlich in das Kurfürstliche Schloss. Schon im Folgejahr, 1956, konnte der Direktor der ausrichtenden Institutsabteilung, Martin Göhring, die gedruckte Dokumentation dieses Kongresses vorlegen. Sie trug denselben Titel wie die Tagung selbst: „Europa - Erbe und Aufgabe“.
Trauer, Patriotismus und Entertainment. Das »National September 11 Memorial & Museum« in New York
(2016)
Downtown Manhattan, 15. Mai 2014: Mit einer würdevollen Feierstunde eröffnen Michael Bloomberg und Barack Obama – in Anwesenheit der nationalen und lokalen Politprominenz, von Überlebenden, Ersthelfern und Angehörigen der Opfer der Anschläge – das National September 11 Memorial Museum. Der Name der Institution am ehemaligen Standort des World Trade Centers (WTC) ist Programm: Sie soll zugleich Gedenkort und Museum sein. Die gemeinnützige Stiftung, die unter dem Vorsitz des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters Bloomberg und der Leitung des Managers und Juristen Joe Daniels die Einrichtung verantwortet, hat es sich zum Ziel gesetzt, diese zentralen erinnerungskulturellen Aufgaben an einem Ort zu vereinen. Hier soll der Toten und der Überlebenden der Anschläge gedacht und an die Ersthelfer erinnert werden, die in den USA als Helden gelten. Die Institution richtet sich an eine breite Öffentlichkeit und soll diese auch historisch-politisch über die Auswirkungen des Terrorismus informieren.
IVAR und BILLY, zwei Regalsysteme von IKEA, stehen nicht nur für ein jahrzehntelanges Erfolgskonzept der schwedischen Möbelfirma, sondern auch für eine neue ästhetische und geistige Haltung, die sich im Verlauf der 1970er-Jahre auf breiter Basis durchgesetzt hat. Bedeutsam waren und sind die IKEA-Regale zunächst einmal für die Designgeschichte; zugleich lassen sich an ihrem Erfolg breitere Trends der Konsum-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte ablesen.
»Berlin war anders«, schrieb die Journalistin Susanne Kippenberger 2009 in treffender Hilflosigkeit über das eingemauerte Gebilde zwischen DDR und Bundesrepublik, dessen quecksilbrige Facettenvielfalt so eigentümlich mit seinen scharf markierten Grenzen kontrastiert. Das Berlin, das sie meinte, war West-Berlin – in ihrer Erinnerung einerseits wild und elektrisierend, andererseits übersichtlich und familiär, eigentlich riesengroß und doch eher ein Dorf. West-Berlin war anders – aber wie und was war West-Berlin?
Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im „New Age“ (Westdeutschland 1970–1990)
(2008)
Das „New Age“ wird üblicherweise als Ergebnis oder Ereignis der Privatisierung und Pluralisierung der Religion nach „1968“ begriffen. Der vorliegende Beitrag betrachtet diese Zuordnung als erweiterungsbedürftig und unterzieht einige der zentralen Deutungsmuster innerhalb des „New Age“ einer diskursgeschichtlichen Relektüre. Auf diese Weise geraten drei Transformationsprozesse in den Blick, die das „New Age“ in den 1970er- und 1980er-Jahren als „Neue Religion“ in das Zentrum des gesellschaftlichen Wandels rückten: Somatisierungs-, Orientalisierungs- und Kybernetisierungsprozesse. In einem weitgehend unbekannten Ausmaß wurde insbesondere die Sorge um den „eigenen“ Körper zum Referenzpunkt religiöser Kommunikation. Entgegen der Säkularisierungsthese verlor die Religion in diesem Kontext keineswegs an gesellschaftlicher Relevanz.
Wie viele andere, inzwischen zumeist und zu Unrecht als randständig behandelte Ideenlieferanten in der Bundesrepublik Deutschland der 1970er- oder 1980er-Jahre ist auch die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Marilyn Ferguson bislang noch kaum in den Genuss historiographischer Weihen gekommen. Im Gegensatz zu den Meisterdenkern der Frankfurter Schule oder liberalen und konservativen Cheftheoretikern sind Ferguson und andere Bezugsgrößen der „Gegenkultur“ und „alternativer“ Lebensweisen nach „1968“ selten zum Gegen-stand der Zeitgeschichtsschreibung geworden – zumal sich diese erst seit wenigen Jahren verstärkt Fragen der Religion zuwendet. Obwohl „Die sanfte Verschwörung“ in deutscher Übersetzung bis 1989 acht Auflagen erreichte und vom „Spiegel“ sehr treffend als „New-Age-Bibel“ bezeichnet wurde, findet sich in keiner der großen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik auch nur ein kurzer Verweis auf dieses Vademekum esoterischer Praktiken und Diskurse.
Friedliches Auseinanderwachsen. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der Entspannung 1960–1980
(2007)
Der Artikel skizziert die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaften Ost- und Westeuropas in der Ära der Entspannungspolitik. Die Hauptthese lautet, dass die diplomatische Annäherung der beiden Blöcke von einem gegenläufigen Auseinanderwachsen der west- und osteuropäischen Länder begleitet war. Während die westlichen Gesellschaften neue politische Aktionsmöglichkeiten in Form von sozialen Bewegungen erlebten, blieb dies im Osten wegen des Machtmonopols der kommunistischen Parteien unmöglich bzw. war mit weitaus größeren Schwierigkeiten verbunden. Auch neue (jugend)kulturelle Erscheinungsformen wie bestimmte Mode- und Musikströmungen konnten im Westen eine Normalität erreichen, die im Osten nicht möglich war. Die Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre führte im Westen zu einem Ab- bzw. Umbau der fordistischen Produktionsweise, während die realsozialistischen Staaten an alten Strukturen festhielten. Während diese Trends der 1970er-Jahre heute fast teleologisch auf den Zusammenbruch des Kommunismus vorauszudeuten scheinen, war dies für die Zeitgenossen nicht der Fall. Im Gegenteil: Viele Beobachter sahen eine mögliche Konvergenz der beiden Systeme.
Der Western im Osten. Genre, Zeitlichkeit und Authentizität im DEFA- und im Hollywood-Western
(2004)
„Die Söhne der großen Bärin“ (1966) war der erste von insgesamt 13 Westernfilmen der DEFA. Die Resonanz des DDR-Publikums war überwältigend – ähnlich wie bei den Karl-May-Verfilmungen in der Bundesrepublik. Der Anspruch der DEFA lautete, „Abenteuerfilme in historischem Gewand“ zu zeigen. Durch geschichtliche Korrektheit wollte man den Gründungsmythos der USA, der im Filmgenre des Western massenmediale Verbreitung erfahren hatte, und auch das tagespolitische Geschehen kritisch kommentieren. Bei einem Vergleich des DEFA-Films „Ulzana“ (1974) und der US-Produktion „Broken Arrow“ (1950), die beide Authentizität reklamierten, wird deutlich, wie an Konventionen von Filmgenres angeknüpft und zugleich durch eine Fiktion von historischer Realität versucht wurde, diese Konventionen zu überwinden. Der Aufsatz untersucht, ob und inwieweit die DEFA-Produktionen das Genre Western ästhetisch und inhaltlich umwandelten.
Als im Herbst 2017 der Berliner Antisemitika-Sammler Wolfgang Haney starb, wurden verschiedene Personen und Institutionen unruhig. Was wird aus der Sammlung? Kommt sie auf den Markt und geht als Gesamtwerk verloren? Welche Akteure und Logiken treten auf den Plan und konkurrieren um die ganze Sammlung oder um Einzelobjekte? Werden die Dauerleihgaben, die in großen Museen gezeigt werden, auf der Stelle zurückverlangt? Gibt es für öffentliche Einrichtungen Handlungsspielraum? Können, dürfen, sollen Steuergelder in den Ankauf judenfeindlicher Artefakte fließen? Wie werden sich die Erben verhalten?
Mit grandiosem Erfolg war 1995/96 am gleichen Ort die Vorgängerausstellung „Berlin - Moskau 1900-1950“ gezeigt worden. Diesen Begeisterungsvorschuss haben die Veranstalter nun entschlossen aufs Spiel gesetzt. Die Fortsetzung erinnert daran, was damals so faszinierte: Als eine Art Zeitmaschine machte „Berlin - Moskau 1900-1950“ den Besuchern die politischen und ästhetischen (Alb-)Träume der ersten Jahrhunderthälfte sinnlich-intellektuell erfahrbar. Anstatt aber auch unsere posttotalitären Nachkriegszivilisationen durch ein solches Prisma zu betrachten, präsentierte man im Herbst 2003 eine umfangreiche Zusammenstellung moderner Kunst aus sechs Jahrzehnten.Über Bord geworfen wurde alles andere, was das öffentliche Leben dieser Zeit geprägt hat: Architektur, Kino, Radio, Theater, Presse, Fernsehen, Denk- und Mahnmäler, Freizeitparks, Werbung, Wohnkultur, Sport und Städtebau. Übrig blieben rund 500 Kunstwerke, von denen die meisten zu den Städten Moskau und Berlin in keiner erkennbaren Beziehung stehen.
Das Ziel der 1787 geschriebenen US-Verfassung sei es, so heißt es in der Präambel, »to form a more perfect union«. Damals war offen, ob das politische Experiment auf dem nordamerikanischen Kontinent erfolgreich sein oder ob es aufgrund von inneren und äußeren Konflikten schon bald scheitern würde. Entsprechend nannte das 1782 entstandene Great Seal of the United States, auf dem auch das bekannte Präsidentensiegel basiert, eine bis heute nicht völlig eingelöste Aufgabe: »E pluribus unum«, »Out of Many, One«, also aus vielen Einzelstaaten einen gemeinsamen Staat zu machen.
Nach wie vor gilt „1968" vielen Beobachtern als eine klare Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte, als Übergang von der „restaurativen" Adenauer-Zeit zu einer liberalen westlichen Demokratie. In Schweden dagegen scheint „1968" keine Wirkungen gezeitigt zu haben; zumindest ist durch die (deutsche) Forschung nichts überliefert. In diesem Aufsatz werden die 68er-Ereignisse in beiden Ländern verglichen, um ihren historischen Stellenwert genauer zu bestimmen. Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen gab es manche Gemeinsamkeiten. Das lag an einem ähnlichen gesellschaftlichen Strukturwandel in der Nachkriegszeit, in den die 68er-Bewegungen eingebettet waren, aber auch an kollektiven Wahrnehmungsprozessen, durch die das magische Jahr „1968" in beiden Ländern überhöht wurde. Aus dieser vergleichenden Perspektive erscheint „1968" weniger als spezifisch bundesdeutsche Zäsur denn als Katalysator der gesellschaftlichen Umbrüche in der gesamten westlichen Welt.
Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verreiste die Mehrheit der Westdeutschen mindestens einmal im Jahr. Die Urlaubsreisen wurden zunehmend als Pauschalreisen ins Ausland unternommen und stellten für die meisten Haushalte auch in Krisenzeiten ein zentrales Konsumgut dar. Um sich dem Reiseverhalten eines Großteils der Bevölkerung anzunähern, werden hier Pauschalurlaube in Spanien untersucht. Dank des wachsenden Flugverkehrs entwickelte sich gerade dieses Land in den 1970er- und 1980er-Jahren zum beliebtesten Auslandsreiseziel der Westdeutschen. Von der zeitgenössischen Konsumkritik wurden Pauschalurlaube in Spanien jedoch häufig negativ bewertet; individuelle Ansprüche spielten bei dieser Urlaubsform angeblich keine Rolle. Anhand der Urlaubspraktiken, wie sie sich indirekt aus den Angeboten der Veranstalter sowie zusätzlich aus Fotoalben und Erinnerungsberichten erschließen lassen, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Massentourismus und die Erfüllung individueller Vorlieben schlossen sich nicht aus; zudem waren Pauschalreisen mitunter der Einstieg in eine selbstständigere Begegnung mit dem Urlaubsland. Der Aufsatz verdeutlicht damit auch das Potential praxeologischer Ansätze zur Erforschung des bundesdeutschen Massenkonsums insgesamt.
Im September 1976 veröffentlichte Heinrich Böll, Literaturnobelpreisträger und einer der meistbeachteten Schriftsteller der Bundesrepublik, die Besprechung eines gerade veröffentlichten Buches, dessen Autor zwar in der DDR lebte, seinen Text jedoch beim kleinen Werner Gebühr Verlag in Stuttgart zum Druck gegeben hatte. Faszination und Anziehung versprach der schmale Band schon wegen seiner Entstehung »im Grenzstreifen zwischen DDR und Bundesrepublik« (so Böll); deshalb wurde er unter einem Pseudonym – Carl-Jacob Danziger – veröffentlicht. Größer noch war das Interesse aber, weil es sich bei dem Buch mit dem ironisch distanzierten und in Anführungszeichen gesetzten Titel »Die Partei hat immer recht« um den autobiographischen Roman eines Schriftstellers handelte, der sich zuerst voll und ganz dem sozialistischen Selbstverständnis der DDR verschrieben, mit seinem Buch nun jedoch die Geschichte seiner Enttäuschungen vorgelegt hatte. »Danzigers schlimmste Sünde aber ist, daß er sich für Realismus und nicht für sozialistischen Realismus entscheidet«, fasste Böll die von Danziger niedergelegte Konfrontation seiner einstigen sozialistischen Utopie mit der Realität des DDR-Sozialismus zusammen. Hier lag die Geschichte einer Entfremdung und Abwendung vor. Auch deshalb wurde Danzigers Roman in der Bundesrepublik schnell große Aufmerksamkeit zuteil; Journalisten würdigten ihn als Ausdruck von »zivilem Ungehorsam«, »Auswurf des Gewissens« und einer persönlichen Abrechnung mit der Partei.
Es ist ein bisweilen befremdlicher erster Eindruck, den das Apartheid-Museum in Johannesburg für seine Gäste bereithält – während die Besucherin am Kassenhäuschen des Museums, auf halbem Weg zwischen der Johannesburger Innenstadt und dem Township Soweto gelegen, auf ihre Eintrittskarte wartet, trägt der Wind fröhliche Schreie herüber; Ausdruck der Achterbahnfahrten im nur einige Meter entfernt liegenden Vergnügungspark „Gold Reef City“. Einzig ein weitläufiger Parkplatz trennt den Themenpark, der mit einer disneyfizierten Repräsentation des Johannesburgs um 1900 aufwartet, und das zugehörige Kasino vom Museumskomplex. Für viele war dies zunächst ein Affront, etwa für die südafrikanische Autorin Nadine Gordimer, die „die Würde des südafrikanischen Freiheitskampfes“ durch den Rummel verletzt sah, gleichzeitig jedoch einräumte: „ Tatsache ist aber, dass wir ein eigenes Apartheid-Museum zwar diskutiert, aber nie zustande gebracht haben.“ Gordimers Bemerkung führt direkt in die Verwicklungen der südafrikanischen Kultur- und Erinnerungspolitik, für die das hier besprochene Großprojekt beispielhaft steht. Denn es war in der Tat das profane Anliegen, eine Kasinolizenz zu erlangen, das das gewaltige Museum möglich machte: Der „Community“ etwas „Greifbares“ zu geben war Bedingung für die Erteilung von „Gambling Licences“ ab 1994. In diesem Fall brachte der taktische Schritt eines der am besten besuchten Museen des Landes hervor.
Im Südafrika der 1950er-Jahre kam jede neue Ausgabe des Magazins »Drum« dem Öffnen eines Fensters zu einer anderen Welt gleich. Visuelle Repräsentationen vom urbanen Leben der Bevölkerungsmehrheit, von Kunst und Kultur, panafrikanischer Politik, aber auch von den Missständen in Südafrika waren in der offiziellen Bildwelt der 1950er-Jahre eine Sensation. Die 1951, drei Jahre nach Einführung der Apartheid als offizieller Regierungspolitik, zum ersten Mal erschienene englischsprachige Zeitschrift war daher revolutionär. Peter Magubane, einer der Fotojournalisten von »Drum«, bezeichnete die Redaktionsstube im Rückblick als eine Art Heterotopie innerhalb des segregierten Stadtraums: »›Drum‹ war eine andere Art von Zuhause, hier gab es keine Apartheid.«
Die zeitgeschichtliche Forschung hat sich erst vor kurzem den 1970er-Jahren zugewandt. In der öffentlichen Erinnerung ist dieses Jahrzehnt hingegen sehr präsent, wie sich an Erfolgsbüchern wie Florian Illies’ „Generation Golf. Eine Inspektion“ und „Generation Golf zwei“ (München 2000/03 u.ö.) oder jüngst an den Debatten um den „Deutschen Herbst“ 1977 und seine Folgen gezeigt hat. Besonders in der Populärkultur - Mode, Musik, Möbel etc. - erfreuen sich die 1970er-Jahre (zumindest in Deutschland) großer Beliebtheit; man kann geradezu von einer „Retrowelle“ sprechen. Während diese Dekade aus Sicht der Geschichtswissenschaft vor allem eine Zeit der Krisen und beginnenden Transformationen darstellt, erscheint sie im alltäglichen Geschichtsbewusstsein eher als buntes Experimentierfeld unterschiedlicher Lebensstile und als eine Phase vergleichsweise gesicherten Wohlstands.
Am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main untersucht der Aufsatz vor allem die Zeit zwischen den frühen 1950er- und frühen 1980er-Jahren, also die von der Geschichtswissenschaft noch kaum betrachtete Phase jüdischen Lebens zwischen der Auswanderung der meisten „Displaced Persons“ und dem vermeintlichen „Coming Out“ der Juden in der Bundesrepublik. Der Fokus liegt auf den Konstitutionsbedingungen und Transformationen der kleinen, keineswegs homogenen jüdischen „Gemeinschaft“. Betrachtet werden insbesondere die individuellen Suchbewegungen, die die Angehörigen der zweiten Generation von Juden in der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren unternahmen – nicht nur, um ihren Platz zu finden in der Gesellschaft der ehemaligen Täter und Mitläufer, sondern auch im Verhältnis zur älteren Generation der Überlebenden. Dabei wird deutlich, dass die Geschichte jüdischen Lebens in der Bundesrepublik nicht allein als Religionsgeschichte zu betrachten ist, sondern ebenso als Migrations-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte.
Obwohl die 1952 gegründete „Bild“-Zeitung seit Jahrzehnten die größte westdeutsche Tageszeitung ist, hat sich die Zeitgeschichtsforschung mit ihr bisher höchstens am Rande befasst. Der Aufsatz untersucht die Bedeutung von „Bild“, indem er die Entwicklung des Blatts in den 1950er-Jahren analysiert. In diesem Jahrzehnt errang die Zeitung ihre überragende Stellung auf dem publizistischen Markt der Bundesrepublik; in dieselbe Zeit fällt auch der erste Versuch des Verlegers Axel Springer, das Blatt mit konkreten politischen Aufträgen zu lenken. Geprüft wird, wie die „Bild“-Redaktion die Direktiven des Verlegers in den Jahren 1957/58 umgesetzt hat. Dabei wird erkennbar, dass die Boulevardzeitung als bereits etablierter Markenartikel selbst von ihrem Eigentümer nur begrenzt verändert oder in eine bestimmte politische Richtung gelenkt werden konnte. Der Beitrag plädiert dafür, die Macht von „Bild“ eher auf der lokalen Ebene zu suchen, und demonstriert diesen Ansatz am Beispiel von Hamburg. Dies ermöglicht auch allgemeinere Zugänge zur Mentalitäts- und Gefühlsgeschichte der Bundesrepublik.
Angesichts heutiger Debatten über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sowie über die Frage, wer in der Öffentlichkeit sicht- und hörbar werden sollte, ist »Epistemology of the Closet« brandaktuell. Immer öfter beschweren sich alte, heterosexuelle und weiße Cis-Männer darüber, dass sie angeblich nichts mehr sagen dürften. Im Zeichen einer neuen Identitätspolitik, so die Sorge, beschäftige sich eine Vielzahl kleiner Gruppen mit ihren je eigenen Anliegen, aber niemand habe mehr das große Ganze, den gesellschaftlichen Zusammenhang im Blick. Dabei geht es doch eher darum, dass die Beschwerdeführer nicht mehr so selbstherrlich wie noch vor 30 Jahren für die Allgemeinheit sprechen und die Diskurshoheit für sich beanspruchen können. Das Buch »Epistemology of the Closet« steht am Anfang dieser Entwicklung. Es handelt von der Sichtbarmachung des lange verheimlichten gleichgeschlechtlichen Begehrens und nimmt der heterosexuellen Dominanz ihre Unschuld, markiert sie als eine Struktur der Unterdrückung. Gleichzeitig enthält das Buch aber auch Zweifel an allzu festgefahrenen Vorstellungen von individueller und kollektiver Identität. Es begründet also das, was man heutzutage als Identitätspolitik bezeichnet, und unterläuft es zugleich.
Dass im Grand Prix d’Eurovision de la Chanson 1982 „ausgerechnet eine deutschsprachige Interpretin mit einem Friedenslied bei den europäischen Nachbarn punktete“, kann nur im Rückblick verwundern. Im Gegenteil, es war ein professionell geplanter Zufall, dass der Produzent und Komponist Ralph Siegel und der Autor Bernd Meinunger mit „Ein bißchen Frieden“ – vorgetragen von Nicole – Erfolg hatten. Das Lied passte offenbar perfekt in die Zeit: Anfang der 1980er-Jahre gehörte „Frieden“ nicht allein in der Bundesrepublik zu den politisch und emotional besonders stark aufgeladenen Begriffen. Die Friedensbewegung mit ihren Protesten gegen den NATO-Doppelbeschluss war omnipräsent. Zudem war Großbritannien, das Gastgeberland des Grand Prix, just im April 1982 in einen „heißen“ Krieg verwickelt (dies hatten Siegel und Meinunger natürlich nicht vorausahnen können). Am Tag nach der Austragung des Wettbewerbs sollte der erste britische Flottenverband im Südatlantik eintreffen, um die kurz zuvor von Argentinien besetzten Falklandinseln zurückzuerobern. Nicole gewann daher auch das sonst deutschen Schlagern gegenüber wenig aufgeschlossene britische Publikum und hielt sich dort (mit der englischen Fassung) 2 Wochen an der Spitze der Charts. Völlig unangefochten holte sie mit 161 von 204 Punkten den Sieg und damit – nach 27 Jahren Grand Prix – diesen Preis zum ersten Mal „für Deutschland“.
Diesen Spielfilm umgab nicht nur hierzulande lange ein hartnäckiges Missverständnis. Er feiere, so hieß es, eine glitzernde Scheinwelt, in der narzisstische Mitmacher konsumierten statt kritisierten. Er repräsentiere den neukonservativen Wertehimme der „Lord-Extra-Generation angepaßter Jungen und Mädchen“.1 Andere sahen eher Resignation und Flucht vor bedrückenden Gegenwartsproblemen. 1978, auf dem Höhepunkt der so genannten Disco-Welle, waren sich westdeutsche Beobachter aber darin einig, das massenhafte Tanzen zu elektronisch reproduzierter Musik als Anpassung und Entpolitisierung der jungen Generation deuten zu dürfen. Auch nachdem die Welle und die mit ihr verbundene Kulturkritik abgeflaut waren, blieb „Saturday Night Fever“ als belangloses „Sozialaufsteigerfilmchen“ gespeichert. Poststrukturalistisch gewendet lässt sich der Streifen als Auftakt zu einer Reihe international erfolgreicher Tanzfilme wie „Fame“ (1980), „Flashdance“ (1983) oder „Footlose“ (1984) verstehen, die in den neoliberalen 1980er-Jahren dem Publikum ein unternehmerisches Verhältnis zum eigenen Körper nahebrachten.
Radiophone Stimminszenierungen im Nationalsozialismus. Eine medienwissenschaftliche Perspektive
(2011)
Walter Benjamin zufolge hat das mediale Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Stimmen und Klängen die Tradierung des Wissens aus ihrem Jahrtausende alten Kreislauf mündlicher Erzählung gelöst, die „Geschichten dem Gedächtnis nachhaltiger anempfiehlt“, als es deren mediale Wiedergabe vermag. Je fesselnder die Erzählsituation von Geschichten ist, „desto größer wird ihre Anwartschaft auf einen Platz im Gedächtnis des Hörenden, desto vollkommener bilden sie sich seiner eigenen Erfahrung an, desto lieber wird er sie schließlich eines näheren oder ferneren Tages weitererzählen. Dieser Assimilationsprozeß“, so fährt Benjamin fort, „bedarf eines Zustandes der Entspannung, der seltener und seltener wird. Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet. Das Rascheln im Blätterwalde vertreibt ihn. Seine Nester – die Tätigkeiten, die sich innig mit der Langeweile verbinden – sind in den Städten schon ausgestorben, verfallen auch auf dem Lande. Damit verliert sich die Gabe des Lauschens, und es verschwindet die Gemeinschaft der Lauschenden. Geschichten erzählen, ist ja immer die Kunst, sie weiter zu erzählen, und die verliert sich, wenn die Geschichten nicht mehr behalten werden.“
Als Thomas Morus 1516 seine Geschichte jener fernen Insel veröffentlichte, deren soziale Ordnung das exakte Gegenteil seiner englischen Heimat darstellte, prägte er mit dem Namen dieser Insel – Utopia – einen der einflussreichsten Begriffe der Neuzeit: ein griechisches Kunstwort, das wörtlich ‚Nicht-Ort‘ bedeutet und seitdem immer dort gebraucht wird, wo eine ideale Welt in möglichst radikaler Differenz zur erfahrbaren Wirklichkeit beschrieben wird. Ob auch Morus die von ihm beschriebene Insel als ein Ideal ansah oder sie nur zum Zwecke der Verfremdung seiner Gesellschaftskritik entwarf, ist umstritten. Seitdem aber und bis heute hat der Begriff der Utopie fast ausschließlich die Bedeutung eines so idealen wie irrealen Gesellschaftszustands, dessen konkrete Merkmale natürlich von der jeweiligen Entstehungszeit der Utopie geprägt sind.
Kaum einer hat nachdrücklicher, vollmundiger und mit größerem Anspruch gegen die Katastrophe des Zeitalters der Weltkriege angeschrieben als Hans-Ulrich Wehler, der sich - paradoxerweise - bislang aber weitgehend aus der Historiographie dieser deutschen Krisenperiode herausgehalten hat. Der vierte Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ ist deshalb Prüfstein für Wehlers vorangegangene Arbeiten über das lange 19. Jahrhundert. Hier muss sich bewähren, was in jenen angelegt ist.
Am 26. Juli 2010 verkündete das „Rote-Khmer-Tribunal“ in Phnom Penh ein Aufsehen erregendes Urteil: Kaing Guek Eav, der ehemalige Direktor von Tuol Sleng, des zentralen Gefängnisses der kambodschanischen Staatssicherheit, wurde wegen „Crimes Against Humanity“ zu einer Haftstrafe von 35 Jahren verurteilt. Diese Strafe wurde in Anrechnung der bislang verbüßten Untersuchungshaft und wegen ursprünglich illegaler Inhaftierung auf 19 Jahre reduziert. Unter dem Eindruck heftiger Proteste von Seiten überlebender Opfer des Terrorregimes der Roten Khmer und ihrer Hinterbliebenen legte die Staatsanwaltschaft Mitte August Berufung gegen das Urteil ein. Sie forderte eine weitaus höhere Strafe, die angemessen die Schwere der Taten des inzwischen 67-jährigen Kaing Guek Eav – wegen seiner geringen Körpergröße auch Duch (Khmer: „der Kleine“) genannt – zu berücksichtigen habe. Inzwischen haben auch die Verhandlungen gegen vier weitere noch lebende Hauptverantwortliche der vom kommunistischen Regime der Roten Khmer in den Jahren 1975 bis 1978 verübten Verbrechen begonnen. Mit einer Verspätung von drei Jahrzehnten erfährt der kambodschanische „Autogenozid“ nun eine juristische Aufarbeitung.
Wie wirkte sich die materielle Beschaffenheit von Kunstgegenständen auf den Kunstmarkt und seine Akteure aus? Alarmiert durch den schlechten Zustand, in dem sich die öffentlichen Kunstsammlungen präsentierten, entwickelte sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein naturwissenschaftlich-technologischer Fachbereich zur Analyse von Kunstmaterialien, der durch stete Innovationen bis heute dynamisch geblieben ist. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse steigerten den Aufwand immens, der betrieben wurde, um Kunstwerke sachgerecht unterzubringen, zu versorgen und zu transportieren. Folglich beeinflussten sie auch die Sichtbarkeit und den ökonomischen Wert von Werken bildender Kunst. Die naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden unterstützten zudem die Authentifizierung. Damit verringerten sie den Bestand anerkannter Originalwerke und vergrößerten zugleich die Sicherheit bei Kaufentscheidungen. Da sie dem Wahrnehmungsapparat der Menschen in dieser Frage teilweise überlegen waren, erschütterten die neuen Technologien das menschliche Selbstverständnis dabei grundlegend. Eindeutige Urteile ließen auch die naturwissenschaftlichen Befunde allerdings längst nicht immer zu.
„There is no reason for any individual to have a computer in his home.“ Diese Einschätzung Kenneth H. Olsens, seinerzeit Präsident der Digital Equipment Corporation (lange eine der führenden amerikanischen Computerfirmen), stammt aus dem Jahr 1977. Die gesellschaftliche Vorstellung von Computern war damals eng mit Großrechnern verknüpft, die lediglich durch Spezialisten bedient werden konnten. Dieses Paradigma stellten Spielekonsolen wie „Pong“ von Atari allerdings bereits 1975 in Frage. Andere Branchengrößen wie IBM hatten weiterhin Bedenken, ob die Leistung der Großrechner auf einem Schreibtisch Platz finden könne. Unternehmen wie Commodore oder Apple bewiesen ab 1977, dass dies möglich war, indem sie kompakte, sofort nach dem Kauf verwendbare Rechner auf den Markt brachten und sich somit an die Spitze der Computerhersteller katapultierten. Sie setzten damit eine Entwicklung in Gang, die sich zu Beginn der 1980er-Jahre beschleunigte: IBM definierte mit dem „IBM PC 5150“ ab 1981 einen Standard im Bereich der Heimcomputer. Sony und Philips brachten die Digitalisierung im Audiobereich voran und legten die technischen Spezifikationen für die Compact Disc fest.
Man muss dabei gewesen sein. Wer heute »Dr. Strangelove« einem Publikum von unter Dreißigjährigen zeigt, einer Altersgruppe also, die den Kalten Krieg bestenfalls vom Hörensagen kennt, wird vermutlich gelangweilte oder verständnislose Kommentare hören. Oder die Frage, was es denn um Himmels willen zu lachen geben soll in dieser »schwarzen Satire« über die atomare Vernichtung der Welt, die seit ihrer Uraufführung am 29. Januar 1964 hartnäckig als eine der besten Komödien aller Zeiten gehandelt wird und dem virtuosen, gleich in drei Rollen auftretenden Hauptdarsteller Peter Sellers einen Logenplatz in der cineastischen Ruhmeshalle gesichert hat.
Während des Kalten Krieges wurde in Millionen Wohnzimmern, Kasernen und Schulen gespielt: Klassische Unterhaltungsspiele wie Memory bzw. Merk-Fix, aber auch Spiele wie Fulda Gap oder Klassenkampf, die die Systemkonfrontation als Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse erleb- und simulierbar machten. Der Aufsatz betrachtet eine in der zeithistorischen Forschung und in den Cold War Studies bislang vernachlässigte Quellengattung, die gerade in den 1970er- und 1980er-Jahren für die populärkulturelle Vermittlung von Grundcharakteristika des Ost-West-Konflikts sehr bedeutsam war. Untersucht wird, wie sich Brett- und Computerspiele in die Wettkampflogik des Kalten Krieges einschrieben, inwiefern sie für die Systemkonfrontation auf beiden Seiten sinnbildend waren, nationale Spezifika aufwiesen oder aber als Foren der Gesellschaftskritik dienten. Deutlich wird auch, wo für die jeweiligen Obrigkeiten die Grenzen des »Spielbaren« lagen. Den eigenen Untergang als Handlungsmöglichkeit oder Dystopie zu erproben, erschien vielfach als moralisch und politisch bedenklich, weil die in Spielen entwickelten Szenarien womöglich den Blick auf die Realität verändern und Kritik verstärken konnten. Andererseits konnten die Spiele aber auch die Veralltäglichung des Kalten Krieges unterstützen: Sie bereiteten Wissen über militärische Sachverhalte auf und trugen zur Gewöhnung an das atomare Drohpotential bei.
Der Religionsgeschichte ist vielfach vorgeworfen worden, die entscheidenden methodischen ‚turns‘ und ‚shifts‘ der allgemeinen Geschichtswissenschaft erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung vollzogen zu haben. In der Tat, zu lange wurde die Geschichte von Religionen und Konfessionen lediglich als eine Geschichte von Kirchen und Verbänden beschrieben: Ereignisse und Institutionen rangierten weit vor Praktiken und Mentalitäten. Dies gilt insbesondere für die Zeitgeschichte: Während die Erforschung der religiösen Formationen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit schon längst mit neueren kulturgeschichtlichen Ansätzen operierte, galt es bezogen auf das 19. und 20. Jahrhundert noch immer als innovativ, den Anschluss an die Sozialgeschichte zu vollziehen und hinter den Kirchen und Verbänden das konfessionelle „Milieu“ und Formen kollektiver „Frömmigkeit“ zu entdecken. Nach dem Abschmelzen fester, homogener Konfessionsmilieus spätestens seit den 1960er-Jahren stellt sich nicht nur empirisch die Frage: „Was kommt nach dem Milieu?“ Auch methodisch ist zu überlegen: Was kommt nach der Milieuforschung?
„Gott ist tot – macht nichts“, titelte kürzlich die „ZEIT“ und präsentierte ihren Lesern unter dieser Überschrift „Hausbesuche bei vier Atheisten“. Vergegenwärtigt man sich die Aufmerksamkeitsregeln von Printmedien, die ja vor allem auf das Außergewöhnliche als das Berichtenswerte setzen, dann sind auch diese Skizzen ein Beleg für die neue Konjunktur, die die Religion in all ihren Facetten findet. Hat die bewusste Abwendung von einem transzendental begründeten Glauben, gar an eine personal gedachte Gottheit (schon wieder) Neuigkeitswert? Dass Glauben nicht Wissen sei, sich die Entstehung der Welt auch ohne göttliche Fügung erklären lasse, moralisches Verhalten sich nicht ausschließlich aus religiösen Überzeugungen ableite – taufrisch sind die in den Gesprächen thematisierten Überlegungen nicht.
„Wir schreiben das Jahr 50 vor Christus. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt... Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten...“ Mit dieser mittlerweile fast legendären Eröffnung startete vor 50 Jahren eine der meist gelesenen Comicserien in Europa. Asterix, eine Geschichtsgroteske über den gleichnamigen gallischen Antihelden, wurde von Albert Uderzo und René Goscinny erschaffen. Im französischen Jugendmagazin „Pilote“ erschien erstmals im Herbst 1959 ein Abenteuer der kampflustigen Gallier. Bereits zwei Jahre später war die Serie so populär, dass ein erstes Comicalbum „Astérix le Gaulois“ produziert wurde. Es folgten weitere 33 Alben, die mehr als 310 Millionen Mal in über 100 Sprachen und Dialekten verkauft wurden, acht abendfüllende Zeichentrickfilme und drei Realverfilmungen. Asterix wurde zu einem westeuropäischen Comicphänomen.
Gholamreza Takhti (1930–1968), Olympiasieger im Freistil-Ringen 1956 und zweifacher Weltmeister, gilt in Iran bis heute nicht nur als sportliche Legende, sondern wird über nahezu alle politischen Lager hinweg als Repräsentant einer authentisch iranischen Männlichkeit verehrt. Die Faszination Takhtis gründet sich insbesondere auch auf seine einfache Herkunft und seinen demütigen, bodenständigen Charakter, der ihn schon zu Lebzeiten glaubwürdig als »Mann aus der eigenen Mitte« erscheinen ließ. Seine Heroisierung ist nicht loszulösen von kollektiven Subordinationserfahrungen vor dem Hintergrund ausländischer Hegemonie in Iran während des 20. Jahrhunderts, der in den 1960er-Jahren formulierten Diagnose einer »Westbefallenheit« der iranischen Gesellschaft und der damit verbundenen Suche nach Authentizität. Ausgehend von der Biographie des Ringers werden im Beitrag die geschlechtlich aufgeladenen Dimensionen dieser Erfahrungen besprochen und die dafür verwendeten Begriffe untersucht. Über die Sportart Ringen konnte die iranische Gegenwart mit der nationalen Mythologie verbunden werden, und Takhti wurde in einzigartiger Weise zum Modell des iranischen Helden, zum idealen Mann – noch verstärkt durch die Tragik seines frühen Todes.
Gholamreza Takhti (1930–1968), Olympic wrestling champion in 1956 and two-time world champion, is regarded in Iran to this day as a sporting legend. Across almost all political camps, he is also revered as a representative of authentic Iranian masculinity. The fascination with Takhti derives in particular from his simple origins and his humble, down-to-earth character, which made him appear credible as ›one of us‹ to huge sections of Iranian society during his lifetime. His heroisation thus cannot be detached from collective experiences of subordination against the background of foreign hegemony in Iran during the twentieth century, the diagnosis of a ›Westoxication‹ of Iranian society formulated in the 1960s and the related search for authenticity. Based on the wrestler’s biography, the article explores the gendered dimensions of these experiences and examines the language used to describe them. Wrestling created a link between the Iranian present and the national mythology, and Takhti became the model of the Iranian hero, the ideal man – reinforced by the tragedy of his untimely death.
„Großstädte sind unbestimmte Verheißungen“, schreibt Curt Moreck in seinem „Führer durch das ‚lasterhafte‘ Berlin“ aus dem Jahr 1931. „Sie sind Konglomerate von unendlichen Möglichkeiten. Sie sind Labyrinthe, in denen die schönsten Straßen einen nicht ahnen lassen, wohin sie einen führen werden. Wen das Land hineinstößt, der fühlt sich hilflos und wird plötzlich von der Angst überfallen, das zu versäumen, was er kennenlernen möchte, das zu verpassen, was ihm einen Gewinn an Vergnügungen verspricht. [...] Man muß in diesem rauschenden Strudel untertauchen, sich darin verlieren, aber nicht ohne sich wiederzufinden. Man muß den Irrwegen nachgehen, aber nicht ohne das Ziel zu kennen. Man wird sich nach einem Führer umsehen müssen. Ohne den Führer verliert man kostbare Zeit, die man besser dem Genuß widmet. Man muß sich die Erfahrungen anderer zunutze machen.“
Museumspolitik – hier das Handeln des österreichischen Staates, der Länder und Kommunen zum Erhalt und zur Förderung der Museen – hat als Teil der Kulturpolitik in der öffentlichen Wahrnehmung keinen herausragenden Stellenwert. Dabei gab es in den letzten Jahren selbstverständlich zahlreiche museumspolitische Entscheidungen, die der sich wandelnden institutionellen Bedeutung von Museen Rechnung getragen und internationale Tendenzen zu Fragen des Sammelns, Bewahrens und Vermittelns von Kultur, Kunst und Natur nachvollzogen haben. Ein Resultat jüngerer Museumspolitik ist beispielsweise die neugestaltete Ausstellung in Mauthausen, dem ehemals größten Konzentrationslager des nationalsozialistischen Regimes auf österreichischem Boden, inklusive der Etablierung eines zeitgemäßen Bildungsprogramms.
Der Begriff »Flucht« beschreibt, wie es im Editorial des vorliegenden Hefts heißt, einen »Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen«, aber auch verschiedene Räume und Orte, die verlassen, durchquert oder als Ziele angesteuert werden. Romane und andere literarische Texte zu diesem Thema können dazu beitragen, dem »Eigen-Sinn« mehr Gewicht zu verleihen, aber auch den Flüchtenden selbst und ihrer Wahrnehmung von Flucht, Vertreibung und Akzeptanz oder Ablehnung eine Stimme zu geben. Was genau ist aber der »Eigen-Sinn« der Literatur? Seit 2015 boomt eine unter dem Schlagwort »Flüchtlingsliteratur« verhandelte Prosa, die die Lebenswege von Flüchtenden und Geflüchteten unterschiedlicher Kulturen in den Blick nimmt. Doch welchen Mehr- und Eigenwert hat die Literatur? Sind die Dokumentationen, die zahlreichen journalistischen und wissenschaftlichen Beiträge nicht ausreichend?
Ganz im Freud’schen Sinne war die deutsche Sprache für Theodor W. Adorno das von Anfang an Vertraute, das vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, der Erfahrung von Verfolgung und Exil sowie dem Wissen um die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden jedoch zum Unvertrauten wurde. Gerade deshalb, so könnte man meinen, hielt Adorno beharrlich am Ideal eigener, »authentischer« Sprachverwendung als Muttersprachler fest, als sei seine Sprache ein autonomer Bereich. Zugleich richtete sich seine Sprachkritik aber gleichsam »objektiv« auf den mit formelhafter Sprachverwendung einhergehenden gesellschaftlichen Erfahrungsverlust. Unter dieser spannungsreichen Doppelperspektive reflektierte Adorno sein Verhältnis zur deutschen Sprache und die Funktion von Sprache als Medium des Denkens in einer Vielzahl von Texten. Während in einigen davon das Deutsche als Muttersprache vor allem ein identitätsstiftendes Moment bedeutet und als biographische Klammer nach der Zäsur von Exil und Holocaust eine Verbindung zur Kindheit herstellt, steht einem solchen emphatischen Verständnis des Deutschen die Analyse entleerter, formelhafter Sprachverwendung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft gegenüber. So deutet sich an, dass der Remigrant Adorno in der verwalteten Welt nach dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) in der deutschen Sprache sprachmächtig agieren konnte, während er zugleich einen allgemeinen Erfahrungsverlust konstatierte. Der Spannung, ja dem Changieren Adornos zwischen radikaler Sprachkritik einerseits und Idealisierung der deutschen Muttersprache andererseits möchte ich hier in fünf Schritten nachgehen.
Stress ist ein ubiquitärer Begriff – seine geschichtswissenschaftliche Erforschung aber hat erst begonnen. Der Aufsatz skizziert programmatisch die Genese und die Funktionen des Stresskonzepts im 20. Jahrhundert. Dabei wird Stress nicht in erster Linie als Syndrom und Krisenphänomen betrachtet, sondern als Deutungs- und Handlungsangebot westlicher Gesellschaften, die sich als instabil, wandelbar, innovativ und dynamisch begreifen. Die performative Kraft des Stresses als Modus gesellschaftlicher Selbstreflexion wird in vier historisch und systematisch aufeinander bezogenen semantischen Feldern untersucht: Stress als Regulations- und Anpassungsmodell, Stress als Prinzip der Wettbewerbsgesellschaft (mit engen Beziehungen zu Arbeit, Leistung und Erfolg), Stress als Zivilisationskritik (mit der stressfreien Gesellschaft als utopischem Gegenbild) sowie Stress als flexible Ökologie von Mensch-Umwelt-Verhältnissen. Dabei handelt es sich weniger um eine chronologische Ordnung als vielmehr um Deutungsvarianten, die in unterschiedlichen Verwendungskontexten aufkamen und sich im heutigen Stressbegriff überlagern.
Mit dem Erwerb von rund 20.000 Negativen aus dem Nachlass des tschechischen Fotografen Ivan Kyncl (1953–2004) hat die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen einen bedeutenden Grundstock für eine fotografische Sammlung zur tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung der 1970er-Jahre gelegt.1 Das Archiv der Forschungsstelle beherbergt die europaweit umfangreichste Sammlung von so genanntem Samizdat, d.h. von Schriftstücken, die jenseits der staatlichen Zensur im ‚Selbstverlag‘ publiziert worden sind.2 Den Hunderttausenden von schriftlichen Dokumenten steht eine kaum geringere Zahl von Fotografien gegenüber. Diese gelangten eher zufällig zusammen mit den schriftlichen Quellen oder mit gesamten Nachlässen von Dissidenten aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn in das Archiv.
»Du sollst Solidarität mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.« So lautet das letzte der 1958 von Walter Ulbricht verkündeten »Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik« (auch: »Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen«), die von 1963 bis 1976 Teil des SED-Parteiprogramms waren.1 Die sozialistische Variante der christlichen Zehn Gebote findet sich häufig auf der ersten Seite von »Brigadetagebüchern«, die Beschäftigtenkollektive in der DDR und in anderen staatssozialistischen Ländern verfassten. Über die Grenzen der DDR hinaus stellten auch »Freundschaftsbrigaden« der Freien Deutschen Jugend (FDJ) solche Brigadetagebücher zusammen, um ihre Aufenthalte in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu dokumentieren. Diese Quellen geben einen wertvollen Einblick in die sozialistische Globalisierung und deren Alltagspraktiken.
Die sozialistischen Vordenker Marx, Engels und Lenin begründeten die „sozialen Ursachen“ der Kriminalität mit dem herrschenden kapitalistischen Gesellschaftssystem, dessen „ökonomische Basis die Wurzel allen Übels“ sei. Das Verbrechen sei keine dem Menschen angeborene Eigenschaft, sondern „historisch entstanden und wird mit dem Sozialismus/Kommunismus allmählich überwunden“. Entsprechend teilte auch die DDR-Führung die Sicht, dass „mit der Liquidierung der Ausbeuterordnung in der DDR die wesentlichen Wurzeln der Kriminalität verschwunden [sind]. Das ermöglicht [es] erstmalig in der deutschen Geschichte, die Vorbeugung der Verbrechen zur Aufgabe der gesamten Gesellschaft zu machen.“
Unmittelbar nach dem Bau der Mauer, die West-Berlin zu einer eingeschlossenen Stadt machte, bot das bundesdeutsche Fernsehen, dessen selbstverständlicher Teil auch die Sendungen des Senders Freies Berlin (SFB) waren, einen audiovisuellen Kontakt zur Welt nach ›draußen‹ – oft sogar ›live‹, so dass man als West-Berliner teil hatte am Geschehen der westlichen Welt. Für die innere Gemütsverfassung sorgten jedoch spezifisch West-Berliner Programmbeiträge, die vom sicheren und zugleich idyllischen Leben auf der Insel im DDR-Meer erzählten und die ein Gefühl von Geborgenheit vermittelten. Mein frühester Eindruck stammt aus der Serie »Jedermannstraße 11«, die von einem Berliner Mietshaus handelt und von der ich einige Folgen als 17-Jähriger 1962/63 gesehen habe: mit eingängig wiederkehrender Titelmusik, mit bekanntem Personal wie dem in West-Berlin legendären Volksschauspieler Willi Rose, von dem die Eltern schwärmten; herzhaft und immer gut gelaunt, immer einen Scherz auf den Lippen, von seiner Frau (gespielt von Berta Drews) liebevoll in die Seite geknufft. Das Fernsehen war zu dieser Zeit noch ein neugierig-lustvolles Anschauen der Welt im Familienkreis. Denn wie die Menschen in dieser Serie, so lebten wir auch.
Stadtgeschichte als Zeitgeschichte. Methodische Impulse zur Historisierung West-Berlins. Einleitung
(2014)
Wem gehört die Stadt? Um diese Frage kreisen derzeit viele öffentliche Debatten in Berlin und anderswo. Steigende Mieten, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, die globale Erschließung des Immobilienmarktes und die zunehmende Touristifizierung der Innenstädte sind nur einige der Themen, die seit einigen Jahren heiß diskutiert werden. Diese breite gesellschaftliche Relevanz hat zugleich zu einem deutlichen Aufschwung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Stadt als gestaltetem und häufig umkämpftem Lebensraum geführt. Dabei werden die städtischen Entwicklungen nicht nur aus sicherer Distanz reflektiert. Vielmehr bietet die Stadtforschung das theoretisch-methodische Arsenal, um bestimmte Prozesse im urbanen Raum zu begreifen und in der öffentlichen Debatte auf den Punkt zu bringen. So hat sich der sozialwissenschaftliche Begriff »Gentrification« inzwischen zu einem politischen Kampfbegriff entwickelt, mit dem die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten im Zuge urbaner Aufwertungsprozesse problematisiert wird. Die Grenze zwischen wissenschaftlicher Reflexion und politischer Intervention ist mitunter fließend.