Kultur
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Saul Friedländer, der im Oktober 2007 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde, hat für sein jüngstes Buch „Die Jahre der Vernichtung“ einhelliges Lob erhalten. Dabei wurde vor allem hervorgehoben, dass Friedländer die Stimmen der jüdischen Opfer zu Wort kommen lasse. Doch verdeckt dieses Lob, so gut es gemeint ist, eine wichtige Differenz. Friedländer, der 1932 in Prag geboren wurde, 1939 mit seinen Eltern nach Frankreich flüchtete, dort als Junge in einem katholischen Internat die deutsche Besetzung und Judenjagd überlebte, während seine Eltern auf der Flucht verhaftet und in Auschwitz ermordet wurden, Friedländer hat diese Stimmen der Verfolgten und Ermordeten noch gehört - wir Jüngeren nicht. Der offenkundige Wunsch zahlreicher Rezensenten, sich in Hörweite der Opfer zu versetzen, muss scheitern. Die Stimmen bleiben stumm. Und auch wenn Friedländers historiographische Kunst darin besteht, uns lesen und ahnen zu lassen, wovon die Stimmen sprechen, so ist diese Fremdheit doch unübersteigbar.
Die Last der Vergangenheit
(2008)
Das übergreifende Thema dieser Debatte ist der ‚Dialog der Disziplinen‘. Die Gedächtnisforschung eignet sich besonders gut für einen solchen Dialog, denn sie ist selbst ja keine Einzeldisziplin, sondern ein Thema, in dem sich die Fragen vieler Disziplinen kreuzen. Die Neurowissenschaften, die Psychologie, die Psychoanalyse, die Soziologie, die Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft, die Politologie und nicht zuletzt die Geschichtswissenschaft sind in diesen Diskurs eingebunden. Die verstärkte Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung bedeutet für die Geschichtswissenschaft auch, dass sie sich in einer immer stärker ausdifferenzierten Medienlandschaft verorten muss. Die Ge-schichte ‚gehört‘ heute einer ständig wachsenden Gruppe von Sachwaltern - neben den Professoren auch den Politikern, den Ausstellungsmachern, den Geschichtswerkstätten, den Bürgerbewegungen, den Filmregisseuren, den Künstlern, den Tourismusveranstaltern, den Infotainern und den Eventplanern. Das heißt keineswegs, dass der Einflussbereich der Historiker schrumpfen würde - im Gegenteil: Sie werden bei allen Geschichtsprojekten dringend gebraucht, müssen sich aber daran gewöhnen, enger mit anderen Akteuren zusammenzuarbeiten. Die Auseinandersetzung mit Geschichte verlagert ihren Schwerpunkt von der Universität zum Kulturbetrieb und damit zur Logik des Marktes. Im Folgenden sollen zwei Themenbereiche angesprochen werden, die auf eine paradigmatische Weise im Spannungsfeld von ‚Geschichte‘ und ‚Gedächtnis‘ stehen: die Figur des ‚Zeitzeugen‘ und die Frage des Umgangs mit historisch belasteter Vergangenheit.
Wohl kaum ein anderer Film hat die Vision von der Stadt der Zukunft und dem mechanisierten Menschen so geprägt wie Fritz Langs „Metropolis“. Dabei war dieser heutige Klassiker 1927 im Kino zunächst mit mäßigem Erfolg gestartet. Obwohl er mit einem für die damalige Zeit sehr hohen Aufwand produziert wurde (18 Monate Drehzeit, Budget von letztlich 6 bis 7 Mio. Reichsmark), wollten ihn nach der Premiere nur 15.000 Berliner sehen. Inzwischen hingegen hat sich das Filmbild der Metropole mit ihren auftürmenden Hochhäusern, dem pulsierenden Verkehr mit Autos, Bahnen und Flugzeugen in unser kollektives Gedächtnis eingeschrieben. Es ist zum Symbol geworden für die architektonische Moderne und für die Visualisierung des Begriffs „Moloch Großstadt“. „Metropolis“ gilt inzwischen als der wichtigste deutsche Stummfilm und wurde 2001 als erster Film überhaupt von der UNESCO in das Register „Memory of the World“ aufgenommen. Neben der vielfältigen Rezeptionsgeschichte hat der Film auch eine höchst interessante Überlieferungsgeschichte.
Als die im April 2006 mit 89 Jahren verstorbene Stadtforscherin Jane Jacobs im Oktober 2004 für einen letzten Vortrag in ihre ehemalige Heimatstadt New York zurückkehrte, bereitete ihr das Publikum einen großen Empfang. Fast die gesamte Urbanisten- und Planungsprominenz der Stadt war erschienen und feierte die 1968 nach Kanada ausgewanderte „Grande Dame“ der nordamerikanischen Stadtforschung mit stehenden Ovationen. Einer Einladung des New Yorker City Colleges folgend, war sie gekommen, um die Auftaktrede für eine neue Vorlesungsreihe zu Ehren Lewis Mumfords zu halten, der an dem besagten College im Norden Manhattans studiert hatte. Es war, als schlösse sich ein Kreis: Jacobs’ Karriere hatte 1961 mit der Publikation ihres Erstlingswerks „Death and Life of Great American Cities“ in New York ihren Anfang genommen; der Inhalt dieses Buchs verwickelte sie dann in einen Jahre andauernden Streit mit Mumford. Am Ende ihres Schaffens angelangt, entschied sie sich als erste Referentin der zu Mumfords Ehren eingerichteten Vorlesungsreihe, in New York ihren alten Gegenspieler zu würdigen. Bedeutungsschwer war Jacobs’ Auftritt aber auch deshalb, weil er zum Ausdruck brachte, wie sehr sich das Verhältnis zwischen der Planungskritikerin Jacobs und der planenden Zunft in den USA über die Jahrzehnte geändert hatte. Zu Beginn ihrer Karriere wegen ihrer mangelnden akademischen Ausbildung in der von Männern dominierten Profession noch als „Hausfrau“ belächelt, stieg Jacobs innerhalb weniger Jahre zu einer der meistbeachteten Persönlichkeiten der amerikanischen Stadtforschung auf. Jacobs’ Bedeutung als Kritikerin modernistischer Planungsexzesse und Mitbegründerin eines neuen Verständnisses städtischer Entwicklung und Planung ist Grund genug, sich ihres ersten und wohl wichtigsten Werks erneut zu widmen - dem Essay „Death and Life of Great American Cities“, der in einem deutschen Nachruf auf Jacobs als „urbanistische Bibel des späten 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wurde.
Drei Bücher haben im 20. Jahrhundert zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Bild der Deutschen über die Sowjetunion geprägt: René Fülöp-Millers „Geist und Gesicht des Bolschewismus“ aus dem Jahr 1926, Klaus Mehnerts „Der Sowjetmensch“ aus dem Jahr 1958 und Lois Fisher-Ruges „Alltag in Moskau“ aus dem Jahr 1984. Allen drei Publikationen ist gemeinsam, dass sie kaum auf die historischen Ereignisse oder das politische Tagesgeschäft zu sprechen kommen, sondern einen Einblick in die sowjetische Alltagskultur zu geben versuchen. Den Autoren der drei Bücher war von Anfang an klar, dass sie eigentlich Unmögliches vorhatten: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle Facetten einer Gegenwartskultur zu erfassen und darzustellen. Im Fall der Sowjetunion kam erschwerend dazu, dass man kaum auf verlässliche Quellen zurückgreifen konnte: Die Kultur teilte sich in einen offiziellen Betrieb und einen verbotenen Untergrund, soziologische Daten waren nicht erhältlich oder manipuliert, die Gesprächspartner mussten immer auf der Hut vor den staatlichen Überwachungsorganen sein. So blieb den Autoren nichts anderes übrig, als sich auf ihre persönliche Erfahrung zu stützen, die naturgemäß nur einen beschränkten Radius aufwies. Der Erfolg der genannten Bücher verdankte sich nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch dem Erscheinungsdatum, das jeweils eine Wendezeit markierte: Fülöp-Miller lieferte nach zehn Jahren Sowjetregime eine erste Bilanz, Mehnert dokumentierte das Ende des Stalinismus, Fisher-Ruge gab einen Einblick in die gesellschaftlichen Startbedingungen der Perestrojka.
Der vorliegende Aufsatz nimmt den Vorschlag einer thematischen und methodischen Aufwertung des Oberflächlichen ernst. Er möchte aber nicht bei einer Analyse der Zeichenhaftigkeit großflächiger Erscheinungen stehen bleiben, welche die Beobachter des deutschen Großstadtlebens der 1920er Jahre faszinierte. Die Zeitsignatur der Oberfläche bietet, so die Ausgangsüberlegung, gerade deshalb einen geeigneten Zugang zur Geschichte der westlich-modernen Massenkultur, weil sie die Materialität gesellschaftlicher Beziehungen hervorhebt. Im Folgenden untersuche ich die Etablierung der Massenkultur in Westdeutschland. Plastik dient dabei als Testfall. Dem Material wurde oft genug attestiert, der Stoff des Oberflächlichen zu sein.