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In einem sehr weiten Sinne lässt sich Erzählen als eine grundlegende Form des Weltzugangs begreifen – und ist daher auch für die Geschichtswissenschaft von eminenter Bedeutung. Der narrative Modus spielt nicht nur bei der Repräsentation, sondern bereits bei der Konstitution von Wissen eine wichtige Rolle. Achim Saupe und Felix Wiedemann führen in ihrem Beitrag in zentrale narratologische Theorien und Grundbegriffe ein und stellen Ansätze sowie Anwendungsfelder in der Geschichtswissenschaft vor.
Bildagenturen, die zwischen Fotografen und Redaktionen vermitteln, sind zentrale Akteure bei der Produktion massenmedialer Sichtbarkeit. Ihre Rolle im System der NS-Bildpropaganda ist weitgehend unerforscht. Der Aufsatz widmet sich einem brisanten Spezialfall, der amerikanischen Associated Press und ihrer Niederlassung im Deutschen Reich. 1935 unterstellte sich die deutsche AP GmbH dem Schriftleitergesetz und ließ sich damit »gleichschalten«. Bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 hatte sie eine eminente Bedeutung als transatlantischer Bildlieferant für die nationalsozialistische Propaganda. Außerdem durfte AP weiterhin im Deutschen Reich produzieren. Die von der Agentur unter der Ägide des Propagandaministeriums, der Wehrmacht und der SS aufgenommenen Fotos bestückten die NS-Presse, aber die New Yorker AP-Zentrale stellte sie auch der nordamerikanischen Presse zur Verfügung, wo sie mal als scheinbar neutrale Nachrichtenbilder erschienen, mal ausdrücklich als Propagandabilder gekennzeichnet wurden.
Picture agencies are mediators between photographers and editorial staffs; they play a crucial role in producing mass media visibility. However, their part in the system of the visual propaganda of the Nazi state is largely unexplored. This article features a controversial case, the American Associated Press and its German subsidiary. By submitting to the Schriftleitergesetz (Editorial Control Law) in 1935, the German AP GmbH (LLC) followed its German counterparts in the process of Gleichschaltung (forcible coordination). Until the United States entered the war in December 1941, AP supplied the Nazi press with American pictures. This service proved to be of particular relevance for propaganda. AP was also allowed to continue its photographic reporting in the Reich. AP pictures taken under the aegis of the Propaganda Ministry, the Wehrmacht and the SS were ubiquitous in the Nazi press. Moreover, the New York headquarters supplied the North American press with these same pictures, where they were published either as news photos or as propaganda images.
Am 12. Oktober 1960 ergriff Nikita Sergeevič Chruščev in der UNO während der Rede des philippinischen Delegierten Lorenzo Sumolong seinen Schuh, schlug damit auf seinen Tisch und ereiferte sich: „Warum darf dieser Nichtsnutz, dieser Speichellecker, dieser Fatzke, dieser Imperialistenknecht und Dummkopf – warum darf dieser Lakai der amerikanischen Imperialisten hier Fragen behandeln, die nicht zur Sache gehören?“ Chruščev war zunächst mit seinem Auftritt sehr zufrieden – er berichtete seinem Berater Oleg Trojanovskij, er habe etwas verpasst; sie hätten großen Spaß gehabt. Die sowjetische Presse verschwieg den Vorfall, während sich die westliche über die „Schusterdiplomatie“ halb ereiferte, halb amüsierte. Interessant ist, dass hier vollkommen unterschiedliche Vorstellungen von „Diplomatie“ zum Ausdruck kamen. Während der konsternierte Chruščev meinte, die UNO sei ein Parlament wie das House of Commons in London, wo es zur Kultur des Hauses gehöre, durch Raunen, Rufen und Gesten seinen Unmut kundzutun, fand die westliche diplomatische Welt ihr Urteil bestätigt, dass der sowjetische Partei- und Regierungschef im besten Fall ein Politclown, im schlechtesten einfach unzurechnungsfähig sei. Der berühmte Vorfall in der UNO macht deutlich, dass auf westlicher Seite eine klare Norm diplomatischen Verhaltens existierte, an der Chruščev gemessen wurde, während dieser experimentierte, improvisierte und etwaige Normen ignorierte.
Unter denen, die vor der NS-Diktatur flüchteten, waren nicht wenige bildende Künstler/innen – so auch die deutsch-jüdische Bauhausfotografin Grete Stern (1904–1999), die 1935/36 nach Argentinien emigrierte. Trotz autoritärer politischer Tendenzen genoss sie dort deutlich mehr künstlerische Freiheit. Während der ersten beiden Amtszeiten des demokratisch gewählten Präsidenten Juan Domingo Perón (1946–1955), der sich vor allem in der staatlichen Kontrolle der Medien an den europäischen Faschismen orientierte, auf den sich wegen seiner Sozialpolitik jedoch auch linksgerichtete Bewegungen beriefen, veröffentlichte Stern in der Zeitschrift »Idilio« (»Idylle«) eine Serie von Fotomontagen. Nach einem Überblick zur peronistischen Kulturpolitik bildet die Einordnung dieser Montagen, die zusammen mit einer Traumdeutungs-Kolumne erschienen, den Schwerpunkt des Aufsatzes. In subtiler Weise kritisierte Stern soziokulturelle Missstände der Zeit. Zu einem ihrer Hauptthemen wurden die Geschlechterbeziehungen – ein Gebiet, auf dem sich das peronistische Regime nicht zuletzt in seiner umfangreichen Bildpropaganda rühmte, tiefgreifende Veränderungen hervorgebracht zu haben.
Obdachlosen Männern wird aufgrund ihrer prekären Lebenssituation häufig eine »marginalisierte Männlichkeit« (Raewyn Connell) zugeschrieben. Welche Männlichkeitsformen diese soziale Gruppe von sich selbst öffentlich präsentierte, ist bisher aber noch unerforscht. Anhand des »Berber-Briefes« – einer von obdachlosen Männern selbst verfassten und vertriebenen Zeitung – und deutschen Straßenmagazinen werden Männlichkeitsentwürfe von Wohnungslosen oder ehemals Wohnungslosen analysiert. Dabei fällt auf: »Berber-Brief«-Autoren der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre präsentierten eine selbstbewusste »Protestmännlichkeit«, Straßenmagazinverkäufer der 2010er-Jahre eher eine von Dankbarkeit und Arbeitsethos geprägte »komplizenhafte Männlichkeit«. Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Die verschiedenen Medienformate, deren Professionalisierung und Kommerzialisierung waren dabei wichtig, aber auch die Bereitschaft von Obdachlosen, sich bestimmten Verhaltenserwartungen partiell anzupassen – als Folge einer Sozialpädagogisierung und Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen. Der Aufsatz trägt zu einer Geschlechter- und Zeitgeschichte der Armut bei, die auf die Betroffenen als Akteure fokussiert.
Homeless men are often ascribed a ›marginalized masculinity‹ (Raewyn Connell) due to their precarious existence, yet the forms of masculinity this social group has publicly presented to others have remained unexplored. The article analyses the masculinities of homeless or formerly homeless people on the basis of the ›Berber-Brief‹ – a newspaper written and distributed by homeless men themselves – and German street magazines. It is striking that the ›Berber-Brief‹ authors of the late 1980s and early 1990s projected a self-confident ›protest masculinity‹, while the street magazine sellers of the 2010s tended to display a ›complicit masculinity‹ characterised by gratitude and a strong work ethic. How can this shift be explained? The various media formats and their professionalisation and commercialisation were important here, as was the willingness of homeless people to partially adapt to certain behavioural expectations – as a result of a social pedagogisation and individualisation of social problems. The article contributes to a gender and contemporary history of poverty that focuses on the people affected as actors.
Zwischen Hoffen und Bangen. Südafrika im Blick westdeutscher Intellektueller der 1960er-Jahre
(2016)
In den 1960er-Jahren verbreitete sich die Kritik am südafrikanischen Apartheid-Regime weltweit. Aber die Bundesrepublik unterhielt gleichzeitig hervorragende und privilegierte Beziehungen zu den weißen Rassisten am Kap. Südafrika galt als natürlicher Verbündeter im Kalten Krieg gegen den Kommunismus und als Garant für die Sache des Westens im risikoreichen Dekolonialisierungsprozess auf dem schwarzen Kontinent.
Drei Bücher haben im 20. Jahrhundert zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Bild der Deutschen über die Sowjetunion geprägt: René Fülöp-Millers „Geist und Gesicht des Bolschewismus“ aus dem Jahr 1926, Klaus Mehnerts „Der Sowjetmensch“ aus dem Jahr 1958 und Lois Fisher-Ruges „Alltag in Moskau“ aus dem Jahr 1984. Allen drei Publikationen ist gemeinsam, dass sie kaum auf die historischen Ereignisse oder das politische Tagesgeschäft zu sprechen kommen, sondern einen Einblick in die sowjetische Alltagskultur zu geben versuchen. Den Autoren der drei Bücher war von Anfang an klar, dass sie eigentlich Unmögliches vorhatten: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle Facetten einer Gegenwartskultur zu erfassen und darzustellen. Im Fall der Sowjetunion kam erschwerend dazu, dass man kaum auf verlässliche Quellen zurückgreifen konnte: Die Kultur teilte sich in einen offiziellen Betrieb und einen verbotenen Untergrund, soziologische Daten waren nicht erhältlich oder manipuliert, die Gesprächspartner mussten immer auf der Hut vor den staatlichen Überwachungsorganen sein. So blieb den Autoren nichts anderes übrig, als sich auf ihre persönliche Erfahrung zu stützen, die naturgemäß nur einen beschränkten Radius aufwies. Der Erfolg der genannten Bücher verdankte sich nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch dem Erscheinungsdatum, das jeweils eine Wendezeit markierte: Fülöp-Miller lieferte nach zehn Jahren Sowjetregime eine erste Bilanz, Mehnert dokumentierte das Ende des Stalinismus, Fisher-Ruge gab einen Einblick in die gesellschaftlichen Startbedingungen der Perestrojka.
Wer endlose Regalkilometer mit großen Tonbandspulen in klimatisierten Räumen und aufwändige Archiverschließungssysteme erwartet, mag zunächst enttäuscht sein. Fünf Metallkoffer gefüllt mit DATs (Digital Audio Tapes) und CDs (Compact Discs), ein Aktenordner mit Informationen zu Aufnahmeobjekt, -ort, -datum, -kontext sowie einer rudimentären Verschlagwortung: So sieht die materielle Dimension des Schallarchivs zur Klanglandschaft Ruhrgebiet aus, das Richard Ortmann, Ralf R. Wassermann und ich seit den 1980er-Jahren aufbauen und das sich, grundsätzlichen Überlegungen zur Quellenbasis einer Musealisierung regionaler Industrialisierung folgend, in Kopie auch im Essener Ruhr Museum befindet. Anders als Rundfunkarchive, deren im Laufe von Jahrzehnten akkumulierte Geräuschesammlungen sich (Hörspiel-)Produktionen verdanken, versteht sich dieses Schallarchiv als eine geschichtskulturelle Aktivität, die jenen umfassenden Strukturwandel zum Thema macht, den das Ruhrgebiet als alteuropäische Montanregion seit Ende der 1950er-Jahre durchlebt und vorantreibt.
Heiße Rhythmen im Kalten Krieg. Swing und Jazz hören in der SBZ/DDR und der VR Polen (1945–1970)
(2011)
Der Aufsatz geht der Frage nach, wie Hörerinnen und Hörer in der SBZ/DDR und in Polen über Radio, Schallplatten und Live-Musik Zugang zu Jazzmusik erhielten. In beiden Gesellschaften entwickelte sich die Jazzszene in einem charakteristischen Spannungsfeld: Einerseits bezeichneten die sozialistischen Regime Jazz mit Beginn des Kalten Kriegs als „amerikanisch-imperialistische Musik“ und versuchten den „Jazztumult“ aus dem öffentlichen Raum und dem Rundfunk zu verdrängen. Andererseits war es mit Hilfe persönlicher Kontakte zu Menschen im Westen sowie vermittelt über die Programme der US Information Agency weiterhin möglich, sich Zugang zu Jazzmusik zu verschaffen. Der Vergleich der DDR mit Polen zeigt dabei, dass sich die bis dahin ähnlichen Kulturpolitiken beider Staaten ab 1956 wesentlich unterschieden. Polen öffnete sich für Jazz und unterstützte zum Teil die Szene wie auch die Musiker; an den Konzerteinnahmen verdienten die Kulturfunktionäre mit. In der DDR agierte das Regime dem Jazz gegenüber zunächst weiter ablehnend, bis der Beat zum neuen musikalischen Feindbild avancierte.
Der Text markiert eine Zeitenwende. Mit ihm wurde der gängigen Rede von der „Vergangenheitsbewältigung“, die den politischen und moralischen Diskurs der Nachkriegsrepublik als Cantus firmus begleitete, ein kritisches Konzept entgegengesetzt. Adornos Leistung war es, mit diesem Aufsatz die Unangemessenheit des „Bewältigungs-Diskurses“ aufzuzeigen und ein alternatives Programm der Aufklärung über die NS-Zeit zu etablieren. In seiner Urform war „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ ein im Herbst 1959 vor dem Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gehaltener, im November des Jahres publizierter Vortrag. Seine subkutane Wirkung war immens, nicht zuletzt aufgrund einer historischen Koinzidenz: Kurz nach der Veröffentlichung schändeten Rechtsradikale die gerade neu eingeweihte Kölner Synagoge – ein Akt, der die von Adorno analysierte Persistenz des nazistischen Syndroms in das Bewusstsein der Öffentlichkeit hob. Dass es sich bei der Gewalttat aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Aktion der Stasi handelte, gibt uns heute Anlass – ähnlich wie im Fall Kurras –, neu über das manchmal verwirrende Zusammenspiel ostdeutscher Delegitimierungsstrategien der Bundesrepublik mit den Aktivitäten der westdeutschen intellektuellen Opposition gegen den Adenauerstaat nachzudenken.
Denkmäler haben wieder Konjunktur – nicht nur in der Kontroverse um Erinnerungs- und Ehrungszeichen im öffentlichen Raum, die einen kolonialgeschichtlichen oder rassistischen Hintergrund besitzen. In der letzten Zeit wurde zwar heftig darüber gestritten, ob derartige Denkmäler, die im Konflikt oder sogar Widerspruch zum heutigen Wertekonsens stehen, erhalten bleiben, kommentiert oder ergänzt werden, ins Museum wandern oder besser ganz verschwinden sollten. Neben der Debatte über die Entrümpelung der deutschen Denkmallandschaft werden aber auch Vorschläge für eine Neumöblierung des öffentlichen Gedenkraumes gemacht. Alternative oder zusätzliche Denkmäler werden ins Gespräch gebracht, initiiert und auch errichtet, die dem gesellschaftlichen Selbstverständnis der Gegenwart besser entsprechen, es genauer zum Ausdruck bringen und gleichzeitig mitprägen sollen. Dazu gehören nicht zuletzt Denkmäler, die an Migration und Zuwanderung erinnern.
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, seit Grammophon und Telefon ist es möglich, Schallphänomene verschiedenster Art auf Tonträger zu speichern und über größere Distanzen hinweg zu verbreiten. Schallerzeugung und -wahrnehmung wurden zeitlich und räumlich voneinander entkoppelt – die Wahrnehmung bedeutungstragender und ästhetisch gestalteter Klänge wurde von der Anwesenheit schallerzeugender Personen (Sprecher, Sänger, Instrumentalisten) unabhängig. Bislang flüchtig gebliebene Situationsgeräusche konnten nun festgehalten und an ferne Rezipienten verbreitet werden – Anwesenheit und Notation waren keine Grundbedingungen mehr für die Tradierung von Musik. In den 1920er-Jahren entstand mit dem Radio zudem das erste Echtzeit-Massenmedium, das die Technologien von Telephonie und Funk kombinierte und ein großes, räumlich verstreutes Publikum gleichzeitig mit akustischen Reizen belieferte. Speichertechnologien (Schall- und Wachsplatten, später Tonbänder) erlaubten es schließlich, unterschiedlichste Schallphänomene auf ein durchgestaltetes Endresultat hin zu arrangieren, dem seine technischen Herstellungsbedingungen oft nicht anzumerken sind. Diese neuen Audiotechnologien schufen also neuartige Hörkontexte und -gelegenheiten, welche die auditive Wahrnehmung im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben.
Ein Museum lässt Migranten sprechen. Die Wege jüdischer Zuwanderer in die Bundesrepublik Deutschland
(2011)
Die Ausstellung „Ausgerechnet Deutschland!“ dokumentierte die Geschichte von 20 Jahren jüdischer Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Gleichzeitig ging sie über ein rein historisches Projekt hinaus: Das Jüdische Museum Frankfurt hat gezeigt, dass eine museale Darstellung nicht nur dokumentieren, sondern auch lebendige Gegenwartskulturen zum Sprechen bringen kann.
Der Bau der neuen UNESCO-Gebäude in Paris war in den 1950er-Jahren von Konflikten begleitet, die auf die schwierige Genese einer neuen internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg verweisen. Der Aufsatz knüpft an jüngere Forschungen zur internationalen Geschichte sowie zu internationalen Organisationen an. Im Hinblick auf die UNESCO interessieren erstens die Etappen der Auseinandersetzung und zweitens die Bauten selbst. Drittens geht es um Gebrauchsweisen und Lesarten des Gebäudeensembles. Die Analyse beruht auf der These, dass die durch die Architektur geschaffene räumliche Ordnung und die verwendeten Materialien als bedeutungstragend zu verstehen sind. Allerdings deckte sich das realisierte Gebäude nicht völlig mit den Programmen und Wunschvorstellungen seiner Initiatoren. Die zeitgenössischen Kritiken sowie heutige Analysen geben den Blick frei auf nicht weiter explizierte Annahmen und Hierarchien, die die Organisation als politische und soziale Ordnung in den 1950er-Jahren prägten – und sie möglicherweise nach wie vor bestimmen.
Der in der DDR seit 1945 propagierte Bereich der „kulturellen Massenarbeit“ mit seinem Erziehungs-, Demokratisierungs- und „Hebungs“-Anspruch bildet immer noch ein weitgehend unbearbeitetes Feld in der neueren sozialhistorischen Forschungslandschaft. Die Existenz betrieblicher Kulturarbeit wird als Phänomen zwar erwähnt, bildet jedoch ein Forschungsdesiderat, das lediglich ein Aufsatz der französischen Historikerin Sandrine Kott aus dem Jahr 1999 thematisiert. Auch der Kulturwissenschaftler Horst Groschopp befaßte sich in den neunziger Jahren eingehend mit dem Phänomen der Breitenkultur in der DDR. Das beinhaltet die aus der Geschichte der Arbeiterbewegung übernommenen Kulturvorstellungen, die Idee der Kulturhäuser und die Professionalisierung der „Kulturarbeiter“. Die von der Einheitsgewerkschaft organisierte Kulturarbeit findet in Groschopps Aufsätzen jedoch kaum Eingang. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß selbst in den neueren Monographien zur Geschichte des FDGB Kulturarbeit keine Beachtung findet, obwohl in dessen Organisationsstruktur gewerkschaftliche Kulturarbeit (von der Ebene des Bundesvorstandes bis in die Betriebe) seit 1946 institutionell verankert war.
Heavy Braut, Asphalt Lady, Teufelsbraut und Lady Rock – so lauten Titel einiger Heavy Metal Bands der DDR. Von jungen Frauen, die durch einen Konzertbesuch aus dem starren Arbeits- und Familienalltag ausbrechen, über besessene Motorradfahrerinnen bis hin zu durchtriebenen femme fatales thematisierten Musikgruppen wie Plattform, Hardholz, Feuerstein und Cobra ab Mitte der 1980er-Jahre das weibliche Geschlecht. Lassen die in diesen Songs dargestellten Formen von Weiblichkeit auf die Emanzipation von Frauen in der sozialistischen Gesellschaft schließen? Und bot die von der Einheitspartei propagierte Gleichberechtigung Frauen in der DDR begünstigte Teilhabemöglichkeiten an einer Musikszene, die im „Westen“ traditionell männlich dominiert wurde?
Nehmen wir das Ansinnen ernst, eine zeitgeschichtliche Forschung zum bundesdeutschen Rechtsextremismus zu entwickeln, dann sollte diese ihren Gegenstand in seinem Facettenreichtum würdigen. Dies bedeutet unter anderem, dass eine zeitgeschichtliche Forschung zum Thema einen Bereich benötigt der rechtsextreme Kulturarbeit und -erscheinungen untersucht. Denn Rechtsextremismus ist nicht allein ein politisches Phänomen und darum nicht vollständig über die Untersuchung von Organisationen, Ideologien, Strategien, Gewalttaten oder über Wahlergebnisse erfassbar. Vielmehr ist Rechtsextremismus in seiner Entwicklung in Deutschland seit 1945 auch als sozialer und eben kultureller Zusammenhang in den Blick zu nehmen. Die rechtsextreme Kulturarbeit dürfte bedeutende Beiträge zur Reproduktionsfähigkeit, für die Vernetzung, für die Sinnvermittlung und Traditionsvermittlung und für die Herstellung von Identität geleistet haben und stellt so einen Austragungsort für strategische, ästhetische und in zweiter Linie auch inhaltliche Debatten in ihrem Lager bereit.
Adorno als Redner und Sprecher – das ist ein zeitgeschichtlich brachliegendes Feld. Noch gibt es keine Monographie, die sein mündliches Wirken in der Öffentlichkeit genauer erkundet. Die folgenden Überlegungen stehen im Zusammenhang mit einem Publikationsprojekt, das diesem Desiderat begegnen soll – auf der Basis der schriftlichen und akustischen Quellen im Theodor W. Adorno Archiv. Das Rundfunkstudio und der Vortragssaal gehörten zu Adornos wichtigsten Wirkungsstätten. Er hatte mehr Hörer als Leser, und seine Auditorien waren umfassender als sein Lesepublikum. Durch das Radio konnte er seinen Wirkungskreis vervielfachen, also Zehntausende, mitunter wohl auch Hunderttausende erreichen. Adorno war sich dieser Verhältnisse durchaus bewusst, zeigte aber die Neigung, seine mündlichen Aktivitäten als Nebensachen darzustellen. Sie hing mit seinem schriftstellerischen Selbstverständnis zusammen. Dagegen verlangt eine zeithistorische Einschätzung seines Wirkens, in Adorno nicht nur den Autor zu sehen, sondern zugleich den öffentlichen Redner und Sprecher – seine intellektuelle Praxis also nicht auf das Schreiben zu verengen. Wenn man von Adornos „Ausstrahlung“ in der Bundesrepublik sprechen will, dann genügt es nicht, auf die Fülle seiner Essays und Bücher hinzuweisen.
Als im Frühjahr 1998 die Ergebnisse des zweiten Wettbewerbs zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas diskutiert wurden und man diese breite öffentliche Debatte sogar als das eigentliche Denkmal für die Opfer des Holocaust bezeichnete, betrat eine „Initiative Denkmal Deutsche Einheit“ die erinnerungspolitische Bühne. In ihrem öffentlichen Aufruf forderte sie die Schaffung eines „Freiheits- und Einheitsdenkmals“, dem die Losung „Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk!“ zugrundeliegen sollte. Das Denkmal sollte die friedliche Revolution in der DDR von 1989 würdigen und einen Ausdruck der Freude über die errungene nationale Einheit im Stadtbild der deutschen Hauptstadt darstellen. Der Kontrast zum jüngeren erinnerungspolitischen Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland war markant: Dem Tiefpunkt deutscher Geschichte im Völkermord an den europäischen Juden wurde ein Höhepunkt des Freiheitswillens der Deutschen und des Ringens um ihre nationale Einheit gegenübergestellt.