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Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich
(2021)
Der Aufsatz entwickelt eine Typologie von Deindustrialisierungsregimen in globaler Perspektive und setzt diese in Beziehung zu drei verschiedenen Arten des Erinnerns an Industrialisierung und Deindustrialisierung: antagonistisches, kosmopolitisches und agonales Erinnern. In welcher Weise und in welchem Maße waren und sind nostalgische Formen des Erinnerns in den unterschiedlichen Deindustrialisierungsregimen präsent? Anknüpfend an bisherige Forschungen wird dafür plädiert, Nostalgie nicht bloß als rückwärtsgewandtes, antiquarisches Sentiment zu betrachten, sondern ihr Potential für die Konstruktion von Zukunft zu erkennen. Zugleich wird versucht, die Theorie des agonalen Erinnerns, wie sie von der Historikerin Anna Cento Bull und dem Literaturwissenschaftler Hans Lauge Hansen entwickelt wurde, für die Deindustrialisierungsforschung fruchtbar zu machen. Der Aufsatz ist ein Diskussionsangebot, wie man die Erinnerung an das Industriezeitalter für unterschiedliche Weltregionen verflechtungsgeschichtlich und vergleichend untersuchen kann – sei es in Südwales, im Ruhrgebiet oder im Osten Chinas.
Von Amerika nach Japan – und zurück. Die historischen Wurzeln und Transformationen des Toyotismus
(2010)
Dieser Artikel zeichnet aus wirtschaftshistorischer Perspektive nach, unter welchen Bedingungen sich das Produktionsmodell des Toyotismus in Japan herausgebildet hat. Gezeigt wird, dass der Toyotismus ursprünglich aus einer Hybridisierung des Ford-Systems hervorgegangen ist: Er beruht auf einer Mischung aus japanischen Innovationen, fordistischen bzw. tayloristischen Elementen und heterodoxen Managementlehren aus den USA. Es wird erklärt, was sich hinter den toyotistischen Managementkonzepten kanban, Just-in-time, kaizen etc. verbirgt und wie diese bei Toyota seit den 1950er-Jahren zur Anwendung gelangten. Für die Zeit ab 1980 wird analysiert, wie sich der frühere Wissenstransfer umkehrte: Nun waren es Amerikaner, die von Japan zu lernen versuchten und dortige Konzepte unter dem Schlagwort „Lean Production“ übernahmen. Ob der Toyotismus damit ein internationales Referenzmodell der Produktions- und Arbeitsorganisation darstellt, ist allerdings noch offen.
Viele Übersichtsdarstellungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts stützen sich auf das »konsumistische Narrativ«: die These, dass die Arbeitsgesellschaft der ersten durch die Konsumgesellschaft der zweiten Jahrhunderthälfte abgelöst worden sei. Betrachtet man dagegen die im Aufsatz besprochenen jüngeren arbeits- und konsumgeschichtlichen Studien, wird erstens deutlich, dass die Etablierung arbeitsgesellschaftlicher Phänomene im Laufe des 20. Jahrhunderts nur langsam erfolgte. Zweitens gewannen konsumgesellschaftliche Strukturen und Angebote nicht erst seit dem »Wirtschaftswunder« der Zeit nach 1945 an Bedeutung, sondern bereits in der ersten Jahrhunderthälfte. Konsum- und arbeitsgesellschaftliche Aspekte, so die These, etablierten sich im deutschsprachigen Raum nahezu parallel. Erstere ersetzten letztere nicht – vielmehr ergänzten sie sich. Vor diesem Hintergrund wird abschließend nach Ansätzen gefragt, die über das konsumistische Narrativ hinausführen.
In der Bundesrepublik und in der gesamten westlichen Welt außerhalb der USA wurde Auslandsbestechung bis Ende der 1980er-Jahre als ein legales Mittel der Exportförderung behandelt. Sie war straffrei und sogar steuerlich absetzbar. Das änderte sich erst im Zuge der »Compliance Revolution« der 1990er-Jahre. Der Beitrag analysiert diesen Wandel für die Bundesrepublik und untersucht die Debatten um die Auslandskorruption. Er konzentriert sich dabei auf die Positionen der Unternehmerschaft und der im Bundestag vertretenen Parteien. Ausgangspunkt ist der stabile Korruptionskonsens der Bonner Republik, der zunächst auch noch in der Berliner Republik Bestand hatte, dann aber unter dem Einfluss einer zunehmend kritischen Zivilgesellschaft und der internationalen Staatengemeinschaft zerbrach. Nachdem es unausweichlich geworden war, die Auslandskorruption zu ächten, wurde hartnäckig darum gerungen, mit welchen juristischen Mitteln sie zu bekämpfen sei. Am Ende eines von vielen Blockaden und Umleitungen verzögerten Prozesses stand ab 2002 die Strafbarkeit aller Arten von Auslandskorruption. Welche Ermittlungsinstrumente eingesetzt werden durften und wie effektiv die Strafverfolgung sein sollte, blieb jedoch weiter strittig. Der Aufsatz zeigt nicht zuletzt die Rückwirkungen internationaler Rechtsnormen für die nationalstaatliche Ebene.
Nichts, jenseits der Luft zum Atmen und dem Wasser zum Trinken, ist für die menschliche Existenz so grundlegend wie die Ernährung, kaum etwas so essentiell wie die regelmäßige Nahrungsaufnahme. Doch während Empfehlungen für Ernährungsumstellungen zum Veganismus oder zu vermeintlich »natürlichen« Paleo-Diäten in Teilen der westlichen Öffentlichkeiten auf fruchtbaren Boden fallen1 und der Wunsch nach Selbstoptimierung das Alltagsverhalten vieler Menschen beeinflusst, berichten Ärzt:innen und Gesundheitsexpert:innen in aller Welt über wachsende Probleme mit Fettleibigkeit und damit verbundenen Krankheiten. Nach Daten der OECD von 2017 hat Übergewicht in der Altersgruppe der 15- bis 74-Jährigen in allen Mitgliedsländern während der letzten drei Dekaden kontinuierlich zugenommen. Während in Frankreich und Italien im Jahr 2017 etwa 40 Prozent der Bevölkerung als übergewichtig galten, erreichten die Werte in den USA und Mexiko fast 70 Prozent. Im OECD-Durchschnitt gilt zudem eine von fünf Personen nicht nur als übergewichtig, sondern als fettleibig.
Westeuropas Wiederaufbau – Made in Germany? Baumaterial aus Deutschland im Versailler Vertrag
(2016)
Die Geschichtsschreibung der Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg handelt bislang vor allem von Geld. Dieser Aufsatz plädiert dafür, auch die Sachlieferungen als einen wesentlichen Bestandteil des Versailler Vertrags zu interpretieren. Exemplarisch wird erprobt, wie sich theoretische Überlegungen zur sozialen Dimension von Dingen auf die Geschichte des Versailler Vertrags und seiner Folgen anwenden lassen. Anhand der zeitgenössischen Diskussionen über geplante Lieferungen von Baumaterial nach Nordfrankreich lässt sich nachvollziehen, dass man auf deutscher Seite mit diesen Reparationsleistungen durchaus Erwartungen verknüpfte: Aus Sicht der Politik sollten Sachlieferungen dazu beitragen, die Gesamtsumme der Reparationen zu mindern. Findige Unternehmen hofften schon 1919 auf einträgliche Geschäfte, etwa durch den Verkauf von Fertighäusern. Auch die Baugewerkschaften setzten auf neue Möglichkeiten für »deutsche Arbeiter und deutsches Material«. Selbst wenn die Lieferung in die Aufbaugebiete Nordfrankreichs in der Praxis begrenzt blieb, eröffnen die damit verbundenen Debatten neue Perspektiven auf die Geschichte des Nachkriegs.
West-Berlin galt besonders in den 1980er-Jahren als Hochburg der Subkultur, als Labor des stadtpolitischen Protestes und Experimentierfeld einer anderen Stadtpolitik. Speziell der Bezirk Kreuzberg ist mit seiner Geschichte der Hausbesetzungen und regelmäßigen Krawalle, aber auch mit dem Konzept einer »Behutsamen Stadterneuerung« (im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1984) zum Synonym für eine Stadtentwicklung jenseits des Mainstreams geworden.
Design aus der DDR ist heute scheinbar nur ein kunsthistorisches Randgebiet. Doch im Kontext der Dauerausstellung zum »Alltag in der DDR«, die die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nun seit November 2013 am früheren Ort der Sammlung Industrielle Gestaltung in der Berliner Kulturbrauerei zeigt, ist es in den letzten Jahren zu einem kontroversen öffentlichen Thema geworden. Der Konflikt bezieht sich unmittelbar auf diese Sammlung, eine der ältesten zum Design in Deutschland – und mit etwa 160.000 Objekten wohl die umfassendste und vielseitigste zur Produktgestaltung in der DDR, jedoch seit 2005 weder öffentlich sichtbar noch beworben. Aufgrund ihrer wechselhaften Geschichte nach der Wiedervereinigung wurden die Bestände bisher nur überblicksweise erschlossen. Obwohl Forscher sie auf Anfrage einsehen können, wäre eine systematische Katalogisierung, inhaltliche Bewertung und damit bessere Zugänglichkeit nötig.
Der Wohnungs- und Städtebau der Zwischenkriegszeit bildet ein Paradebeispiel für die Intentionen und Grenzen der frühen Rationalisierungsdiskurse als einem Kernelement des Fordismus. Der Erste Weltkrieg verhalf der Bewegung sowohl in Deutschland wie in Frankreich zum Durchbruch. Während in Frankreich die private Schwerindustrie trotz staatlicher Rahmensetzungen den Takt angab, wurden in Deutschland die ersten Pilotprojekte der Rationalisierung nach 1918 von sozialistischen „Bauhütten“ und den Kommunen realisiert. Die aus Amerika kommenden Konzepte von Ford, Taylor und Gilbreth wirkten als Katalysatoren auf die in Europa entwickelten Ideen. In der Weltwirtschaftskrise zeigte sich, dass die Rationalisierung im Bauwesen die steigenden Zinsbelastungen am Kapitalmarkt nicht ausgleichen konnte. Der Aufsatz vertritt die These, dass ungeachtet nationaler Varianten in Europa insgesamt die „endogenen“ Konzepte und Triebkräfte (wie Erster Weltkrieg, Wohnungsreform und Sozialpolitik) eine deutlich wichtigere Rolle spielten, als es das Schlagwort vom „Fordismus“ anzeigt.
In den 1980er-Jahren erweiterte die In-vitro-Fertilisation (IVF) nicht nur die Möglichkeiten der Familienplanung, sondern eröffnete auch neue, rasch expandierende Forschungs- und Geschäftsfelder für Mediziner in der Bundesrepublik. Die Vermarktlichung der menschlichen Reproduktion war Gegenstand eines breiten Aushandlungsprozesses über das technisch Machbare und das ethisch Vertretbare. Der Aufsatz stellt die Reproduktionsmediziner in den Mittelpunkt: Als Anbieter von innovativen Dienstleistungen verfolgten sie neben einem wissenschaftlichen Fortschrittsstreben auch ökonomische Interessen. Über die Medien sowie als Mitglieder von Ethikkommissionen nahmen sie politischen Einfluss. Sie verstärkten die öffentliche Wahrnehmung der Reproduktionsmedizin und waren an der Erstellung von gesetzlichen Richtlinien für ihr Tätigkeitsfeld beteiligt. Die medial geübte Kritik betonte die Gefahren einer technokratisch-politischen Steuerung und mögliche Kontinuitäten zur NS-Zeit. Mit der Verabschiedung des – im internationalen Vergleich restriktiven – Embryonenschutzgesetzes von 1990 kam die Debatte zu einem vorläufigen Ergebnis, war und ist jedoch keineswegs beendet.
Die Computerindustrie entwickelte sich in den USA und der UdSSR sehr unterschiedlich. Während in den Vereinigten Staaten der Konzern IBM nahezu ein Monopol erlangte, herrschte in der Sowjetunion ein Konkurrenzkampf. Mehrere Akteure verfolgten an unterschiedlichen Standorten eigene Entwicklungslinien; ein Austausch fand kaum statt. Als Reaktion auf eine von IBM 1963 vorgestellte neue Modellreihe kam es in der UdSSR zu einer Diskussion über die Computerindustrie, die den hartnäckigen Widerstand lokaler Entscheidungsträger bei der Durchsetzung zentraler Direktiven offenbarte. Es bedurfte mehrerer Machtworte von führenden Vertretern der Rüstungsindustrie, um das IBM System /360 als Vorbild einer eigenen Reihe durchzusetzen. Dabei berief man sich vor allem auf die Erfolge, die beim Nachbau von IBM-Rechnern in der DDR erzielt worden waren. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte Entwicklungsdokumente aus dem Westen beschafft, und diese Wirtschaftsspionage trug wesentlich dazu bei, den innersowjetischen Konflikt zu entscheiden. Der technologische Rückstand der UdSSR gegenüber den USA blieb gleichwohl bestehen.
»Apartheid tötet – boykottiert Südafrika!«. Plakate der westdeutschen Anti-Apartheid-Bewegung
(2016)
In ganz Nord- und Mitteleuropa bildeten sich in den 1960er- und 1970er-Jahren Anti-Apartheid-Bewegungen, die durch Aktionen in ihren Heimatländern den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika unterstützen wollten. In der Bundesrepublik Deutschland wurde am 21. April 1974 im niedersächsischen Othfresen (südlich von Salzgitter) der Verein »Anti-Apartheid-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin« (AAB) gegründet. Zu diesem ersten Treffen eingeladen hatten der Mainzer Arbeitskreis Südliches Afrika (MAKSA) – ein 1971 entstandener Zusammenschluss evangelischer Kirchenmitarbeiter, die selbst einige Jahre in Südafrika tätig gewesen waren und meist wegen ihrer Haltung zur Apartheid das Land hatten verlassen müssen –, die Arbeitsgruppe »Freiheit für Nelson Mandela«, die aus dem MAKSA 1973 unter der Federführung des Stuttgarter Pfarrers Karl Schmidt hervorgegangen war, sowie der Pfarrer Hans-Ludwig Althaus. Sie wollten über die Situation in Südafrika informieren und Protest gegen die Apartheid mobilisieren. Sie kritisierten insbesondere die Zusammenarbeit der Bundesregierung und westdeutscher Unternehmen mit dem Apartheid-Regime. Der Begriff Anti-Apartheid-Bewegung hat aber eine doppelte Bedeutung: Neben dem Namen des Vereins bezeichnet er zugleich allgemein die gesellschaftliche Bewegung derer, die sich gegen die Apartheid in Südafrika engagierten. Diverse Gruppen waren daran beteiligt; im Laufe der Jahre erstellten sie eine Fülle von Plakaten. Dieser Beitrag soll einen Einblick in die verschiedenen Gestaltungsformen der Anti-Apartheid-Plakate in der Bundesrepublik geben.
Stress ist als Begriff und Problem weit über die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte hinaus relevant; Stressdiskurse können als Sonde für breitere gesellschaftsgeschichtliche Konstellationen dienen. Eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Stress muss daher zum einen dem medizinisch-biologischen Konzept nachgehen, zum anderen dessen gesellschaftliche Funktionalität erfassen. Die Zeitgeschichte wird den Fokus besonders auf die sozioökonomischen Prozesse und die soziale Sinngebung richten. Gleichwohl gibt es ein nicht zu vernachlässigendes methodisches Grundproblem: Wie lässt sich eine Beziehung herstellen zwischen den biochemischen und psychologischen Dimensionen, die mit dem Stressbegriff verknüpft sind, sowie den komplexen sozialen Konfigurationen, die dieser Begriff rationalisieren soll? Was sind die Konstituenten und Selbstbeschreibungsmodi einer Gesellschaft, die sich durch Flexibilisierung und Regulierung gleichermaßen auszeichnet? In welchem Verhältnis stehen zudem die jüngere Entwicklung seit den 1970er-Jahren, in der Stress eine hohe Deutungsmacht erhalten hat, und die Überforderungsdiskurse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts?
Nach 1989 feierten Kommentatoren den finalen Triumph des kapitalistischen Marktes über seinen letzten Widersacher, den sozialistischen Plan. Aber die krisenhaften Wirtschaftsumbauten in der ehemaligen DDR und in Ost(mittel)europa standen noch bevor. Was meinten Ökonomen, Wirtschaftspolitiker oder Manager dieser Umbauprozesse eigentlich, wenn sie von Märkten sprachen? Der Beitrag richtet den Blick auf Vorstellungen im Kontext der 1990 gegründeten Treuhandanstalt und fokussiert Akteure, die in der Rückschau oft als marktgläubige »Exekutoren« des westlichen »Neoliberalismus« auf einem östlichen »Experimentierfeld« kritisiert werden. Deren Marktkonzeptionen fielen keineswegs einheitlich aus; sie konnten einen idealen Endzustand oder aber einen radikalen Prozess meinen. Auch der Glaube an die Gestaltbarkeit von Marktmechanismen erwies sich als wechselhaft. Eine Analyse zeitgenössischer Experteninterviews, die 1992/93 im Auftrag der Treuhand geführt wurden und jetzt wiederentdeckt werden konnten, offenbart schließlich ein breites Spektrum an individuellen Marktdeutungen aus der Alltagspraxis der ostdeutschen Transformation.
Wie kann man die beiden getrennten deutschen Nachkriegsgeschichten integrieren? Dieser für die neuere Zeitgeschichte grundsätzlichen Frage will sich der Aufsatz stellen. Er geht von den Defiziten bisheriger Versuche gemeinsamer Narrative aus und stellt dann eine plurale Sequenzperspektive mit sieben Stufen vor, welche die wechselnden Problemkonstellationen der Jahre 1945 bis 1990 betont. Aus einem für jede der Stufen zentralen Erfahrungsbeispiel leitet der Essay schließlich wechselnde, methodisch vielfältige Analysevorschläge ab, die den verschiedenen Gegenständen angemessen erscheinen. Der Königsweg zu einer gemeinsamen deutschen Nachkriegsgeschichte ist daher nicht die Fortschreibung einer latenten Nationalgeschichte, sondern ein multiperspektivischer Ansatz, der sowohl der Eigendynamik der Teilung wie den weiter bestehenden Verflechtungen und blockübergreifenden Problemlagen gerecht wird – und nicht zuletzt auch den biografischen Erfahrungen der beteiligten Menschen.
»Free to Choose«. Die Popularisierung des Neoliberalismus in Milton Friedmans Fernsehserie (1980/90)
(2015)
In einem engen, stickigen Kellerraum irgendwo in Rochester, New York, klingeln die Telefone, es ist viel zu tun. Von überallher laufen Aufträge ein, denn die Firma P.H. Brennan Hand Delivery, die hier ihren Sitz hat, prosperiert. Pat Brennan, eine kleine, schmächtige Frau, die entschlossen in die Kamera blickt, ist die Gründerin der kleinen Firma. Die Kamera zeigt, wie sie als Zustellerin, mit Briefen beladen, zu Fuß durch Rochester läuft. Hinter ihr droht das große, einschüchternde Gebäude des United States Post Office. Ganz ähnliche Hochhäuser waren in dieser Serie schon früher zu sehen: In ihrer schieren Massivität visualisieren sie sehr genau das, was Milton Friedman, der die Geschichte aus dem Off kommentiert, big government nennt. Big government nämlich zerstört wenig später Pat Brennans prosperierendes Kleinunternehmen. In den USA des Jahres 1978 ist die Post ein gesetzlich gesichertes Staatsmonopol. Brennan Hand Delivery muss deshalb schließen, nach einem auch gerichtlich ausgetragenen Kampf gegen die Regierung. Die letzte Kameraeinstellung zeigt den Kellerraum, der die Firma beherbergte, still, leer und verlassen. Diesen Kampf gegen Goliath hat David verloren.
In seiner Geschichte der jüngsten Vergangenheit Amerikas, die 2011 unter dem Titel »Age of Fracture« erschien, begreift der Historiker Daniel T. Rodgers die wirtschaftlichen Veränderungen, die sich seit den 1970er-Jahren vollzogen, in ideengeschichtlicher Perspektive als »Wiederentdeckung des Marktes«. Paradoxerweise sei die Idee und Rhetorik des Marktes, als eines abstrakten und dekontextualisierten Prinzips, das auf eine Vielzahl menschlicher Lebensbereiche angewendet werden könne, gerade zu dem Zeitpunkt populär geworden, als allenthalben Marktversagen zu beobachten gewesen sei.[1] Die entscheidende Veränderung der letzten Jahrzehnte, die sich im Bereich der akademischen Wirtschaftswissenschaften vollzogen habe, fasst Rodgers als »an effort to turn away from macroeconomics’ aggregate categories and try to rethink economics altogether from microeconomic principles outward«.[2] Mit der Erklärung makroökonomischer Phänomene auf der Basis mikroökonomischen Verhaltens sei zugleich versucht worden, immer weitere Gesellschaftsbereiche über die Prinzipien individueller Nutzenmaximierung zu erklären.
Unternehmensplanspiele entstanden in den USA um 1956 aus militärischen Simulationsprogrammen, Fallstudien an Business Schools sowie Kriegsplanspielen und einer Reihe weiterer Einflussgrößen. Angesiedelt am Schnittpunkt von Unternehmensführung, ökonomischen Paradigmen und Computerisierung, bietet das Feld der Unternehmensplanspiele besonders gute Voraussetzungen, um Transformationen gesellschaftlicher Steuerungslogiken nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nachzuvollziehen. In den »ernsthaften Spielen« wurden Praktiken des Entscheidens sowie die Adaption an ein neues Medium und einen veränderten Rationalitätsbegriff (spielerisch) erprobt. Der Aufsatz nähert sich diesem Feld aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive. Der Beitrag fokussiert auf die erste Phase der Verwendung von Unternehmensplanspielen bei der Ausbildung von Führungskräften in der Bundesrepublik seit Beginn der 1960er-Jahre. Näher vorgestellt wird der Einsatz des von IBM entwickelten Planspiels TOPIC 1 bei Hoechst.
»Von neuem aufgeladen«. Anzeigenwerbung für Verjüngungsmittel in Illustrierten der Weimarer Republik
(2020)
Ewige Jugend ist ein uralter Menschheitstraum. Er war schon lange zur Ware geworden, bevor Anfang der 1990er-Jahre der Ausdruck »Anti-Aging« geprägt wurde. Das macht bereits ein flüchtiger Blick in die illustrierten Magazine der Weimarer Republik deutlich. In fast jeder Ausgabe finden sich Anzeigen, mit denen für den verjüngenden Effekt eines Nahrungsergänzungsmittels oder eines Hormonpräparats, einer Schönheitsoperation oder eines Fitnessprogramms geworben wurde. Hundertfach gewähren solche Anzeigen, die unter anderem von (inter)nationalen Kosmetik- und Pharmaherstellern, Privatkliniken und Kureinrichtungen in Auftrag gegeben wurden, einen Einblick in den Verjüngungsdiskurs der 1920er- und frühen 1930er-Jahre. Zudem zeugen sie von der raschen Expansion der damaligen Verjüngungsindustrie und belegen, wie sehr diese Industrie und die Weimarer Bilderblätter, die wie »kaum ein zweites Medium [...] die Befindlichkeiten der Epoche« spiegeln, voneinander profitierten.