1980er
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Zwischen Weihnachten und Neujahr 1982 und 1983 fand im Frankfurter Theater am Turm (TAT) jeweils das Festival Stern.Zeichen statt, das im Untertitel „Homosexualität im Theater“ hieß. Zu den großen Entdeckungen der ersten Ausgabe zählte Georgette Dee, jene androgyne Künstler*in, die seit den frühen 1980er Jahren in ihren Bühnenauftritten unterschiedlichste Facetten von Geschlechtlichkeit aufführt, die sich nicht in einer einzelnen Identitätskategorie auflösen lassen. Für die zweite Ausgabe 1983 wurde Georgette Dee eingeladen, eine Weihnachts-Gala zu moderieren (und zu organisieren). Die Beschreibung des Auftritts lässt erahnen, mit welchem Glitter, Glamour und Camp hier gegen Heteronormativität angespielt und angesungen wurde.
Da das Recht und damit auch der Strafvollzug dem Aufbau des Sozialismus dienten, ist anzunehmen, dass diese sozialistische Moral auch in den Gefängnissen vermittelt werden sollte. Wie wurde also in den DDR-Haftanstalten mit gleichgeschlechtlicher Sexualität und nicht-normativen Verkörperungen von Geschlecht umgegangen? Dieser Frage geht der Beitrag am Beispiel des Ost-Berliner Frauengefängnisses nach.
Geschlechterverhältnisse innerhalb der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung eher eine marginale Rolle. Es war vor allem die interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, die die Auswirkungen des Systemwechsels in der früheren DDR in den Blick nahm. Die Fülle der bis in die frühen 2000er Jahre entstandenen Forschungen trug Karin Aleksander in ihrer Bibliographie „Frauen und Geschlechterverhältnisse in der DDR und in den neuen Bundesländern“ zusammen.
Kaum eine Ausstellung hat eine derartige Aufmerksamkeit auf sich gelenkt wie diese. In der Zeitgeschichtsforschung ist die durch sie und mit ihr herbeigeführte epochale Zäsur unbestritten. Im Jahr 1981 bildete die Ausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ den Höhepunkt einer regelrechten „Preußenwelle“. Bereits gegen Ende der 1970er Jahre war ein gestiegenes Interesse der Öffentlichkeit an „deutscher“ Geschichte festzustellen.
Die Debatte um die Preußen-Ausstellung im Westberliner Martin-Gropius-Bau und die Frage eines nationalen Geschichtsortes öffnete aber ebenso ein Fenster für die Erschließung des „Prinz-Albrecht-Geländes“, dessen Geschichte Anfang der 1980er Jahre (fast) vollkommen unbekannt war und an dessen Ort sich heute das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors befindet. Der „History Boom“ ging einher mit einem „Memory Boom“. Vielmehr noch: Beide verliefen nicht lediglich parallel, sondern sind verschränkt.
Ich möchte aufzeigen, dass beide – Preußen-Ausstellung und Topographie des Terrors – in den zeitgenössischen Debatten um den Umgang mit Vergangenheit verbunden sind. Doch zunächst skizziere ich knapp Vorgeschichte und Entstehung der Preußen-Ausstellung.
*Der Beitrag ist in gekürzter Form auch im Begleitkatalog zu der Sonderausstellung "1870/71. Reichsgründung in Versailles" der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh erschienen (Die DDR und die Reichsgründung, in: Ulrich Lappenküper/Maik Ohnezeit (Hrsg.), 1870/71. Reichsgründung in Versailles, Friedrichsruh 2021, S. 200-205).
Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl erschütterte im Mai 2019 die Welt ein zweites Mal. Die Miniserie Chernobyl[1] rief den Reaktorunfall, der sich am 26. April 1986 nahe der ukrainischen Stadt Prypjat ereignete, ins Gedächtnis und fesselte bei Sky und HBO ein Rekordpublikum an die Bildschirme. Im Westen erntete die britisch-amerikanische Produktion reichlich Lob und Preise – in Russland dagegen stieß die Serie auf teils harte Kritik. Politiker*innen und Medien bezeichneten sie als US-Propaganda, forderten ein Verbot und warfen den Filmemacher*innen vor, den sowjetischen Machtapparat zu diffamieren. Am Beispiel der US-britischen Serie Chernobyl und des russischen Kinofilms Tschernobyl 1986 zeigt der Beitrag, wie an den ehemaligen Fronten des Kalten Krieges um die „richtige“ Geschichtsdeutung gekämpft wird.
Eine »Völkerwanderung«? Die Flucht aus Rumänien und die Flüchtlingspolitik in Österreich um 1990
(2023)
Als sich 1989 der »Eiserne Vorhang« in Europa öffnete, waren im »Westen« die Ängste vor einem ungeregelten Zuzug aus dem sich auflösenden »Ostblock« groß. Dass die Einreise von rumänischen Staatsbürger:innen Anfang der 1990er-Jahre tatsächlich zunahm, wurde als Beleg für die Befürchtungen gesehen. Die Frage nach dem Umgang mit Flüchtlingen aus Rumänien prägte die Auseinandersetzung über Flucht und Migration in Europa jedoch bereits seit Mitte der 1980er-Jahre – auch innerhalb des sozialistischen »Blocks«. Wegen der prekären Wirtschaftslage und der repressiven Politik des Ceaușescu-Regimes versuchten immer mehr Menschen Rumänien zu verlassen. Ihre erste Station war meist Ungarn, das als Reaktion auf die Fluchtbewegung 1989 der Genfer Flüchtlingskonvention beitrat und die Arbeit des UNHCR im eigenen Land zuließ, wovon im Sommer 1989 auch Bürger:innen aus der DDR profitierten, die über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik gelangen wollten. Die internationale Hilfe knüpfte an die Erwartung an, dass durch eine bessere Versorgung in Ungarn der Migrationsdruck auf den »Westen« reduziert werden könne. Diese Hoffnung teilte auch Österreich, wo fremdenfeindliche Stimmungen gegenüber Rumän:innen die Asyl- und Flüchtlingspolitik für die kommenden Jahrzehnte prägten.
When the ›Iron Curtain‹ opened in Europe in 1989, there were fears in the ›West‹ of an unregulated influx of people from the dissolving ›Eastern Bloc‹. The increased number of Romanian citizens arriving in the early 1990s was seen as proof of a major ›exodus‹. However, the question of how to deal with refugees from Romania had already been shaping the debate on refugees and migration in Europe since the mid-1980s – even within the socialist ›bloc‹. The precarious economic situation and the repressive politics of the Ceaușescu regime meant that more and more people were trying to leave Romania. Their first stop was usually Hungary, which, in response to the flow of refugees, acceded to the Geneva Refugee Convention in 1989 and allowed the UNHCR to work in the country, a development that also supported citizens from the GDR trying to reach the FRG via Hungary and Austria in the summer of 1989. International aid was linked to the expectation that better care in Hungary would reduce the migratory pressure on the ›West‹. This hope was shared by Austria, where xenophobic sentiments toward Romanians shaped asylum and refugee policies for decades to come.
Das Schweigen deuten. Stimm- und Wahlenthaltung als Streitgegenstand in der Schweiz (1960–1990)
(2023)
Wie gehen demokratische Gesellschaften mit einer sinkenden Stimm- und Wahlbeteiligung um? Seit den 1960er-Jahren führte dieses Phänomen in der schweizerischen Öffentlichkeit zur Diagnose eines demokratischen »Unbehagens« oder gar einer »Krankheit«. Während Nichtwähler:innen selbst in dieser Diskussion selten zur Wort kamen, drückten Politiker, Wissenschaftler und Journalisten (überwiegend Männer) mitunter Nostalgie für eine idealisierte, unmedialisierte Dorfpolitik aus. Die Einführung des Frauenstimmrechts im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre destabilisierte solche Ideale weiter, indem sie das androzentrische Staatsbürgerschaftsmodell des »Bürgersoldaten« in Frage stellte. Obschon nichtkonventionelle Partizipationsformen in dieser Zeit zunahmen, wurde die Stimm- und Wahlenthaltung zum »öffentlichen Problem«, über welches Politiker debattierten und zu dem sie wissenschaftliche Studien beauftragten. Die sich teilweise im Kreis drehende Diskussion führte zu einer Kritik der vertikalen Verhältnisse zwischen Repräsentierten und Repräsentanten – in einer demokratischen Kultur, die sich lange als horizontal stilisiert hatte. Ähnlich wie in der aktuellen, international regen Debatte über Bedrohungen der Demokratie standen die Deutungen der Stimm- und Wahlenthaltung als freie Projektionsfläche für Krisendiagnosen dabei in einem Gegensatz zur Komplexität des Phänomens als »polyphonem Schweigen«.
How do democratic societies deal with declining electoral turnout? This phenomenon led to diagnoses of a democratic ›unease‹ or even a ›sickness‹ in the Swiss public sphere from the 1960s onwards. While non-voters themselves rarely participated in this discussion, politicians, academics and journalists (most of them men) expressed nostalgia for an idealised, non-mediatised, rural form of politics. The gradual introduction of female suffrage in the 1960s and 1970s further destabilised such ideals, questioning as it did the model of the ›citizen-soldier‹. Although non-conventional forms of participation increased during the same time period, non-voting became a ›social problem‹, debated by politicians and the subject of commissioned academic studies. The discussion often went round in circles, and gave way to a critique of the vertical relations between represented and representatives – in a democratic culture which had long prided itself on being horizontal. Much like the current lively international debate on threats to democracy, the interpretations of non-voting and abstention as a canvas for the projection of crisis diagnoses stood in contradiction to the complexity of this ›polyphonic silence‹.
Eine oft übersehene Dimension der Auseinandersetzung bundesdeutscher Sicherheitsakteure mit dem international vernetzten Linksterrorismus ab den 1970er-Jahren ist die sogenannte Polizeihilfe für Staaten des Globalen Südens. Bundesdeutsches Know-how und Polizeitechnik made in Germany sollten die Polizeibehörden in Partnerländern modernisieren und so die internationale Anti-Terror-Zusammenarbeit verbessern. Der Aufsatz untersucht die Dynamiken solcher Kooperationen in Lateinamerika und stützt sich dabei vor allem auf Akten der beteiligten Bundesministerien. Westdeutsche Behörden stuften die Region aufgrund ihrer politischen Instabilität als möglichen Rückzugsort terroristischer Gruppen ein. Anders als oft dargestellt, folgten die Programme jedoch kaum einer außen- oder sicherheitspolitischen Gesamtstrategie. Vielmehr entwickelten sich die prestigeträchtigen Polizeihilfen zu einer symbolischen »Währung« für die Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren einer zunehmend transnationalisierten »Inneren Sicherheit«. Partnerschaften zwischen den Sicherheitsinstitutionen von demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik und Militärdiktaturen wie Brasilien, Chile oder Peru waren dabei die Regel.
Police assistance programmes for Global South countries were a key component of West Germany’s efforts to counter international left-wing terrorism during the 1970s and 1980s. Security technology ›made in Germany‹ and West German policing expertise were considered important foreign policy tools to support the modernisation of partner countries’ police institutions and for strengthening international cooperation in the domain of counterterrorism. Focusing on West German police assistance programmes for Latin America, and primarily based on files of the West German federal ministries involved, we demonstrate that, far from simply reflecting broader security or foreign policy goals, the practical unfolding of these programmes was driven by constant negotiation processes between the various actors. This, in turn, transformed police assistance programmes into a veritable symbolic currency whose accumulation decisively pushed the transnationalisation of West Germany’s internal security. Partnerships between the security institutions of democratic states such as West Germany and military dictatorships such as Brazil, Chile and Peru were standard practice.
In der Diskussion um den Strukturwandel der 1970er- und 1980er-Jahre haben musikkulturelle Vergemeinschaftungen bisher kaum eine Rolle gespielt. Der Aufsatz analysiert den Wandel von Klassenzuschreibungen an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Musikgeschichte über einen regionalen und räumlichen Zugriff. Dazu werden die Working Men’s Clubs im englischen Nordosten mit ihrer Verknüpfung von Arbeiterkultur und jugendkultureller Individualisierung während der »New Wave of British Heavy Metal« (NWOBHM) als Orte eines gesellschaftlichen Aufbruchs interpretiert. Wie gestaltete sich dort der Übergang von strukturellen zu kulturellen Klassenbeziehungen, und welche Folgen hatte dies für die weitere Entwicklung der Heavy-Metal-Kultur? Die Anbindung der NWOBHM an die Arbeiterklasse ermöglichte es einer entstehenden »neuen Mittelschicht«, zu der die Musiker häufig selbst gehörten, an der empfundenen Authentizität der »Working Class« zu partizipieren, während gleichzeitig postindustrielle Elemente mit einem jüngeren, auch weiblichen Publikum Einzug in die Working Men’s Clubs hielten.
In the discussion about the structural transformation of the 1970s and 1980s, the formation of musical/cultural communities has been largely ignored. The article analyses the shift in class attributions at the interface of social and music history via a regional and spatial approach. To this end, the Working Men’s Clubs in the English Northeast and their combination of working-class culture and individualisation in terms of youth culture during the New Wave of British Heavy Metal (NWOBHM) are interpreted as sites of social awakening. How did the transition from structural to cultural class relations manifest itself in the clubs, and what consequences did this have for the further development of heavy metal culture? The NWOBHM’s affiliation with the working classes enabled an emerging ›new middle class‹, to which the musicians themselves often belonged, to participate in the perceived authenticity of the ›working class‹, while at the same time post-industrial elements with a younger, partly female audience found their way into the Working Men’s Clubs.
Dieser Aufsatz erklärt die enorme Resonanz von Günter Wallraffs Bestseller »Ganz unten« (Erstausgabe 1985) mit den emotionalen Bedürfnissen und der soziokulturellen Verfasstheit der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft. Das Buch artikulierte soziale Abstiegsängste während einer wirtschaftlichen Strukturkrise mit hoher Arbeitslosigkeit. Es präsentierte eine binäre Weltsicht, die die expressive Emotionskultur der 1980er-Jahre reflektierte. Die nahezu apokalyptische Darstellung der westdeutschen Industriegesellschaft und ihres menschenverachtenden Umgangs mit migrantischen (Leih-)Arbeitern stand im Einklang mit der Weltsicht eines wachsenden grün-alternativen Milieus. Im Gegensatz zur populären Erinnerung war das Buch jedoch kein Wendepunkt in der öffentlichen Repräsentation der türkischen »Gastarbeiter«, für deren Erfahrungen Wallraff nach seiner Undercover-Recherche als »Ali« zu sprechen schien. Vielmehr verdeutlichte »Ganz unten« massive Defizite im Umgang mit Differenz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1980er-Jahre, gerade auch auf der Linken. Nicht Wallraffs Buch, sondern die damalige, bisher vernachlässigte deutsch-türkische Kritik daran markiert eine historisch signifikante antirassistische Traditionslinie, die bis in die Gegenwart reicht.
This article analyses the enormous popularity of Günter Wallraff’s bestseller Ganz unten (first German edition 1985). It argues that the book’s success resulted primarily from the emotional needs and sociocultural conditions within West German majority society. The book articulated fears of social decline during an economic structural crisis with high unemployment. It presented a binary worldview that reflected the expressive emotional regime of the 1980s. The almost apocalyptic depiction of West German industrial society and its inhumane treatment of migrant (temporary) workers coincided with the worldview of a growing green-alternative milieu. Contrary to popular memory, however, the book was not a turning point in the public representation of Turkish ›guest workers‹, whose experience Wallraff claimed to speak for after his undercover research as ›Ali‹. Rather, Ganz unten highlighted massive deficits in dealing with difference in 1980s West German society, especially on the left. It is not Wallraff’s book, but the hitherto largely neglected German-Turkish critique of it that establishes a historically significant anti-racist tradition.
Angesichts heutiger Debatten über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sowie über die Frage, wer in der Öffentlichkeit sicht- und hörbar werden sollte, ist »Epistemology of the Closet« brandaktuell. Immer öfter beschweren sich alte, heterosexuelle und weiße Cis-Männer darüber, dass sie angeblich nichts mehr sagen dürften. Im Zeichen einer neuen Identitätspolitik, so die Sorge, beschäftige sich eine Vielzahl kleiner Gruppen mit ihren je eigenen Anliegen, aber niemand habe mehr das große Ganze, den gesellschaftlichen Zusammenhang im Blick. Dabei geht es doch eher darum, dass die Beschwerdeführer nicht mehr so selbstherrlich wie noch vor 30 Jahren für die Allgemeinheit sprechen und die Diskurshoheit für sich beanspruchen können. Das Buch »Epistemology of the Closet« steht am Anfang dieser Entwicklung. Es handelt von der Sichtbarmachung des lange verheimlichten gleichgeschlechtlichen Begehrens und nimmt der heterosexuellen Dominanz ihre Unschuld, markiert sie als eine Struktur der Unterdrückung. Gleichzeitig enthält das Buch aber auch Zweifel an allzu festgefahrenen Vorstellungen von individueller und kollektiver Identität. Es begründet also das, was man heutzutage als Identitätspolitik bezeichnet, und unterläuft es zugleich.
Wirft man einen Blick in die Aids-Plakatsammlung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden oder in die Bestände zu diesem Thema im Deutschen Plakat Museum im Museum Folkwang in Essen, so findet man etwa dies: Eine Trans-Person mit rotgeschminkten Lippen und farbenprächtig schattierten Augenlidern blickt ernst und fordernd in die Kamera. »DON’T STOP PASSION, STOP AIDS«, steht in Versalien über dem Porträt geschrieben, das eine Plakatkampagne ziert, die vom Ministerium für Gesundheit in Luxemburg 1996 in Auftrag gegeben wurde. »Strength comes from being safe«, ist auf einem anderen Plakat von 1994 aus Neuseeland zu lesen, auf dem sich zwei junge Maori sinnlich in weißen Laken räkeln. Wieder ein anderes Plakat, das 1986 von der Gesundheitsaufklärungsorganisation HERO in Baltimore herausgegeben wurde, zeigt zwei muskulöse Männer in Unterhemden, deren Körperhaltung zwischen Posing und Striptease changiert. »You won’t believe what we like to wear in bed«, ist darauf zu lesen. Die Botschaft dieser drei Plakate ist angesichts der Slogans, des konkreten Imperativs im Plakattext (»Use Condoms«) oder des logoähnlich platzierten Kondoms am unteren rechten Plakatrand unmissverständlich: »Benutzt Kondome, sie schützen vor Aids«. Damit können die Plakate als Beispiele für eine Präventionsstrategie gelesen werden, die in vielen Ländern seit Mitte der 1980er-Jahre dominierte. Das Ziel lautete, über Infektionswege aufzuklären und für ein Verhalten zu werben, das vor Ansteckung schützen sollte. Dieser Konsens, auch »liberale AIDS-Politik« genannt, setzte verstärkt auf Eigenverantwortlichkeit; der Fokus lag vor allem auf Botschaften wie safer sex und safer use.
Obdachlosen Männern wird aufgrund ihrer prekären Lebenssituation häufig eine »marginalisierte Männlichkeit« (Raewyn Connell) zugeschrieben. Welche Männlichkeitsformen diese soziale Gruppe von sich selbst öffentlich präsentierte, ist bisher aber noch unerforscht. Anhand des »Berber-Briefes« – einer von obdachlosen Männern selbst verfassten und vertriebenen Zeitung – und deutschen Straßenmagazinen werden Männlichkeitsentwürfe von Wohnungslosen oder ehemals Wohnungslosen analysiert. Dabei fällt auf: »Berber-Brief«-Autoren der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre präsentierten eine selbstbewusste »Protestmännlichkeit«, Straßenmagazinverkäufer der 2010er-Jahre eher eine von Dankbarkeit und Arbeitsethos geprägte »komplizenhafte Männlichkeit«. Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Die verschiedenen Medienformate, deren Professionalisierung und Kommerzialisierung waren dabei wichtig, aber auch die Bereitschaft von Obdachlosen, sich bestimmten Verhaltenserwartungen partiell anzupassen – als Folge einer Sozialpädagogisierung und Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen. Der Aufsatz trägt zu einer Geschlechter- und Zeitgeschichte der Armut bei, die auf die Betroffenen als Akteure fokussiert.
Homeless men are often ascribed a ›marginalized masculinity‹ (Raewyn Connell) due to their precarious existence, yet the forms of masculinity this social group has publicly presented to others have remained unexplored. The article analyses the masculinities of homeless or formerly homeless people on the basis of the ›Berber-Brief‹ – a newspaper written and distributed by homeless men themselves – and German street magazines. It is striking that the ›Berber-Brief‹ authors of the late 1980s and early 1990s projected a self-confident ›protest masculinity‹, while the street magazine sellers of the 2010s tended to display a ›complicit masculinity‹ characterised by gratitude and a strong work ethic. How can this shift be explained? The various media formats and their professionalisation and commercialisation were important here, as was the willingness of homeless people to partially adapt to certain behavioural expectations – as a result of a social pedagogisation and individualisation of social problems. The article contributes to a gender and contemporary history of poverty that focuses on the people affected as actors.
While British coal miners are often cast in the collective memory as traditionalists, the article reveals a more complex conception of identity. During the 1970s and 1980s, the National Union of Mineworkers (NUM) combined ideas of heroic masculinity with support for the workplace rights of women and ethnic minorities. ›Muscular masculinity‹ was used as a resource to further the opportunities of disadvantaged groups and to defend the miners’ own interests, as is demonstrated with reference to the ›Grunwick‹ dispute of 1976–78 and the great miners’ strike of 1984/85. The miners’ prioritising of muscular masculinity did not go uncontested at the time. Yet it was not until the events of 1984/85 that the NUM’s cult of masculinity came to be seen as a cause of the miners’ defeat and a problem for the British Left in general. Following a famous dictum by E.P. Thompson, the article argues that historical conceptions of masculinity should be measured by the standards of the time rather than the expectations of our present.
Im Zentrum des Beitrags steht die Sozialfigur des britischen Bergmanns in den 1970er- und 1980er-Jahren. Während der Bergarbeiter im kollektiven Gedächtnis der Gegenwart gern als traditionsverhaftet dargestellt wird, rekonstruiert der Aufsatz einen vielschichtigeren Identitätsentwurf, der eine heroisierte Form von Männlichkeit mit dem Einsatz für die Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten am Arbeitsplatz verband. »Muskuläre Männlichkeit« galt der National Union of Mineworkers als Machtressource, die sowohl zur Ausweitung der Lebenschancen anderer als auch zur Verteidigung eigener Interessen eingesetzt werden konnte, wie am Beispiel des »Grunwick«-Arbeitskampfes der Jahre 1976–1978 sowie des großen Bergarbeiterstreiks von 1984/85 dargelegt wird. Bereits zeitgenössisch blieb die gewerkschaftliche Betonung heroisierter Männlichkeit nicht unwidersprochen. Erst infolge des verlorenen Streiks 1984/85 setzte sich allerdings eine Sicht durch, die diese Form von Männlichkeit mitverantwortlich machte für das Scheitern der Gewerkschaft und die Krise der britischen Linken in den 1980er-Jahren. Im Anschluss an ein berühmtes Diktum E.P. Thompsons plädiert der Beitrag dafür, historische Männlichkeitsentwürfe stärker an den Maßstäben der Zeit als an den Erwartungen unserer Gegenwart zu messen.
»Poverty and Famines« gilt auch heute noch als eines der einflussreichsten Bücher zum Thema Hunger überhaupt. Die Debatte um seine Ergebnisse hält bis in die Gegenwart an, auch wenn sie am schärfsten in den 1980er- und 1990er-Jahren geführt wurde. In dem schmalen Band versuchte der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen 1981 nichts Geringeres als ein neues Erklärungsmodell für die Entstehung von Hungersnöten zu entwickeln. Sens Interesse am Hunger als wirtschaftswissenschaftlichem Thema kann aus dem zeithistorischen Kontext erklärt werden, wenn man die unterschiedlichen Diskussionszusammenhänge herausarbeitet, zu denen er mit seinem Buch Stellung bezog. Gleichzeitig erweist sich nicht zuletzt in der Corona-Pandemie, wie aktuell Sens Ansatz bis heute ist.
„Mit Angst, Hass und entgrenzter Gewalt – und nicht mit Sektflaschen begann die Deutsche Einheit für Linke, Deutsche mit Migrationshintergrund, Ausländerinnen und Ausländer in vielen ostdeutschen Städten“, kommentierte unlängst Christian Bangel den 3. Oktober 2020 in DIE ZEIT. „Das war nicht nur ein schlechter Start der Deutschen Einheit. Es war ein Fanal für die neuen Zeiten.“ Tatsächlich bekamen die rechten Gewalteskalationen im Übergang von der DDR zur vereinigten Bundesrepublik, die von körperlicher Bedrohung und Herabsetzung bis zu tödlichen Angriffen reichten – zuletzt immer mehr Aufmerksamkeit. In manchen Regionen hatte diese „Gewalt der Vereinigung“ vor allem für nicht-weiße Personen, Wohnungslose und Linke eine permanente Bedrohungslage geschaffen.
Unter #Baseballschlägerjahre forderte Bangel vorletztes Jahr dazu auf, die Erinnerungen an die Vereinigungsgewalt zu teilen. Innerhalb einer Woche sammelten sich mehrere hundert kurze Einzelberichte an; im November 2020 veröffentlichte der RBB in Kooperation mit ZEIT ONLINE daran anknüpfend zusätzlich sechs Kurzfilme, die Schlaglichter auf einzelne Orte werfen und Geschichten von Bedrohung, Terror und Angst erzählen. Es gibt aber auch einige autobiographische Romane. Jene, die zu dieser Zeit ihre Jugend in Ostdeutschland erlebten, erzählen davon, wie sie angegriffen, bedroht und zusammengeschlagen wurden: Clemens Meyer in „Als wir träumten“ (2007), Peter Richter in „89/90“ (2015), Manja Präkels in „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (2017).
Die autobiografischen Texte stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages, da sie eine neue Perspektive auf die Erfahrung der Transformationsprozesse der Vereinigung eröffnen und sich mit einem anderen Phänomen der postsozialistischen Gesellschaft in Zusammenhang bringen lassen: der Abwanderung. Die enthemmte rechte Gewalt war für die in diesem Beitrag ausgewählten Berichtenden ein wichtiger Anlass, den Osten zu verlassen.