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In der Bundesrepublik und in der gesamten westlichen Welt außerhalb der USA wurde Auslandsbestechung bis Ende der 1980er-Jahre als ein legales Mittel der Exportförderung behandelt. Sie war straffrei und sogar steuerlich absetzbar. Das änderte sich erst im Zuge der »Compliance Revolution« der 1990er-Jahre. Der Beitrag analysiert diesen Wandel für die Bundesrepublik und untersucht die Debatten um die Auslandskorruption. Er konzentriert sich dabei auf die Positionen der Unternehmerschaft und der im Bundestag vertretenen Parteien. Ausgangspunkt ist der stabile Korruptionskonsens der Bonner Republik, der zunächst auch noch in der Berliner Republik Bestand hatte, dann aber unter dem Einfluss einer zunehmend kritischen Zivilgesellschaft und der internationalen Staatengemeinschaft zerbrach. Nachdem es unausweichlich geworden war, die Auslandskorruption zu ächten, wurde hartnäckig darum gerungen, mit welchen juristischen Mitteln sie zu bekämpfen sei. Am Ende eines von vielen Blockaden und Umleitungen verzögerten Prozesses stand ab 2002 die Strafbarkeit aller Arten von Auslandskorruption. Welche Ermittlungsinstrumente eingesetzt werden durften und wie effektiv die Strafverfolgung sein sollte, blieb jedoch weiter strittig. Der Aufsatz zeigt nicht zuletzt die Rückwirkungen internationaler Rechtsnormen für die nationalstaatliche Ebene.
Der nachfolgende Aufsatz, Zwischenergebnis eines größeren Forschungsprojektes, zeichnet zunächst die Grundlinien dieses Prozesses - hier als Stalinisierung bezeichnet - auf bildungspolitischem Gebiet nach. Da in den Jahren 1947 bis 1949 von der SED-Führung auch eine grundlegende konzeptionelle und strukturelle Akzentverschiebung im Erziehungssystem durchgesetzt wurde, wird dieser Phase im ersten Abschnitt besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei soll verdeutlicht werden, daß die SED-Führung den Schulen bei der Erziehung eines systemkonformen Nachwuchses und damit bei der Verwirklichung ihres Herrschaftsanspruches eine große Bedeutung beimaß. Mit dem parteipolitischen Wandel der SED begann in der SBZ zugleich die Instrumentalisierung der Bildungsinhalte und der Institution Schule unter dem Diktat der Partei. Insgesamt ging es in den beiden Jahren vor der Gründung der DDR in erster Linie um das Zurückdrängen von schulkonzeptionellen Alternativen und, mit deutlich antidemokratischer Zielrichtung, um das Durchsetzen des Führungsanspruchs der SED im Bildungsbereich.
Der Aufsatz geht der Frage nach, welche Formen von Armut es in der DDR in den Jahrzehnten nach dem Mauerbau gab und wie über sie kommuniziert wurde. Sozialhistorisch rekonstruiert wird die Unterversorgung zweier ausgewählter Armuts-Gruppen: Rentner und kinderreiche Familien. Auf der Basis von Akten, zeitgenössischen wissenschaftlichen Arbeiten und Medienberichten wird zudem betrachtet, welche Images von „Armut“ zirkulierten. Zwar galt Armut im Selbstverständnis des SED-Staats als überwunden. Dennoch war offenkundig, dass es soziale Ungleichheiten, ja Notlagen auch in der DDR gab, und diese fanden in der damaligen Sozialforschung ein breites Interesse. Die Einkommens- und Wohnverhältnisse von Rentnern, besonders von Rentnerinnen, waren häufig prekär, so dass viele von ihnen eine zusätzliche Arbeit aufnehmen mussten – was mit dem Bild des „rüstigen“ Alten beschönigt wurde. Bei Kinderreichen wurde differenziert zwischen den „würdigen“, „wohlorganisierten“ und den „liederlichen“, „dissozialen“ Familien. So ging es im Hinblick auf beide Gruppen nicht allein darum, ihre Armut zu lindern. Das vorrangige Ziel war vielmehr, sie mit positiven Images zu versehen und abweichendes Verhalten zu sanktionieren.
Der Irak-Krieg des Jahres 2003 wurde von zwei Bildern eingerahmt: Eines zeigt die Bombardements am Anfang und eines den Fall der Saddam-Statue auf dem Firdos-Platz am Ende. Lange vor dem Beginn des Krieges war bereits viel über die Taktik des amerikanischen Militärs geschrieben worden. Ein Militärschlag, wie es ihn noch nie gegeben hatte, sollte ihn eröffnen. „Shock and Awe“ wurde von der Bush-Administration als Bezeichnung ausgegeben, und noch Anfang März wurde die „MOAB“ getestet, die „Mother of all Bombs“. Schon der Name ließ sich leicht mit dem geplanten Irak-Krieg in Verbindung bringen, hatte Saddam Hussein den Zweiten Golfkrieg 1991 doch als „Mother of all Battles“ bezeichnet.
Philadelphia, Detroit, The Bronx oder Saint Germain des Prés: Manchen urbanen Topographien hat sich die Musikgeschichte so sehr eingeschrieben, dass ihre Ortsnamen wie unverwechselbare Marken synonym für spezifische Sounds oder Pop-Stile stehen. Dies lässt sich auch in Deutschland finden. Seit kurzem wird hier die untergegangene »Halbstadt« West-Berlin mit Macht neu entdeckt. Zahlreiche Romane, Memoiren, Bildbände, Sachbücher und Ausstellungskataloge erinnern an ihre Popgeschichte.[1] Manche dieser Publikationen beschwören eine Art Westalgie,[2] die als retrospektives Unbehagen an den aktuellen Umbrüchen verstanden werden kann. Im Kontrast zur sich rasant verändernden Hauptstadt der Berliner Republik erscheint der Westen der geteilten Stadt darin als ein Ort, der zwar im Zentrum der geopolitischen Konflikte seiner Epoche lag, gleichzeitig aber – zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten seiner Existenz – davon scheinbar unberührt die Kulisse einer hedonistischen Freizeitgesellschaft bildete, die sich in künstlerischen Avantgarden sowie politisierten und subkulturellen Milieus formierte. Man mag hier Ansätze der Mythenbildung erkennen, doch rückt damit die Sonderrolle der vergangenen Stadt in den Fokus.
In den 1990er-Jahren ist das Interesse am Ersten Weltkrieg nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch seitens populärer Geschichtsdarstellungen enorm gestiegen – ein Trend, der bis in die jüngste Vergangenheit angehalten hat. So erlebte das Jahr 2014 eine Vielzahl von Publikationen, Diskussionen, Ausstellungen und Fernsehsendungen zum Thema. Dabei fällt es auch Fachleuten schwer, angesichts des historischen Groß- und Medienereignisses die Übersicht zu behalten. Um diesem mannigfaltigen medialen Angebot ein wissenschaftlich fundiertes Überblicksportal an die Seite zu stellen, wurde im Oktober 2014 die Website »1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War« freigeschaltet, die seither stetig erweitert wird. Um es vorwegzunehmen: Sie besticht durch eine Fülle an erhellenden und thematisch neuen Artikeln zum Ersten Weltkrieg. Mit einer dezidiert globalen Perspektive und verschiedenen Zugriffen (inhaltlich, zeitlich, regional) bietet sie nicht nur gezielte Rechercheoptionen, sondern lädt bewusst zum Stöbern und Lesen ein. Dabei weist das Portal eine sinnvolle und nachvollziehbare Systematik auf.
Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute Abend im Potsdamer Einstein Forum über Asyl und Flüchtlinge sprechen zu dürfen. Vor allem aus zwei Gründen freue ich mich besonders. Zum einen, weil Albert Einstein, dessen Namen Ihr Forum trägt, der erste ernannte Professor am Institute for Advanced Study in Princeton war und dort Schutz fand, als er vor der nationalsozialistischen Repression flüchtete. Ich selbst arbeite seit sechs Jahren in dieser Forschungseinrichtung, wo ich die School of Social Science leite. Albert Einstein verbindet mich also im doppelten Sinne mit Ihnen: beruf lich, als Mitgründer derjenigen Institution, an der ich arbeite; aus intellektueller Sicht, da er selbst ein Flüchtling gewesen ist, wie all diejenigen, von denen ich Ihnen erzählen werde.
Die Volksrepublik China, die Mongolei, Nordkorea und Japan – vier von insgesamt vierzehn direkten Nachbarn Russlands sind ostasiatische Staaten. Im Allgemeinen wird Russland als geografisches, politisches und kulturelles Bindeglied zwischen Asien und Europa verstanden. Allerdings wird Russland in Ostasien und „in Japan nicht primär als europäische, sondern als asiatische Macht wahrgenommen.“ Aus Japans Sicht führt die asiatische Großmacht Russland unter Missachtung territorialer Grenzen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit Auswirkungen auf Japans politische Agenda.
Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich
(2021)
Der Aufsatz entwickelt eine Typologie von Deindustrialisierungsregimen in globaler Perspektive und setzt diese in Beziehung zu drei verschiedenen Arten des Erinnerns an Industrialisierung und Deindustrialisierung: antagonistisches, kosmopolitisches und agonales Erinnern. In welcher Weise und in welchem Maße waren und sind nostalgische Formen des Erinnerns in den unterschiedlichen Deindustrialisierungsregimen präsent? Anknüpfend an bisherige Forschungen wird dafür plädiert, Nostalgie nicht bloß als rückwärtsgewandtes, antiquarisches Sentiment zu betrachten, sondern ihr Potential für die Konstruktion von Zukunft zu erkennen. Zugleich wird versucht, die Theorie des agonalen Erinnerns, wie sie von der Historikerin Anna Cento Bull und dem Literaturwissenschaftler Hans Lauge Hansen entwickelt wurde, für die Deindustrialisierungsforschung fruchtbar zu machen. Der Aufsatz ist ein Diskussionsangebot, wie man die Erinnerung an das Industriezeitalter für unterschiedliche Weltregionen verflechtungsgeschichtlich und vergleichend untersuchen kann – sei es in Südwales, im Ruhrgebiet oder im Osten Chinas.
„The values of Western publics have been shifting from an overwhelming emphasis on material well-being and physical security toward greater emphasis on the quality of life.“ Schon im ersten Satz proklamierte der amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Inglehart die Essenz seiner Analyse der „stillen Revolution“ in den westlichen Industriegesellschaften. Dass sich sozialkulturell seit den 1960er-Jahren einiges verändert hatte, lag zwischen Kritik und Apologie der „68er“, den Debatten um Ostpolitik und Abtreibung und einem veritablen Kulturkampf um Bildungsreformen und Bildungsstandards gleichsam auf der Hand. Überlagert durch das Spannungsverhältnis zwischen der „Modernisierungsideologie“ der 1960er- und einer vielbeschworenen „Tendenzwende“ an den „Grenzen des Wachstums“ in den mittleren 1970er-Jahren, war die Hauptrichtung dieses Wandels indessen schwer erkennbar. Inglehart schlug eine Schneise durch dieses sozialkulturelle Dickicht: Nachdem er schon 1971 von einer Veränderung der Werteprioritäten in den westlichen Gesellschaften gesprochen hatte, legte er 1977 eine Monographie vor, die bald zu einem Klassiker der Soziologie avancierte.
»Verdammt von Moralisten, glorifiziert als Kunst, unverzichtbarer Wirtschaftsfaktor für die Medien« – so fasste die Journalistin Eva-Maria Burkhardt 1989 in der Zeitschrift »Auto Motor und Sport« die gesellschaftliche Relevanz von Werbung zusammen. Anschließend ging sie auf die massive öffentliche Kritik speziell an der Autowerbung ein. Diese sei verantwortlich für »Rowdytum und Raserei auf den Straßen«, lautete ein vielfach kolportierter Vorwurf von Experten für Verkehrssicherheit, da sie die Symbole »Sportlichkeit« und »Motorleistung« inszeniere. Sicher vereinfachte die zeitgenössische Diskussion den kausalen Zusammenhang zwischen Bildern von rasenden Autos und schweren Verkehrsunfällen; zumindest die Zahl der Verkehrstoten war in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre eher rückläufig. Gleichwohl belegt diese Debatte, wie eng (Auto-)Werbung und öffentlich diskutierte Themen aufeinander bezogen waren. Werbung wirkte dabei als »Zerrspiegel« gesellschaftlicher Realität.
»Leise über den Dächern reisen«, so war im Herbst 2012 ein Artikel zu städtischen Seilbahnen betitelt. Der zentrale Vorteil dieses Transportmittels: Seine Nutzer würden hoch über den verstopften Straßen schweben, ihr Ziel fast lautlos, ohne Verzögerung und beinahe CO2-neutral erreichen. In Europa ist die zu den Olympischen Sommerspielen 2012 in London eröffnete und nach ihrem Sponsor benannte Luftseilbahn Emirates Air Line eines der bekanntesten Prestigeprojekte für diese neue städtische Mobilitätsform. Als Vorbilder dienten die urbanen Seilbahnen in Asien und Lateinamerika, obschon vereinzelt auch westliche Städte wie Barcelona, New York oder Koblenz im ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhundert auf dieses Konzept gesetzt hatten. Gerade in Metropolregionen und Megastädten, die sich mit einem massiven Verkehrsaufkommen und einem immer weiter voranschreitenden Bevölkerungswachstum konfrontiert sehen, entwickelt sich die Seilbahn zu einem Fortbewegungsmittel, das Zukunftsutopien bedient.
Virtual Reality. Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren
(2010)
Am Beispiel eines zur Bild-Ikone geratenen Lenin-Fotos aus dem Jahr 1920 untersucht der Beitrag die Praxis manipulativer Eingriffe in das visuelle Gedächtnis der UdSSR vom Stalinismus bis zur Perestrojka. Die Aufnahme, die im Original Lenin und Trotzki vor sowjetischen Truppen in Moskau zeigte, wurde massiven Geschichtsfälschungen unter-zogen, an denen sich prototypisch die Intentionen, Mechanismen und politischen Strukturen der sowjetischen Bild- und Medienzensur seit den 1930er-Jahren rekonstruieren lassen. Die UdSSR gab sich ein neues ideologisches wie visuelles Design, das den Staat im In- und Ausland als Erfolgsmodell darstellen sollte. Dieses Design erforderte nicht nur eine nachträgliche „Optimierung“ der Vergangenheit; in ihm manifestierten sich zugleich stalinistische Visualisierungsstrategien, mit denen Staat und Partei politische Sichtbarkeiten zu kontrollieren versuchten. Trotz des enormen Aufwands war dieser Versuch indes nur teilweise erfolgreich: Es erwies sich letztlich als unmöglich, die Unperson Trotzki flächendeckend aus dem kulturellen Gedächtnis zu eliminieren.
Staudammbauten in Afghanistan, Ahmed Ben Bella und wie er die Welt sah, die Fotos hungernder Kinder in Nigeria und Bangladesch, amerikanische Agrarwissenschaftler, die in Manila Reissorten züchten, Chinas Werben um Afrika, eine UN-Erklärung, niemals umgesetzt, über die Errichtung einer »Neuen Weltwirtschaftsordnung« – wer hätte vor 20 Jahren vorausgesagt, dass diesen Episoden einmal symptomatische Bedeutung zugemessen würde, wenn es um das Verständnis der internationalen Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht. Wie stark sich das geschichtswissenschaftliche Bild des Zeitraums gewandelt hat, lässt sich tatsächlich, noch vor allen interpretatorischen Einordnungen und methodischen Konzeptualisierungen, besonders eindrücklich an der Fülle neuen Wissens ablesen, das historische Studien in den letzten gut 15 Jahren hervorgebracht haben. Weltregionen, über die man wenig wusste, Akteure, die eher im Hintergrund operierten, politische Projekte, die nebensächlich erschienen, Konflikte, die als sekundär galten, sind inzwischen eingehend erforscht.
Im Zentrum dieses Aufsatzes steht die europäische Dimension der Revolution. Sie läßt sich auf knappem Raum freilich nicht gleichmäßig ausleuchten. Ich werde mich auf die städtische Revolution konzentrieren - den für den gesamten Revolutionsprozeß eminent wichtigen Agrarbereich also ausklammern - und hier wiederum vor allem die Entwicklungen und Ereignisse in den drei europäischen Revolutionsmetropolen Paris, Wien und Berlin in den Blick nehmen. Der preußischen Metropole gilt darüber hinaus besondere Aufmerksamkeit, weil sie sich im Revolutionsjahr zur informellen Hauptstadt des 1848/49 staatlich ja nur vorübergehend geeinten Deutschlands mauserte. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in acht Abschnitte. Sie beginnen jeweils mit einer These, die dann in mehr oder weniger groben Strichen ausgemalt wird.
Viele wundern sich dieser Tage über den kometenhaften Aufstieg des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einem globalen Medienstar. Besonders augenfällig wird dies durch den grellen Kontrast zur medialen Inszenierung seines Widerparts im Kreml. Selenskyj lässt Putin alt aussehen, doch hinter seinem internetaffinen, von Videoclips und Selfie-Ästhetik inspirierten Kommunikationsstil stehen mehr als nur ein paar gute PR-Strategen. Dass der ukrainische Präsident sich der „sozialen Medien“ virtuos zu bedienen weiß, hat er nicht erst seit Kriegsausbruch unter Beweis gestellt. Dass die ukrainische Führung nun auch in ihrer Kriegspropaganda erfolgreich auf Interaktion und Nähe setzt, ist nicht zuletzt ein Gradmesser für den Stand der öffentlichen Kommunikation in der sich demokratisierenden ukrainischen Gesellschaft.
Der Beitrag untersucht Motive und Voraussetzungen des Engagements west- bzw. gesamtdeutscher zivilgesellschaftlicher Initiativen in Belarus nach der Katastrophe von Tschernobyl. Gefragt wird, welche Wahrnehmungen und Maßstäbe von Sicherheit und Verunsicherung die Akteure leiteten. Die Fundamente des Engagements lagen in den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre – vor allem in der Anti-AKW- und der Friedensbewegung. Die zunehmende Sensibilisierung für ökologische Schäden, das sinkende Vertrauen in die schützende Rolle des Staates und wachsende Zweifel an der Autorität von „Experten“ verbanden sich mit einem Wandel in der Kommunikation von Emotionen. Angst und Verunsicherung wurden in der Spätphase des Kalten Krieges zum Mobilisierungspotenzial für ein zivilgesellschaftliches Handeln, das zum Teil bis heute andauert und vielfältige Kontakte zwischen Deutschland und Belarus etabliert hat.
Die Bedeutung der Apartheid für die internationale Menschenrechtspolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt in ihrer Exzeptionalität: Kein anderes Thema stand so lange auf der menschenrechtspolitischen Agenda, nämlich von den späten 1940er-Jahren bis zum Ende der Minderheitsherrschaft 1994, als der »Kalte Krieg« schon einige Jahre vorüber war. Keine andere Regierung erfuhr in dieser Zeit eine stärkere internationale Isolierung als die südafrikanische. Kein anderes Staatsverbrechen zog in der internationalen Politik, unter zivilgesellschaftlichen Aktivisten und in der medialen Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit auf sich, als es die Rassendiskriminierung am Kap während der Hochphase der weltweiten Entrüstung gegen Ende der 1980er-Jahre tat. Das Faszinosum der transnationalen Geschichte Südafrikas besteht nicht in dem, was an ihr typisch, sondern in dem, was an ihr besonders ist.
Eine Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts müsste zugleich eine Geschichte des Verlustes und des Vergessens sein. Zu solchen Überlegungen wird gedrängt, wer die Studien von Joseph B. Schechtman und Eugene M. Kulischer über die Bevölkerungsverschiebungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Hand bekommt. Bekanntlich ist das Problem von Flucht, Vertreibung, Zwangsumsiedlungen im Zusammenhang der Jugoslawienkriege und anderer „ethnischer Säuberungen“ wieder zu einem brisanten Thema geworden, das die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit auf sich ziehen konnte. Für die neuere Forschung – etwa Klaus J. Bades „Europa in Bewegung“ (2000) oder Norman Naimarks „Fires of Hatred“ (2001) – sind Kulischer und Schechtman kein monumentaler Referenzpunkt, sondern nur eine Fußnote.
Vernetzung um jeden Preis. Zum politischen Alltagshandeln der Generalverwaltung im "Dritten Reich"
(2007)
Wie stand die Generalverwaltung der KWG zum NS-Regime? Welches Verhältnis entwickelte umgekehrt das NS-Regime, genauer: entwickelten die wissenschaftspolitisch einflußreichen Institutionen der Diktatur zur KWG? Diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man die Netzwerke der zentralen Akteure der Wissenschaftsgesellschaft und ihrer Generalverwaltung als politischem Kern der KWG genauer unter die Lupe nimmt.
Der Ruf des Marktes ist lädiert. Die internationalen Finanzkrisen der letzten Jahre haben Ängste vor einem offenbar politisch unbeherrschbaren, globalisierten Hochgeschwindigkeits-Kapitalismus geschürt; zugleich verweist das seit geraumer Zeit gewachsene Unbehagen an einer anhaltenden »Ökonomisierung« von Arbeitsbeziehungen, sozialen Sicherungs- oder Bildungssystemen auf die Schattenseiten eines hochflexiblen Informations- und Konsumgüterangebots, auf das allerdings kaum jemand verzichten möchte. Wie plausibel solche Zeitdiagnosen auch immer erscheinen mögen, sie dürften immerhin das gewachsene Interesse einer Zeitgeschichtsschreibung, die sich wieder stärker der »Problemgeschichte« oder den »Anfängen der Gegenwart« widmet, an jenen ökonomischen Faktoren miterklären, die in der kulturhistorischen Hochkonjunktur der 1990er-Jahre in den Hintergrund gerückt waren.
Die Rekrutierung von Führungspersonal erfolgte in der DDR - aufgrund des zentralistischen Staatssystems, der leitenden Rolle der Partei etc. - bekanntermaßen für alle Ebenen und Bereiche von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zentralgesteuert. Die Auswahl, Instruktion und Kontrolle des Führungspersonals stand dabei immer vor einem systemimmanenten Widerspruch zwischen Konformität und Professionalität. Trotz dieser Steuerung gelang es jedoch nicht, Frauen in größerer Zahl in Führungspositionen aller Ebenen einzusetzen, obwohl die SED zwischen 1949 und 1989 in gebetsmühlenartigem Stil immer wieder die Förderung von Frauen für Führungspositionen einklagte und zahlreiche Gesetze, Verordnungen und Förderinstrumente erließ. Die Kritik an der mangelnden Umsetzung mag anhand des vielbeachteten Kommuniques des ZK der SED „Die Frau - der Frieden und der Sozialismus“ stellvertretend für die zahlreichen gesetzlichen Maßnahmen und Anordnungen der SED in der Zeit vor Veröffentlichung des Kommuniques und bis zum Ende der DDR verdeutlicht werden: „Alle Leitungen der Partei in den Betrieben der Industrie und der Landwirtschaft, im Staatsapparat, in den kulturellen Institutionen, Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen werden verpflichtet, die Beschlüsse der Partei und der Regierung zur Förderung und Entwicklung der Frauen zielstrebiger zu verwirklichen und ihre Durchführung ständig zu kontrollieren“. Warum auch diese „Instruktion“ ihr Ziel nicht erreichen konnte, legt eine bemerkenswerte Aussage von Inge Lange, der „ranghöchsten“ Frau in der DDR - sie war Vorsitzende der Abteilung Frauen beim ZK der SED - aus dem Jahre 1979 nahe. Demnach sei es, so Inge Lange, ganz klar, daß „in der in fernerer Zukunft zu schaffenden kommunistischen Gesellschaft alle Mitglieder der Gesellschaft, Frauen wie Männer, sozial gleichgestellt sein werden“ und nun, 1979, mit der Schaffung dieser Voraussetzungen begonnen werden müsse. Auch zu Beginn ihres letzten Jahrzehnts war die DDR somit weit entfernt von der realen Gleichberechtigung und Gleichstellung der Frauen, obwohl in den offiziellen Verlautbarungen der Partei- und Staatsfuhrung beides bereits seit langem als verwirklicht galt.
Nostalgie wird oft in kulturellen und, mehr noch, popkulturellen Kontexten diskutiert. Gelegentlich – und gerade in den letzten Jahren wieder – findet sich der Begriff jedoch auch in politischen Zusammenhängen. So wird er dazu verwendet, politische Entwicklungen zu erklären: etwa das britische EU-Referendum, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, das Erstarken der AfD in Deutschland oder den Aufstieg neuer Autoritarismen im östlichen Europa. Viele Beobachter*innen stellen einen in ihren Augen alarmierenden Zusammenhang zwischen Politik und Vergangenheitssehnsucht her. Aus ihrer Sicht resultieren die Effekte einer ungebremsten Globalisierung in einer gefährlichen Rückwärtsgewandtheit. Statt über sozioökonomische Konstellationen und Interessen erklären sie Politik emotional und psychologisch, wobei sie Nostalgie repathologisieren.
Ivan Mládek entwickelte Anfang der 1990er-Jahre im postsozialistischen Tschechien das Wirtschaftsspiel Soudruhu, nezlob se! (Genosse ärgere Dich nicht). Der 1942 in Prag geborene Sänger und Komiker Mládek erfuhr Unterdrückung und Einschränkungen im Privatleben von Seiten des tschechischen Regimes. Das von ihm entwickelte Brettspiel, das vom Titel her an den Spieleklassiker Mensch ärgere Dich nicht angelehnt ist, thematisiert die totalitäre Vergangenheit des tschechoslowakischen Staatssozialismus auf besondere Art. Einzelne Ereignisse und Missstände in der Tschechoslowakei werden hier durch eine auf die Spitze getriebene Polemik – begleitet von schwarzem Humor – im Spiel nacherlebt. Nach ausdrücklicher Empfehlung des Herstellers ist das Spiel insbesondere für jene geeignet, die sich rückblickend mit der Erfahrung von Unterdrückung und Ausgrenzung auseinandersetzen möchten. Somit sollen schwer lastende, gar traumatische Erinnerungen durch Humor an Leichtigkeit gewinnen und Möglichkeiten eröffnen, die Vergangenheit auf eine weniger schmerzhafte Weise nachzuerleben oder sogar aufzuarbeiten.
Im Jahr 2012 kam der Film »Fetih 1453« in die türkischen Kinos. Das Heldenepos um den 18-jährigen Sultan Mehmed II., dessen Truppen die oströmische Hauptstadt einnahmen, war unter Einsatz neuester Computertechnik, Animationen und vielerlei Effekten hergestellt worden. Der Kinostart in Istanbul war – damit die geschichtsträchtige Symbolik sich auch jedem Türken deutlich erschließe – um 14.53 Uhr. Der Film entwickelte sich rasch zum Kassenschlager. Er war nicht nur der teuerste in der Türkei jemals gedrehte Film – seine Produktionskosten beliefen sich auf 17 Mio. US-Dollar –, sondern zog auch die meisten Besucher an.
What is the link between consumer society, fear of a nuclear war, design, modernity and utopia? According to the curators David Crowley and Jane Pavitt, the answer can be summarized in one concept: the Cold War. ‘Cold War Modern’ is an exhibit intending to show how the two postwar superpowers, the US and the USSR, engaged in aggressive contests in art, architecture and design in order to ‘demonstrate a superior vision of modernity’.
Spanien hat sich seit den 1950er-Jahren zu einem der wichtigsten Urlaubsziele in Europa entwickelt. Für die Regionen, in die Touristen aus der ganzen Welt reisten und noch heute reisen, bedeutete dies eine fundamentale Neugestaltung von sozialen Strukturen und Lebensgewohnheiten sowie auch von Landschaft und Umwelt. Der Aufsatz beleuchtet das Verhältnis zwischen Umwelt und Tourismus anhand der Beispiele Mallorca und Costa Brava – ausgehend von den Wahrnehmungen und Handlungen spanischer Akteure, die seit den frühen 1970er-Jahren mit dem Tourismus zusammenhängende Probleme diagnostizierten. Im Zentrum der Analyse stehen zunächst Politiker, die aus ökonomischen Gründen die Bedeutung von Umweltfragen für die langfristige Sicherung des Tourismus erkannten, sowie dann Naturschutzgruppen und Bürgerinitiativen, die sich gegen den weiteren Ausbau des Massentourismus engagierten. Die umweltpolitische Argumentation dieser Gruppen verband sich mit regionalen Identitätsentwürfen und Autonomieansprüchen; sie führte zu Teilerfolgen wie der Ausweisung von Schutzgebieten. Der Beitrag stützt sich auf Quellen aus spanischen Lokal- und Regionalarchiven, auf Material der Umweltinitiativen sowie auf Pressedebatten über den Tourismus.
Der Beitrag verfolgt die Karriere eines Bildes der amerikanischen Fotografin Dorothea Lange, das im März 1936 als Presseaufnahme in Umlauf kam und in der Folge unter dem Titel „Migrant Mother“ zu einer Ikone der Großen Depression in den USA wurde. Das Foto wird hier erstmals im Zusammenhang der gesamten Serie von sieben Aufnahmen analysiert, der es entnommen ist. Ausgehend vom politisch-sozialen Kontext des New Deal leistet der Autor eine ikonographische Analyse; er arbeitet die semantischen Überschreibungen und Adaptionen des Bildes im Verlauf seiner Rezeptionsgeschichte heraus und ordnet das Foto schließlich vier verschiedenen Diskursen zu, die die Semantik der „Migrant Mother“ maßgeblich bestimmt haben. Die historische Bedeutung von Dokumentarfotografie erweist sich dabei im Wesentlichen als eine Funktion der sozialen und diskursiven Praxis ihrer Verwendung.
Die sozialistischen Vordenker Marx, Engels und Lenin begründeten die „sozialen Ursachen“ der Kriminalität mit dem herrschenden kapitalistischen Gesellschaftssystem, dessen „ökonomische Basis die Wurzel allen Übels“ sei. Das Verbrechen sei keine dem Menschen angeborene Eigenschaft, sondern „historisch entstanden und wird mit dem Sozialismus/Kommunismus allmählich überwunden“. Entsprechend teilte auch die DDR-Führung die Sicht, dass „mit der Liquidierung der Ausbeuterordnung in der DDR die wesentlichen Wurzeln der Kriminalität verschwunden [sind]. Das ermöglicht [es] erstmalig in der deutschen Geschichte, die Vorbeugung der Verbrechen zur Aufgabe der gesamten Gesellschaft zu machen.“
Obdachlosen Männern wird aufgrund ihrer prekären Lebenssituation häufig eine »marginalisierte Männlichkeit« (Raewyn Connell) zugeschrieben. Welche Männlichkeitsformen diese soziale Gruppe von sich selbst öffentlich präsentierte, ist bisher aber noch unerforscht. Anhand des »Berber-Briefes« – einer von obdachlosen Männern selbst verfassten und vertriebenen Zeitung – und deutschen Straßenmagazinen werden Männlichkeitsentwürfe von Wohnungslosen oder ehemals Wohnungslosen analysiert. Dabei fällt auf: »Berber-Brief«-Autoren der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre präsentierten eine selbstbewusste »Protestmännlichkeit«, Straßenmagazinverkäufer der 2010er-Jahre eher eine von Dankbarkeit und Arbeitsethos geprägte »komplizenhafte Männlichkeit«. Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Die verschiedenen Medienformate, deren Professionalisierung und Kommerzialisierung waren dabei wichtig, aber auch die Bereitschaft von Obdachlosen, sich bestimmten Verhaltenserwartungen partiell anzupassen – als Folge einer Sozialpädagogisierung und Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen. Der Aufsatz trägt zu einer Geschlechter- und Zeitgeschichte der Armut bei, die auf die Betroffenen als Akteure fokussiert.
Homeless men are often ascribed a ›marginalized masculinity‹ (Raewyn Connell) due to their precarious existence, yet the forms of masculinity this social group has publicly presented to others have remained unexplored. The article analyses the masculinities of homeless or formerly homeless people on the basis of the ›Berber-Brief‹ – a newspaper written and distributed by homeless men themselves – and German street magazines. It is striking that the ›Berber-Brief‹ authors of the late 1980s and early 1990s projected a self-confident ›protest masculinity‹, while the street magazine sellers of the 2010s tended to display a ›complicit masculinity‹ characterised by gratitude and a strong work ethic. How can this shift be explained? The various media formats and their professionalisation and commercialisation were important here, as was the willingness of homeless people to partially adapt to certain behavioural expectations – as a result of a social pedagogisation and individualisation of social problems. The article contributes to a gender and contemporary history of poverty that focuses on the people affected as actors.
Nationalistische und rassistische Organisationen haben in der Bundesrepublik Tradition. Das gleiche gilt für den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen. (Neo)nazistische Organisationen und die gesellschaftlichen Reaktionen darauf können folglich auch aus einer historischen Perspektive betrachtet werden. Das müssen sie sogar, nimmt man das heute so selbstverständlich scheinende „Nie wieder!“ der „wehrhaften Demokratie“ beim Wort. Denn was sollte sich eigentlich nicht mehr wiederholen: der Zweite Weltkrieg, die antisemitische Vernichtungspolitik oder die Abschaffung der Weimarer Demokratie durch die NSDAP?
Befreit man den Imperativ des „Nie wieders“ von den geschichtspolitischen Mythen, die ihn seit jeher umranken, ist ein nüchterner Blick auf die Konjunkturen gesellschaftlicher (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewonnen. Dieser Blick bringt nicht nur mehr historische Klarheit, sondern stellt auch die Instrumente der „wehrhaften Demokratie“ auf den Prüfstand: Wer überprüft wen auf ‚Verfassungstreue’ und mit welchen Mitteln? Zum historischen Blick gehört also auch eine politikwissenschaftliche Perspektive. Denn der Schutz der bundesrepublikanischen Demokratie hängt davon ab, was oder wer als Ursache für das Scheitern der Weimarer Demokratie ausgemacht wird.
Der Beitrag untersucht die Genese des Weltkultur- und Naturerbes der UNESCO im breiteren Kontext der Auseinandersetzungen um eine Neujustierung der internationalen Ordnung in den 1960er- und 1970er-Jahren. Die politischen Debatten um die Definition und Auswahl eines „Erbes der Menschheit“ dienen als analytische Sonde, um Veränderungen im Verhältnis von Partikularismus und Universalismus auszuloten. Anhand exemplarischer Konfliktfälle wird gezeigt, dass sich das Kultur- und Naturverständnis zwischen 1950 und 1980 gravierend veränderte, so dass zwei konkurrierende Rationalitäten in das Welterbeprogramm eingingen. Zudem werden die Erwartungen analysiert, die sich an die neue Governance-Institution und ihren weltweiten Anspruch richteten. Aus beiden Aspekten lässt sich die ungleiche regionale Verteilung der Welterbestätten und das bis heute unausgewogene Verhältnis von Kultur- und Naturerbestätten erklären. Der Aufsatz leistet damit auch einen Beitrag zur Historischen Semantik der Begriffe „Kultur“, „Natur“ und „Erbe“ im 20. Jahrhundert.
Um Genaueres über die friedliche Revolution in der DDR zu erfahren, muss man nicht lange in Büchern suchen; für viele Fragen reicht der schnelle Klick ins Internet. Sofort stößt man auf eine Reihe deutschsprachiger Themenportale, die auf hohem Niveau Auskunft geben – sowohl über die Chronologie der Ereignisse vom Herbst 1989 in der DDR als auch über die Faktoren, die zum Umbruch führten. Einige dieser Portale bieten sogar eine große Fülle an Bildern und Dokumenten. Hier zusätzlich fremdsprachige Internetportale zu bemühen ist nicht unbedingt erforderlich.
Sprache formt die Wirklichkeit, in der wir leben. Diese Annahme bedeutet im Umkehrschluss, dass wir durch eine bewusste Nutzung von Sprache diese Wirklichkeit mitgestalten können. Dies ist ein grundlegender Gedanken vieler sozialer Bewegungen, so auch von trans* Bewegungen weltweit. Gerade für Personengruppen, die sehr lange abwertenden, stigmatisierenden und verletzenden Fremdbezeichnungen ausgesetzt waren oder es noch immer sind, spielt die selbstbestimmte Bezeichnung von Identitäten eine große Rolle. Gleichzeitig sind Selbstbezeichnungen komplex, vielfältig und ständig im Wandel, sodass der Versuch einer Beschreibung und Einordnung von Begrifflichkeiten immer eine lokal und zeitlich begrenzte Momentaufnahme bleiben muss. Dies gilt auch für den folgenden Versuch eines kurzen Überblicks über Begriffe, die seit dem letzten Jahrhundert für trans* Personen im deutschsprachigen Raum wichtig waren oder sind.
Umkämpfte Interaktionen. Flucht als Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen
(2018)
Seit 2015 macht sich eine Vielzahl von Männern, Frauen und Kindern in Italien auf den Weg, um die Alpen zu Fuß in Richtung Frankreich zu überqueren. Dazu reisen sie in der Regel über Turin mit dem Zug in das italienische Bardonecchia, warten dort den Einbruch der Dunkelheit ab und brechen anschließend zum Marsch über die Berge auf. Meist handelt es sich um Menschen aus Afrika, die bereits viele Wochen, wenn nicht Monate unterwegs sind und anders, als es die sogenannte Dublin-Verordnung vorschreibt, nicht in ihrem Ersteinreiseland Italien, sondern in Frankreich oder anderswo Fuß fassen bzw. Asyl beantragen wollen. Den strapaziösen und risikoreichen Weg über die Berge nehmen sie nicht zuletzt deshalb auf sich, weil sie der französischen Grenzpolizei (Police aux frontières, PAF) entgehen wollen, die seit den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris und St. Denis die französischen Staatsgrenzen erneut kontrolliert.
Bei der derzeitigen Deutung der 1970er-Jahre werden insbesondere die sozioökonomischen und soziokulturellen Veränderungen hervorgehoben, die mit der Ölkrise 1973 einhergingen. Demgegenüber unterstreicht der vorliegende Aufsatz die Umbrüche und Krisenreaktionen Ende der 1970er-Jahre. Insbesondere 1979 verdichteten sich zahlreiche globale Ereignisse, die Paradigmenwechsel bewirkten. Verdeutlicht wird dies für den Bereich der Energie- und Wirtschaftsgeschichte, den Wandel der Politik sowie im Feld der Kultur exemplarisch für die neue öffentliche Bedeutung der Religion und der Geschichte. Die markanten Ereignisse und längerfristigen Trends lassen sich zugleich als Ausdruck und Praxis der Globalisierung fassen: Weit entfernte Ereignisse wie der Atomunfall bei Harrisburg, der Machtwechsel in Nicaragua oder die Revolution im Iran führten auch in der Bundesrepublik zu neuen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern. Ein genauerer, transnationaler Blick auf die Jahre um 1979 eröffnet zudem zusätzliche Interpretationshorizonte für Kernfragen der Zeitgeschichte, die sich aus dem Umbruch 1989/90 nur bedingt beantworten lassen.
Als im Laufe der 1980er-Jahre überall in Südamerika Militärdiktaturen von demokratischen Regierungen abgelöst wurden, schürte das Erwartungen, endlich Genaueres über die unmittelbar zurückliegende Zeit der Repression zu erfahren. Vor allem während der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre waren die Regime mit großer Brutalität gegen die eigene Zivilbevölkerung vorgegangen. Schon damals hatten Menschenrechtsorganisationen Aufklärung gefordert; nun fragten sie mit neuer Vehemenz nach: Wo waren die Kommilitonen, Arbeitskollegen, Verwandten oder gar die eigenen Kinder geblieben, die am helllichten Tag in Autos gezerrt oder klammheimlich aus der Wohnung geholt worden waren? Wie viele Menschenleben hatten die staatlichen Repressionsmaßnahmen gefordert? Wer hatte sich an ihnen beteiligt? Im Kampf um Akten, die Aufschluss hätten geben können, standen sich nach wie vor die alten Lager gegenüber: auf der einen Seite die konservativen Eliten, die bereits unter den Militärdiktaturen gedient hatten und die in vielen Fällen ihre politische Laufbahn in den sich neu formierenden Parteien des rechten Spektrums fortsetzen konnten. Sie wollten die zurückliegende Epoche als berechtigten Kampf gegen die kommunistische Gefahr gedeutet sehen. An einer Freigabe von Akten aus der Zeit der Repression, die dieser Deutung zuwiderliefen, hatten sie kein Interesse. Auf der anderen Seite befanden sich ehemalige Dissidenten, Opferverbände, Menschenrechtsorganisationen und Publizisten. Sie suchten nach Beweisen, die die These von der Notwendigkeit der Repression widerlegten und mit deren Hilfe sich Forderungen nach Wiedergutmachungszahlungen und strafrechtlicher Ahndung der Verbrechen untermauern ließen.
Träume und Realitäten. Timothy Garton Ashs Reportagen über die „Refolution“ in Ostmitteleuropa
(2009)
Das Buch galt uns bei seinem Erscheinen als Geheimtipp – ein Werk nicht nur der genauen Analyse, sondern einer beeindruckenden Deutung. Für eine Interpretation des verwirrenden Geschehens, das wir erlebten, benötigten wir so etwas ganz dringend. Ich habe das Buch allerdings erst 1992 gründlich gelesen, zumindest steht in meiner Bibliothek die in jenem Jahr erschienene Taschenbuchausgabe. Die Seitenangaben im vorliegenden Text beziehen sich alle auf diese Ausgabe.
Unter denen, die vor der NS-Diktatur flüchteten, waren nicht wenige bildende Künstler/innen – so auch die deutsch-jüdische Bauhausfotografin Grete Stern (1904–1999), die 1935/36 nach Argentinien emigrierte. Trotz autoritärer politischer Tendenzen genoss sie dort deutlich mehr künstlerische Freiheit. Während der ersten beiden Amtszeiten des demokratisch gewählten Präsidenten Juan Domingo Perón (1946–1955), der sich vor allem in der staatlichen Kontrolle der Medien an den europäischen Faschismen orientierte, auf den sich wegen seiner Sozialpolitik jedoch auch linksgerichtete Bewegungen beriefen, veröffentlichte Stern in der Zeitschrift »Idilio« (»Idylle«) eine Serie von Fotomontagen. Nach einem Überblick zur peronistischen Kulturpolitik bildet die Einordnung dieser Montagen, die zusammen mit einer Traumdeutungs-Kolumne erschienen, den Schwerpunkt des Aufsatzes. In subtiler Weise kritisierte Stern soziokulturelle Missstände der Zeit. Zu einem ihrer Hauptthemen wurden die Geschlechterbeziehungen – ein Gebiet, auf dem sich das peronistische Regime nicht zuletzt in seiner umfangreichen Bildpropaganda rühmte, tiefgreifende Veränderungen hervorgebracht zu haben.
Trauer, Patriotismus und Entertainment. Das »National September 11 Memorial & Museum« in New York
(2016)
Downtown Manhattan, 15. Mai 2014: Mit einer würdevollen Feierstunde eröffnen Michael Bloomberg und Barack Obama – in Anwesenheit der nationalen und lokalen Politprominenz, von Überlebenden, Ersthelfern und Angehörigen der Opfer der Anschläge – das National September 11 Memorial Museum. Der Name der Institution am ehemaligen Standort des World Trade Centers (WTC) ist Programm: Sie soll zugleich Gedenkort und Museum sein. Die gemeinnützige Stiftung, die unter dem Vorsitz des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters Bloomberg und der Leitung des Managers und Juristen Joe Daniels die Einrichtung verantwortet, hat es sich zum Ziel gesetzt, diese zentralen erinnerungskulturellen Aufgaben an einem Ort zu vereinen. Hier soll der Toten und der Überlebenden der Anschläge gedacht und an die Ersthelfer erinnert werden, die in den USA als Helden gelten. Die Institution richtet sich an eine breite Öffentlichkeit und soll diese auch historisch-politisch über die Auswirkungen des Terrorismus informieren.
Wie für viele neue Staaten und »Entwicklungsländer« in der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg spielten transnationale Dynamiken des Wissenstransfers auch für das 1948 gegründete Israel eine wichtige Rolle. Eine geradezu staatstragende Funktion kam dabei der entstehenden Raumplanung zu. Die israelischen Planungseliten waren durch ihr Studium und durch Grundannahmen des »Social Engineering« eng mit der deutschen Wissenskultur und speziell mit der Raumordnung verflochten – auch über die Zäsur von 1945 hinweg. Der Aufsatz untersucht die Rezeption der Theorie »zentraler Orte« im Kontext des ersten, meist als »Sharonplan« bezeichneten israelischen Nationalplans von 1951. Die 1933 durch Walter Christaller publizierte Theorie hatte auch einen konzeptionellen Eckpfeiler des »Generalplans Ost« gebildet, den die SS bzw. der »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« (RKF) nach 1939 zur »Germanisierung« der eroberten Ostgebiete entwickelt hatte. Die Ambivalenz der israelischen Rezeptionslinie wird anhand der Biographien dreier Planer geschildert (Eliezer Brutzkus, Artur Glikson, Ariel Kahane).
Es ist ein bisweilen befremdlicher erster Eindruck, den das Apartheid-Museum in Johannesburg für seine Gäste bereithält – während die Besucherin am Kassenhäuschen des Museums, auf halbem Weg zwischen der Johannesburger Innenstadt und dem Township Soweto gelegen, auf ihre Eintrittskarte wartet, trägt der Wind fröhliche Schreie herüber; Ausdruck der Achterbahnfahrten im nur einige Meter entfernt liegenden Vergnügungspark „Gold Reef City“. Einzig ein weitläufiger Parkplatz trennt den Themenpark, der mit einer disneyfizierten Repräsentation des Johannesburgs um 1900 aufwartet, und das zugehörige Kasino vom Museumskomplex. Für viele war dies zunächst ein Affront, etwa für die südafrikanische Autorin Nadine Gordimer, die „die Würde des südafrikanischen Freiheitskampfes“ durch den Rummel verletzt sah, gleichzeitig jedoch einräumte: „ Tatsache ist aber, dass wir ein eigenes Apartheid-Museum zwar diskutiert, aber nie zustande gebracht haben.“ Gordimers Bemerkung führt direkt in die Verwicklungen der südafrikanischen Kultur- und Erinnerungspolitik, für die das hier besprochene Großprojekt beispielhaft steht. Denn es war in der Tat das profane Anliegen, eine Kasinolizenz zu erlangen, das das gewaltige Museum möglich machte: Der „Community“ etwas „Greifbares“ zu geben war Bedingung für die Erteilung von „Gambling Licences“ ab 1994. In diesem Fall brachte der taktische Schritt eines der am besten besuchten Museen des Landes hervor.
Zum 30. Mal jährte sich 2007 der „Deutsche Herbst“. Angesichts der gegenwärtigen Diskurse um Terrorismus und Innere Sicherheit besitzt das Thema eine doppelte publizistische Relevanz, auch wenn die Ereignisse des Jahres 1977 mit den gegenwärtigen Entwicklungen kaum vergleichbar zu sein scheinen. Dennoch kann ein Blick in die Literatur jener Zeit vielleicht neue historische und aktualitätsbezogene Erkenntnisse liefern.
Jillian Becker, geboren 1932 in Johannesburg und seit den 1960er-Jahren britische Schriftstellerin und Journalistin, veröffentlichte kurz vor der Entführung Hanns Martin Schleyers am 5. September 1977 ihr 300 Seiten starkes Werk „Hitler’s Children“. Die Resonanz auf Beckers Studie war in der Bundesrepublik immens, so dass das Buch nur kurze Zeit später ins Deutsche übersetzt, im Titel mit einem Fragezeichen versehen und von der Autorin um den Epilog des „Deutschen Herbstes“ bis zum Tod der „ersten Generation“ der RAF ergänzt wurde. Das Werk erhielt die Newsweek-Auszeichnung „Buch des Jahres 1977“ und wurde in acht Sprachen übersetzt. Becker hatte damit die erste fundierte und penibel recherchierte Zusammenfassung über den Baader-Meinhof-Terrorismus der 1970er-Jahre geliefert, was sie neben Analysen zur PLO für ihre politische Beratungstätigkeit der Thatcher-Regierung in den 1980er-Jahren qualifizierte.
Towards Another Concept of the State: Historiography of the 1970s in the USA and Western Europe
(2011)
After years of neglect, the 1970s have recently entered the array of academic interest. In the USA and in Western Europe a growing number of historians are finally pulling the decade out of the shadows of the 1960s and the 1980s. As can be expected in such an early phase of academic exploration, there is still littel that ties all publications about the Seventies together.
Im Jahr 1951 veröffentlichte Hannah Arendt ihr Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in dem sie den Nationalsozialismus auf der Ebene der Herrschaftsform mit dem Stalinismus verglich. Bei beiden handelte es sich aus ihrer Sicht nicht um herkömmliche Diktaturen, wie sie seit der Antike beschrieben worden sind, sondern um terroristische Regime, die den Kern allen politischen Handelns zerstören.
Spätestens seit Ende Februar steht die Frage im Raum, ob Putins Russland die Grenze von der gewöhnlichen zur totalitären Diktatur nicht längst überschritten hat. Wichtige Indizien dafür sind das Umlügen von Tatsachen, die Entwicklung einer neuen und im Kern imperialistischen Geschichtsideologie, und Putins Entschlossenheit, diese Ideologie mit allen Mitteln, auch mit brutalster Gewalt, "wahr" werden zu lassen.
Theory matters. Most historians would probably agree with this postulate, in the sense that theories from disciplines such as sociology, economics or psychology can sharpen historical analyses of any topic (though many of them may prefer quite pragmatic, common-sense approaches in their own empirical studies). But when it comes to a historical understanding of a phenomenon like marketization, theory does remain an analytical resource – and at the same time turns into a multifaceted object of research. The way we think about markets is highly affected by theorists, and not only by their ideas but also by their effectiveness in making them influential over specific periods of time.
Mit Theatre Europe veröffentlichte das britische Spieleunternehmen Personal Software Service (PSS) 1985 ein Strategiespiel, das innerhalb Europas für Furore sorgte. Die rundenbasierte Konfliktsimulation, in der die SpielerInnen entweder die Rolle der NATO oder die des Warschauer Pakts übernehmen, konfrontierte diese mit dem virtuellen Szenario eines „heißen“ Krieges in Mitteleuropa. Ziel des Spiels war es, die Bundesrepublik 30 Tage lang zu verteidigen (NATO) oder sie in derselben Zeit einzunehmen (Warschauer Pakt). Das Ausspielen des Konflikts im Rahmen des Mediums Spiel war keine gänzlich neue Erfindung: Auch das Computerspiel Reforger ’88: NATO Defense of the Fulda Gap von 1984 oder das Brettspiel Fulda Gap hatten dasselbe Thema zum Inhalt. Beide Titel wurden aber zunächst nur in den USA veröffentlicht. Folgerichtig war Theatre Europe eines der ersten Spiele, das eine öffentliche Debatte zu diesem Thema in Westeuropa auslöste. Im Jahr 1986 startete der Verkauf des Spiels in Frankreich, und auch den deutschen SpielerInnen sollte das Produkt nicht vorenthalten werden. In der Bundesrepublik wurde das Spiel jedoch noch vor Erscheinen von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert, sodass es keinen breiten Vertrieb fand. Erst im Jahr 2011 wurde Theatre Europe wieder vom Index genommen.
My Road to Berlin, or Mein Weg nach Berlin, presents a Willy Brandt that confounds a present-day reader’s expectations. While the 1960 autobiography of the then-mayor of West Berlin links his career with the familiar story of democracy’s development in Germany, this work nevertheless retains an unexpected edge. In one surprising scene, the mayor denounces his East Berlin SED counterparts as a ›Communist foreign legion‹ whom ›the citizens of my city had decisively defeated‹ during the Second Berlin Crisis of 1958 (p. 17). In the book, Brandt comes off as a Cold Warrior of steely determination rather than a Brückenbauer bridging ideological divides. Far from being out of character, however, My Road to Berlin captures Brandt at a pivotal moment in his career, when he sought to offer himself to both West German voters and a global public as a viable alternative to Konrad Adenauer.