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Dreißig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs findet die Transformationszeit um 1989 wieder verstärkte Aufmerksamkeit in der zeithistorischen Forschung. Zugleich sind transnationale und globalgeschichtliche Forschungsperspektiven nach wie vor ein Schwerpunkt innovativer Forschungsarbeiten. Umso erstaunlicher ist, dass beide Aspekte noch kaum miteinander verbunden sind – ein echtes „1989 transnational“ ist in der deutschen Zeitgeschichtsforschung (und auch darüber hinaus) bisher nur selten zu finden.
Stattdessen bewegen sich Forschungsarbeiten zum Umbruch 1989 zumeist im lokalen, regionalen oder nationalen (manchmal im deutsch-deutschen) Rahmen. Wenn einmal grenzüberschreitend geforscht wird, dann handelt es sich nicht selten um Forschungsarbeiten zu spezifischen Grenzregionen. Solche Arbeiten sind dann allerdings nicht selten in den Kulturwissenschaften und nicht in der Zeitgeschichte verortet.
Mit dieser disziplinären Trägheit vergibt die Zeitgeschichtsforschung eine große Chance: Denn wo, wenn nicht im Protestgefüge von 1989, das aufgrund seiner grenzübergreifenden Dynamik von Timothy Garton Ash als annus mirabilis bezeichnet worden ist, wird deutlich, dass ein Denken in national isolierten Kategorien häufig an den zentralen Fragen der modernen Geschichtsschreibung vorbeiführt?
Drei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 rücken deren oft nur schwer überschaubare Nachgeschichten mit Macht wieder ins Blickfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Fortbestehende Ost-West-Differenzen sowie populistische Wahlerfolge werden als Symptome einer noch immer nicht erreichten „Inneren Einheit“ gedeutet. Dementsprechend finden sich Behauptungen und Vermutungen über „Ostdeutsche“ derzeit wieder gehäuft – sei es in Talkshows, in Zeitungen, im Internet, auf Familienfesten oder auch am Stammtisch. Sehr schnell wird dabei die ostdeutsche Vergangenheit zur Erklärung gegenwärtiger Probleme sowie fortbestehender Differenzen herangezogen. Während ein Lager die mentalen Langzeitfolgen sowie das schwierige Erbe der repressiven SED-Diktatur hierfür verantwortlich macht, verweisen andere vehement auf die durch neoliberale Transformationsstrategien ausgelösten, schockartigen Umbruchserfahrungen nach 1990. Gerade jenseits dieser beiden geschichtspolitischen Pole lohnt ein differenzierter Blick auf die jüngste Vergangenheit. Die Frage steht im Raum, was die zeithistorische Forschung zu dem Thema Neues beitragen kann. In diesem Dossier wollen wir eine facettenreiche Bestandsaufnahme aktueller geschichtswissenschaftlicher Forschungen zu Beginn des erwartbaren Jubiläumsreigens 2019/20 wagen und eruieren, welche neuen Deutungsangebote es gibt. Zugleich geht der Blick über die eigene Disziplin hinaus, indem danach gefragt wird, was andere von der Geschichtswissenschaft erwarteten oder erhofften.
Nationalistische und rassistische Organisationen haben in der Bundesrepublik Tradition. Das gleiche gilt für den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen. (Neo)nazistische Organisationen und die gesellschaftlichen Reaktionen darauf können folglich auch aus einer historischen Perspektive betrachtet werden. Das müssen sie sogar, nimmt man das heute so selbstverständlich scheinende „Nie wieder!“ der „wehrhaften Demokratie“ beim Wort. Denn was sollte sich eigentlich nicht mehr wiederholen: der Zweite Weltkrieg, die antisemitische Vernichtungspolitik oder die Abschaffung der Weimarer Demokratie durch die NSDAP?
Befreit man den Imperativ des „Nie wieders“ von den geschichtspolitischen Mythen, die ihn seit jeher umranken, ist ein nüchterner Blick auf die Konjunkturen gesellschaftlicher (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewonnen. Dieser Blick bringt nicht nur mehr historische Klarheit, sondern stellt auch die Instrumente der „wehrhaften Demokratie“ auf den Prüfstand: Wer überprüft wen auf ‚Verfassungstreue’ und mit welchen Mitteln? Zum historischen Blick gehört also auch eine politikwissenschaftliche Perspektive. Denn der Schutz der bundesrepublikanischen Demokratie hängt davon ab, was oder wer als Ursache für das Scheitern der Weimarer Demokratie ausgemacht wird.
In den gegenwärtigen Debatten um den richtigen Umgang mit der AfD werden oft Vergleiche mit der Weimarer Republik angestellt, der es nicht gelang, den Aufstieg der NSDAP zu stoppen. Vergleichbar ist die Situation heute aber auch mit den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Alliierten und später auch die Deutschen den Aufstieg nationalistischer Parteien sehr wohl zu verhindern wussten. Die DDR mithilfe eines extrem repressiven Antifaschismus, der organisierten Nationalismus quasi verunmöglichte; die Bundesrepublik mit einer antinazistischen Sicherheitspolitik, die nur eine relativ kleine Gruppe von „echten Nazis“ ausschloss und den Rest der Rechten sozial und emotional zu integrieren versuchte. Dieser Beitrag skizziert, welche Arten des Umgangs mit der Gefahr von rechts es bis etwa 1960 speziell in Westdeutschland gab, wobei das Hauptaugenmerk auf der Ideologie und Praxis der alliierten und deutschen Sicherheitsbehörden liegt. Der Ausblick handelt von den Folgen der antinazistischen Sicherheitspolitik für die Demokratieentwicklung.
Umkämpfte Interaktionen. Flucht als Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen
(2018)
Seit 2015 macht sich eine Vielzahl von Männern, Frauen und Kindern in Italien auf den Weg, um die Alpen zu Fuß in Richtung Frankreich zu überqueren. Dazu reisen sie in der Regel über Turin mit dem Zug in das italienische Bardonecchia, warten dort den Einbruch der Dunkelheit ab und brechen anschließend zum Marsch über die Berge auf. Meist handelt es sich um Menschen aus Afrika, die bereits viele Wochen, wenn nicht Monate unterwegs sind und anders, als es die sogenannte Dublin-Verordnung vorschreibt, nicht in ihrem Ersteinreiseland Italien, sondern in Frankreich oder anderswo Fuß fassen bzw. Asyl beantragen wollen. Den strapaziösen und risikoreichen Weg über die Berge nehmen sie nicht zuletzt deshalb auf sich, weil sie der französischen Grenzpolizei (Police aux frontières, PAF) entgehen wollen, die seit den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris und St. Denis die französischen Staatsgrenzen erneut kontrolliert.
Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie Migration durch Statistik sozial relevant wird. Welche Kategorien kommen dabei zum Einsatz? Zuerst wird die historische und wissenssoziologische Perspektive erläutert. Im zweiten und dritten Teil werden historische Umbrüche in der Kategorisierung von Migration am Beispiel der amtlichen Statistik im Deutschen Kaiserreich und in der Bundesrepublik Deutschland skizziert. Der Fokus verschob sich von Migration als Ein- und Ausreisebewegung zu Migration als Alteritätszuschreibung (gestützt auf die Kategorie »Migrationshintergrund« ab 2005). Vor diesem Hintergrund wird im letzten Teil gezeigt, wie sich vergangene und aktuelle Kategorisierungen von Geflüchteten mit der Migrations- und Integrationssemantik verbanden bzw. verbinden. Über die Rekonstruktion der semantischen Brüche und Kontinuitäten hinaus dient die historische Kontextualisierung dem Ziel, heute gängige Kategorien für Migration und Flucht besser reflektieren zu können, die in der Wissenschaft, Politik und Verwaltung verwendet werden.
Während des Zweiten Weltkrieges flüchteten etwa 150.000 Europäer vor Krieg und Besatzung nach Großbritannien. Unter ihnen waren Angehörige der vormaligen europäischen Regierungen, Verwaltungen, politischen Eliten, Militärs und Königshäuser. Aus ihren Reihen bildeten sich Nationalkomitees und Exilregierungen, die die nationale Souveränität ihrer Länder trotz deutscher Besatzung aufrechterhalten und als Alliierte für einen gemeinsamen Sieg über Hitler eintreten wollten. Im Zentrum Londons lebten und arbeiteten sie in enger Nachbarschaft. Rechtlich betrachtet erreichten die Mitglieder der Exilregierungen London meist als individuelle Flüchtlinge; sie verließen die Stadt überwiegend als Angehörige anerkannter Regierungen. Eine genauere Untersuchung des »London Moment«, dieser formativen Phase europäischer Politik, bricht den vermeintlichen Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht auf und trägt so zur Reflexion über Flucht und Flüchtende bei. Der Aufsatz erläutert die Entwicklung des rechtlichen Status der Exilanten und folgt vier Fallbeispielen von der Ankunft zur Etablierung in London.
Das Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien 1947 zerteilte das Land nicht nur, sondern verursachte auch (jahrzehntelange) Migrationsbewegungen. In den Ostteil des neu gegründeten Pakistans migrierten urdusprachige Muslime, die der banglasprachigen Mehrheitsgesellschaft trotz gemeinsamer Religionszugehörigkeit überwiegend fremd gegenüberstanden. Als die Spannungen zwischen den ungleichen pakistanischen Landesteilen im Kampf um die Unabhängigkeit Ostpakistans eskalierten und daraus 1971 der neue Staat Bangladesch entstand, galten die Urdusprachigen als »Volksverräter« und verloren ihre Staatsbürgerschaft. Zum Teil bis heute leben sie mit ihren Nachkommen in mehr als 100 Flüchtlingscamps innerhalb des Landes. Der seit über 40 Jahren andauernde Wartezustand dieser Gruppe führt zu unterschiedlichen Strategien und Konflikten. Geschlecht, Bildung und besonders das Alter entscheiden über das Selbstverständnis der Campbewohner: Während sich die ältere Generation weiterhin für eine Repatriierung nach Pakistan einsetzt, fordern die Jüngeren verstärkt die bangladeschische Staatsbürgerschaft, die 2008 vom Obersten Gerichtshof des Landes formal anerkannt wurde. Dazwischen steht eine große Zahl Unentschlossener, die sich mit den Camps arrangiert hat. Der Aufsatz zeigt, dass weder Staatsangehörigkeit noch Staatenlosigkeit festgefügte Identitäten sind; Flüchtlingscamps sind zugleich Orte des Transits, der Vergemeinschaftung und der Stigmatisierung. Der praxeologische Ansatz des Diasporakonzepts bietet Zugang zu der perpetuierten migrantischen Situation der Urdusprachigen.
Bilder von Flüchtlingslagern rufen in der Regel emotionale Reaktionen, ja Bestürzung über die enormen Ausmaße dieser prekären Einrichtungen hervor. Manchmal führen sie gar zur Frage, ob und wie diese Orte überhaupt existieren können. Bei der Betrachtung von Fotos und der gesamten Bildwelt der Flüchtlingslager stellen sich spontan Assoziationen ein: materielle Not, eine offensichtlich nur provisorische Organisation der Räume, schwach ausgeprägte Spuren, die das Lager als Form von der natürlichen Umgebung und dem Boden kaum abheben. All dies vermittelt den Eindruck, dass morgen bereits verschwunden sein könnte, was uns heute vor Augen steht. Wir werden von einem Gefühl der Unwirklichkeit ergriffen, das mit der europäischen Geschichte verknüpft ist, mit den in Europa vorherrschenden Normen der Raumorganisation und den Lebensweisen des Westens. Dieses Gefühl legt eine bestimmte Einordnung nahe. Es mischt sich mit einer von den Themen Ausnahmezustand und Thanatopolitik geprägten Vorstellung des Lagers. Manche Sozialwissenschaftler/innen, Journalist/innen und Fotograf/innen haben sich von dieser stark vereinfachenden Repräsentation täuschen lassen und die Lager der Gegenwart vor dem Hintergrund der Shoah betrachtet. Global gesehen, ist die Wirklichkeit der Lager des 21. Jahrhunderts jedoch wesentlich komplexer und ambivalenter. Einerseits muss das Modell der Ausnahme relativiert werden durch die sowohl globale als auch lokale Kontextualisierung der Lager – selbst wenn sich die für die Sicherheit verantwortlichen oder humanitären Mächte gern von diesem Modell inspirieren lassen. Andererseits prallen im Alltag der Flüchtlingslager zwei unterschiedliche Zeitregime aufeinander, ereignet sich gleichsam ein Schock zwischen der Langsamkeit des Alltags der Ein-Gelagerten (encampés) und der von der humanitären Dringlichkeit bzw. der Brutalität der Sicherheitseinsätze verursachten Hektik und Betriebsamkeit (urgentisme). Aus diesem Grund sind Spannung und Ungewissheit stets Teil des Handelns, der Sinnzuschreibung solcher Orte und ihrer Zukunft.
Die Pyrenäen bilden eine natürliche Grenze zwischen Frankreich und Spanien, zwischen dem europäischen Hauptland und der iberischen Halbinsel. Dort, wo sie nicht in den Himmel ragen, in ihren Tälern und auf ihren Passhöhen sowie an den Meeren, waren die Pyrenäen auch stets eine tierra de paso, eine Transitzone. An ihren östlichen Ausläufern gibt es zwei bedeutende Übergänge. Einer liegt im sanften, flachen Tal von La Jonquera und quert die Landesgrenze bei Le Perthus. Der andere kreuzt an der Küste am Coll dels Belitres zwischen Cerbère (Frankreich) und Portbou (Spanien). Daneben und dazwischen durchziehen kleine Wege die Landschaft, offizielle und inoffizielle, Pfade für Schmuggler, Verfolgte, Fliehende. Jede Gegend und jede Route hat ihre Konjunktur. Die Hoch-Zeit dieser Transitlandschaft, als sich die europäische Kriegs- und Verfolgungsgeschichte des 20. Jahrhunderts an dieser Grenze kristallisierte, war zwischen dem Winter 1938/39, als der spanische Krieg mit dem Sieg Francisco Francos endete, und den Jahren 1940/41, bevor im Sommer 1941 die systematische Vernichtung der europäischen Juden begann.