1945-
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Die folgende Skizze verzichtet ganz auf normative Stellungnahmen. Wie man „gute“ Zeitgeschichte schreiben und welche Aufgaben sie haben sollte – solche Proklamationen sind eine allzu verbreitete Übung von Historikern, zumal sie ohne die Anstrengung empirischer Forschung von der Hand gehen. Stattdessen soll hier gefragt werden, inwieweit wir es uns überhaupt erlauben können, Diagnosen über Wandel und Kontinuität in der Zeitgeschichtsschreibung aufzustellen und daran Empfehlungen zu knüpfen, solange wir nicht auf empirisch gesichertem Grund stehen. Wohlgemerkt, es geht um Anfragen, nicht um Resultate oder Lösungen. Sind die oft behaupteten Tendenzen – zunehmende Marktabhängigkeit, Emotionalisierung, Internationalisierung, mangelnde Selbstreflexion der Zeitgeschichte, teleologische und gegenwartslegitimatorische Geschichtsschreibung à la Treitschke – typisch für die Zeitgeschichte? Vorausgesetzt, die Elemente des Merkmalskatalogs treffen überhaupt zu: Was davon betrifft die Zeitgeschichte, was die gesamte Geschichtsschreibung?
Seit einigen Jahren verdichtet sich auch in Deutschland das Gespräch über Herausforderungen und Perspektiven des digitalen Zeitalters für die Geschichtswissenschaft. Auf jedem Historikertag seit 2010 gab es mehrere Sektionen, die sich unterschiedlichen Facetten des Themas zuwandten. Es entstehen Fachpublikationen, Überblickswerke, Dissertationen und erste Ansätze, das Feld institutionell neu zu gestalten. Die Geschichtswissenschaft bemüht sich, produktiv auf die Veränderungen einzugehen. Punktuell ist es auch bereits zu einem Dialog mit Archiven und der Archivwissenschaft gekommen. So hat der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) 2015 unter Federführung der Vorsitzenden Eva Schlotheuber und Frank Bösch ein Grundsatzpapier verabschiedet, das sich der Quellenkritik im digitalen Zeitalter annimmt. Die Forderung, Elemente der Digital Humanities in die Historischen Grundwissenschaften zu integrieren, wurde seitdem noch weiter unterstrichen.
Angesichts des immensen Erfolgs dieses Films - 3,5 Millionen Besucher bis Ende Januar 2004 - fragen sich viele, warum der deutsche Sieg bei der Fußball-Weltmeisterschaft von 1954 nicht schon viel früher verfilmt worden ist. Dafür gibt es (mindestens) drei Gründe. Einer hat mit dem Genre „Fußball-Film“ zu tun, das in der Vergangenheit eine „imposante Schreckensbilanz“ (Ulrich von Berg) an der Kinokasse verursachte - man denke etwa an den Film „Libero“ von 1973, in dem immerhin Franz Beckenbauer mitspielte. Auch technische Gründe hatten den Regisseur Sönke Wortmann bisher von einem solchen Projekt abgehalten: Erst die heutige Computertechnik ermöglicht zum Beispiel die Animation einer Stadionatmosphäre zu vertretbaren Kosten. Hinzu kommt als drittes ein politisches Argument: In den 1970er- und 1980er-Jahren standen nationale Themenaspekte für die „Bonner Republik“ auf dem Index politischer Korrektheit. Hätte ein Filmschaffender in der Kohl-Ära das „Wunder-von-Bern“-Sujet aufgegriffen, wäre vermutlich mit Protestdemonstrationen „Gegen Revisionismus und Nationalismus“ zu rechnen gewesen - mit dem heutigen politischen Führungspersonal der „Berliner Republik“ an der Spitze, das bekennende Grünen-Mitglied Sönke Wortmann einträchtig untergehakt.
Dieser Aufsatz erklärt die enorme Resonanz von Günter Wallraffs Bestseller »Ganz unten« (Erstausgabe 1985) mit den emotionalen Bedürfnissen und der soziokulturellen Verfasstheit der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft. Das Buch artikulierte soziale Abstiegsängste während einer wirtschaftlichen Strukturkrise mit hoher Arbeitslosigkeit. Es präsentierte eine binäre Weltsicht, die die expressive Emotionskultur der 1980er-Jahre reflektierte. Die nahezu apokalyptische Darstellung der westdeutschen Industriegesellschaft und ihres menschenverachtenden Umgangs mit migrantischen (Leih-)Arbeitern stand im Einklang mit der Weltsicht eines wachsenden grün-alternativen Milieus. Im Gegensatz zur populären Erinnerung war das Buch jedoch kein Wendepunkt in der öffentlichen Repräsentation der türkischen »Gastarbeiter«, für deren Erfahrungen Wallraff nach seiner Undercover-Recherche als »Ali« zu sprechen schien. Vielmehr verdeutlichte »Ganz unten« massive Defizite im Umgang mit Differenz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1980er-Jahre, gerade auch auf der Linken. Nicht Wallraffs Buch, sondern die damalige, bisher vernachlässigte deutsch-türkische Kritik daran markiert eine historisch signifikante antirassistische Traditionslinie, die bis in die Gegenwart reicht.
This article analyses the enormous popularity of Günter Wallraff’s bestseller Ganz unten (first German edition 1985). It argues that the book’s success resulted primarily from the emotional needs and sociocultural conditions within West German majority society. The book articulated fears of social decline during an economic structural crisis with high unemployment. It presented a binary worldview that reflected the expressive emotional regime of the 1980s. The almost apocalyptic depiction of West German industrial society and its inhumane treatment of migrant (temporary) workers coincided with the worldview of a growing green-alternative milieu. Contrary to popular memory, however, the book was not a turning point in the public representation of Turkish ›guest workers‹, whose experience Wallraff claimed to speak for after his undercover research as ›Ali‹. Rather, Ganz unten highlighted massive deficits in dealing with difference in 1980s West German society, especially on the left. It is not Wallraff’s book, but the hitherto largely neglected German-Turkish critique of it that establishes a historically significant anti-racist tradition.
Anhand der bundesdeutschen Pharmawirtschaft, genauer der Unternehmen Bayer, Hoechst, Merck und Schering, wird gezeigt, dass die Bedeutung von Patentrechten für die Gesundheitsökonomie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich wuchs: Die Unternehmen erhöhten nicht nur die Anzahl von Patenten, sondern auch die Investitionen in immaterielles Vermögen erheblich. Die Kosten für Forschung und Entwicklung (F&E) überstiegen seit etwa Ende der 1970er-Jahre die Investitionen in Produktionsanlagen. Patente selbst avancierten zum Instrument, um unternehmensseitig den Wettbewerb zu beeinflussen. Das 1968 eingeführte »Stoffpatent« für neue chemische Verbindungen hatte dafür erweiterte Möglichkeiten geschaffen. Patent- und Lizenzabteilungen wurden zu wichtigen Orten unternehmensinterner Entscheidungsfindung. Zudem wurden die Forschungsleistungen hervorgehoben, um den Anstieg der Arzneimittelpreise zu rechtfertigen. Der Aufsatz leistet einen Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie und wann die bundesdeutsche Wirtschaft verstärkt zu einer »Intangible Economy« wurde. Er verdeutlicht, wie relevant geistiges Eigentum für die Transformation seit den 1970er-Jahren war – und damit für die Zeitgeschichte des Kapitalismus als Kombination von Vermarktlichung und Verrechtlichung, von globalem Wettbewerb und nationalstaatlicher Regulierung.
Längst beerdigt und doch quicklebendig. Zur widersprüchlichen Geschichte der »autogerechten Stadt«
(2017)
Das Automobil steht gegenwärtig wieder einmal im Brennpunkt breiter gesellschaftlicher Debatten um Themen wie Elektromobilität, Car-Sharing, »autonomes Fahren« und verwandte Fragen. Darin kommt ein tiefer Umbruch der automobilen Kultur zum Ausdruck. Wie Konflikte um Fahrverbote in den Innenstädten, den Abriss automobiler Infrastrukturen oder die Erweiterung autofreier Zonen zeigen, erfasst dieser Umbruch auch und gerade die (großen) Städte. Vor dem Hintergrund eines sich andeutenden Abschieds von der Automobilität der Hochmoderne in den metropolitanen Räumen Europas und Nordamerikas gewinnt auch die retrospektive Reflexion über Entwicklungslinien und Wendepunkte der Raumentwicklung im Zeichen des Automobils in »seinem« 20. Jahrhundert stark an Interesse. Dies gilt umso mehr, als der epochemachende Leitbegriff der »autogerechten Stadt« die Genese und die Probleme städtischer Automobilität mehr verdeckt als freilegt.
Stress ist als Begriff und Problem weit über die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte hinaus relevant; Stressdiskurse können als Sonde für breitere gesellschaftsgeschichtliche Konstellationen dienen. Eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Stress muss daher zum einen dem medizinisch-biologischen Konzept nachgehen, zum anderen dessen gesellschaftliche Funktionalität erfassen. Die Zeitgeschichte wird den Fokus besonders auf die sozioökonomischen Prozesse und die soziale Sinngebung richten. Gleichwohl gibt es ein nicht zu vernachlässigendes methodisches Grundproblem: Wie lässt sich eine Beziehung herstellen zwischen den biochemischen und psychologischen Dimensionen, die mit dem Stressbegriff verknüpft sind, sowie den komplexen sozialen Konfigurationen, die dieser Begriff rationalisieren soll? Was sind die Konstituenten und Selbstbeschreibungsmodi einer Gesellschaft, die sich durch Flexibilisierung und Regulierung gleichermaßen auszeichnet? In welchem Verhältnis stehen zudem die jüngere Entwicklung seit den 1970er-Jahren, in der Stress eine hohe Deutungsmacht erhalten hat, und die Überforderungsdiskurse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts?
In der Bundesrepublik und in der gesamten westlichen Welt außerhalb der USA wurde Auslandsbestechung bis Ende der 1980er-Jahre als ein legales Mittel der Exportförderung behandelt. Sie war straffrei und sogar steuerlich absetzbar. Das änderte sich erst im Zuge der »Compliance Revolution« der 1990er-Jahre. Der Beitrag analysiert diesen Wandel für die Bundesrepublik und untersucht die Debatten um die Auslandskorruption. Er konzentriert sich dabei auf die Positionen der Unternehmerschaft und der im Bundestag vertretenen Parteien. Ausgangspunkt ist der stabile Korruptionskonsens der Bonner Republik, der zunächst auch noch in der Berliner Republik Bestand hatte, dann aber unter dem Einfluss einer zunehmend kritischen Zivilgesellschaft und der internationalen Staatengemeinschaft zerbrach. Nachdem es unausweichlich geworden war, die Auslandskorruption zu ächten, wurde hartnäckig darum gerungen, mit welchen juristischen Mitteln sie zu bekämpfen sei. Am Ende eines von vielen Blockaden und Umleitungen verzögerten Prozesses stand ab 2002 die Strafbarkeit aller Arten von Auslandskorruption. Welche Ermittlungsinstrumente eingesetzt werden durften und wie effektiv die Strafverfolgung sein sollte, blieb jedoch weiter strittig. Der Aufsatz zeigt nicht zuletzt die Rückwirkungen internationaler Rechtsnormen für die nationalstaatliche Ebene.
Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich
(2021)
Der Aufsatz entwickelt eine Typologie von Deindustrialisierungsregimen in globaler Perspektive und setzt diese in Beziehung zu drei verschiedenen Arten des Erinnerns an Industrialisierung und Deindustrialisierung: antagonistisches, kosmopolitisches und agonales Erinnern. In welcher Weise und in welchem Maße waren und sind nostalgische Formen des Erinnerns in den unterschiedlichen Deindustrialisierungsregimen präsent? Anknüpfend an bisherige Forschungen wird dafür plädiert, Nostalgie nicht bloß als rückwärtsgewandtes, antiquarisches Sentiment zu betrachten, sondern ihr Potential für die Konstruktion von Zukunft zu erkennen. Zugleich wird versucht, die Theorie des agonalen Erinnerns, wie sie von der Historikerin Anna Cento Bull und dem Literaturwissenschaftler Hans Lauge Hansen entwickelt wurde, für die Deindustrialisierungsforschung fruchtbar zu machen. Der Aufsatz ist ein Diskussionsangebot, wie man die Erinnerung an das Industriezeitalter für unterschiedliche Weltregionen verflechtungsgeschichtlich und vergleichend untersuchen kann – sei es in Südwales, im Ruhrgebiet oder im Osten Chinas.