1945-
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Computerliebe. Die Anfänge der elektronischen Partnervermittlung in den USA und in Westeuropa
(2020)
Lange vor der Ära des Online-Datings begannen Heiratsagenturen und Partnerschaftsvermittlungen in den USA und in Europa den Computer einzusetzen, um die Märkte der »einsamen Herzen« zu erobern. Der Beitrag untersucht die Geschichte dieser elektronischen Kontaktvermittlung zwischen den 1950er- und den 1980er-Jahren. Wie änderten sich Vorstellungen von Liebe, Partnerschaft und Ehe im Zeitalter der »technokratischen Hochmoderne«? Und welche Rolle spielte der Computer dabei als »Elektronen-Amor« und »Matchmaking Machine«? Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte der Rechner zum »wissenschaftlichen« Werkzeug einer Optimierung des Privaten. Dabei reflektierte die Geschichte der elektronischen Partnervermittlung – von der »Eheanbahnung« bis zum »Single-Dating« – einen tiefgreifenden soziokulturellen Wandel. Allerdings gab es zugleich eine erstaunliche Persistenz tradierter Werte und Muster des Kennenlernens. So eröffnete das Computer-Dating einerseits gerade für Frauen neue Wege der Partnerwahl. Andererseits (re)produzierte es soziale, ökonomische, religiöse und kulturelle Trennlinien der Gesellschaft. Die »Algorithmen der Liebe« suchten vornehmlich nach Übereinstimmungen; sie schrieben dabei konventionelle Geschlechterbilder und soziale Rollenzuweisungen fort.
This article reassesses the emergence of human rights advocacy in 1970s West Germany from the perspective of memory politics. Focusing on the campaigns against political violence in South America, the article first traces the boom and bust of antifascist activism against the Chilean junta in the early 1970s. It then analyzes the displacement of abstract antifascist discourses by a more humanitarian human rights talk closely intertwined with concrete references to National Socialist crimes. Taking the perspective of grassroots advocates, this article explores how and why activists referenced the crimes of Nazism to defend human rights in the present. Finally, the article moves beyond the claim that human rights politics were minimalistic and even anti-antifascist, by showing how some human rights activists continued to think of themselves as antifascists. They infused antifascism with entirely new meanings by recovering the 20 July 1944 assassination attempt against Hitler as an acceptable example of anti-government violence.
Archive investieren mittlerweile sehr viel Geld in die Digitalisierung ihrer Bestände, um sie ihren NutzerInnen komfortabel online bereitzustellen. Mit dem Aufbau virtueller Lesesäle geht es nicht mehr um die schon traditionell zu nennende Form der Digitalisierung, bei der exemplarisch besondere Einzelstücke in Form einer Ausstellung online präsentiert werden, sondern es geht tatsächlich um die Bereitstellung von Archivgut zur wissenschaftlichen Auswertung im virtuellen Raum statt im analogen Lesesaal. Doch während Fördermittel in großem Stil beantragt und bewilligt sowie die technischen Rahmenbedingungen geschaffen und ausgebaut werden, finden inhaltlich-methodische Diskussionen in Deutschland bisher kaum statt. In Frankreich hingegen wird in Anlehnung an das vor 30 Jahren erschienene Buch von Arlette Farge der »Geschmack des Archivs« im digitalen Zeitalter debattiert, und in der Schweiz wird das klare Ziel verfolgt, dass der virtuelle Raum den analogen ersetzen soll. In skandinavischen Ländern ist dies sogar schon geschehen. Dabei ist es in Deutschland keine programmatische Festlegung, dass am traditionellen Lesesaal festgehalten wird, oder muss es zumindest nicht sein, weil die schiere Menge an analogem Archivgut noch für lange Zeit auch herkömmliche Lesesäle erforderlich machen wird. Umso schwieriger wird es in dieser Übergangsphase, die Konturen des virtuellen Raumes genauer zu fassen und zu klären, was eigentlich das Ziel der digitalen Bereitstellung sein soll: eine Art Add-on, ein gleichwertiges Nebeneinander oder eine neue Form der Quellennutzung?
In den letzten Jahren haben die Klagen über eine »Ökonomisierung« der Krankenhäuser in der Bundesrepublik ihren vorläufigen Höhepunkt erlebt. Anders jedoch, als es die aktuelle Diskussion nahelegt, handelt es sich dabei um keine plötzliche Entwicklung. Zu einem tieferen Verständnis der Gegenwart des bundesdeutschen Krankenhauses ist ein Blick auf den Wandel politökonomischer Leitkategorien nach dem »Strukturbruch« der 1970er-Jahre notwendig. Am Beispiel der im traditionellen Verständnis am Gemeinwohl orientierten Einrichtung Krankenhaus lässt sich die marktförmige Transformation öffentlicher Institutionen sogar paradigmatisch nachvollziehen. Der Aufsatz plädiert dafür, am Begriff »Ökonomisierung« analytisch festzuhalten, verdeutlicht aber auch, dass damit eine schubartige Entwicklung bezeichnet ist, die keineswegs allein die freie Entfaltung von Marktkräften forciert hat. Dafür steht etwa das umstrittene System der »Fallpauschalen«. »Plan« und »Markt«, so wird anhand der Krankenhausreformen der letzten 40 Jahre belegt, bildeten komplementäre Prinzipien einer neuen steuernden Regulierung.
1967 rückte der Palästinakonflikt in den Fokus der politischen Arbeit des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der diesen Konflikt im Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt deutete. Politischen Zuspruch erhielt der SDS von palästinensischen wie auch israelischen Studentengruppen, die in Frankfurt am Main ihr Wirkungszentrum hatten. Diese sich als antizionistisch verstehenden Akteure fanden in dem ebenfalls in Frankfurt sitzenden Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland (BJSD) einen Kontrahenten. Die Präsenz dieser zentralen Protagonisten transformierte das studentische Milieu im Frankfurter Westend zum bundesrepublikanischen Nukleus eines Deutungskampfes um die Geschehnisse im Nahen Osten. Eine sabotierte Veranstaltung mit dem israelischen Botschafter Asher Ben-Natan im Frankfurter Hörsaal VI am 9. Juni 1969 dient dem Aufsatz als Beispiel, um diesen Konflikt zu historisieren. Neben schriftlichen Quellen stützt sich der Beitrag auf Bildmaterial des Frankfurter Fotografen Kurt Weiner.
In den 1960er- und 1970er-Jahren führten die Satiren von Ephraim Kishon (1924–2005) die westdeutschen Bestseller-Listen an. Wie erklärt sich diese Resonanz des israelischen Autors gerade in der Bundesrepublik? Während Kishons Beliebtheit von deutschen Leser*innen (und von ihm selbst) vor allem als ironische Wendung der Geschichte bezeichnet wurde, versucht der Beitrag den publizistischen Erfolg im Kontext der frühen deutsch-israelischen Beziehungen genauer zu bestimmen, indem Akteure und Strukturen des literarischen Feldes betrachtet werden. Zum einen wird Kishons Rezeption in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund von Versöhnungsrhetoriken und Auseinandersetzungen um den jüdischen Humor interpretiert. Zum anderen beleuchtet der Beitrag die Bedeutung der beteiligten Zeitungs- und Buchverlage. Die Verlagshäuser Langen Müller (Herbert Fleissner) und Ullstein (Axel Cäsar Springer) spielten eine besondere, politisch hochgradig ambivalente Rolle. Während dieses Netzwerk Kishon vor allem als Unterhaltungsautor darstellte, äußerte er sich nach dem Sechstagekrieg 1967 immer wieder auch politisch in deutschen Medien. Kishon trug damit zu einer Politisierung bei, die bis in die Gegenwart die Rezeption israelischer Literatur in der Bundesrepublik prägt.
›1948‹ is a key concept in Israeli identity discourse. A signifier of the violent clashes that took place at the end of the British Mandate in Palestine (between the fall of 1947 and the spring of 1949), it encompasses both the foundation of a democratic Jewish nation-state and the destruction of numerous Palestinian communities during the Israeli ›War of Independence‹ and thereafter. The Nakba, the Palestinian catastrophe, could not be overlooked by Israel’s ›generation of 1948‹ and those that succeeded it: it was present in the deserted fields and houses now occupied by Israelis, in the names of the streams, hills and roads Israelis now visited during military drills or school field trips, and in the frequent encounters with Arab ›infiltrators‹ who sought to return to their abandoned homes and lands.1 The mass expulsion and the killings of Arab civilians by Jewish forces were regularly discussed and debated by Israeli politicians, intellectuals, journalists and artists in the ensuing decades.2 Yet with few exceptions, Israeli historians and politicians have seemingly effortlessly merged these atrocities with a commonly accepted ›narrative‹ by, for example, attributing them to rogue, marginal, right-wing militias; depicting cases of expulsion as sporadic and spontaneous events; or justifying them as ad hoc measures taken against the initiators of the violence during the war.
Als reale und symbolische Grenze zwischen Ost und West im Kalten Krieg hat die Berliner Mauer internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie ist historisch gut erforscht, und seit 2011 gibt es eine mehrfach prämierte Mauer-App, die Informationen über Bau und Verlauf der Mauer, über Fluchtversuche und das Grenzregime der DDR bietet. Die Jerusalemer Mauer – in weiten Teilen eher ein Stacheldrahtzaun –, erscheint dagegen als Marginalie: Sie markierte keine global bedeutsame Blockgrenze im Kalten Krieg, sondern »nur« die Grenze zwischen dem neuen jüdischen Staat und seinen arabischen Nachbarn. Ihre Lebensdauer war mit 19 Jahren auch kürzer als diejenige ihres Berliner Pendants. Seit die israelische Regierung 2002 mit dem Bau einer Mauer zwischen Jerusalem und dem palästinensisch verwalteten Westjordanland begann, ist diese erste Mauer weitgehend in Vergessenheit geraten.
Zu den drängenden Problemen der Historischen Grundwissenschaften gehört es heute, ein erweitertes Instrumentarium für digitale Quellengattungen zu entwickeln. Dabei ist das breite Feld der digitalen Informationstypen der Gegenwart, der sogenannten born digitals (also der genuin digitalen Objekte), noch nicht einmal vollständig in den Blick geraten.1 Dies liegt zum einen daran, dass sich das Quelleninteresse der Zeitgeschichtsforschung in wachsendem Maße auch auf frei im Netz zugängliche Ressourcen richtet.2 Das dort vorhandene Material ist von beachtlicher Vielfalt (und quellenkritischer Brisanz), was eine quellenkundliche Erfassung erschwert. Die mangelnde Durchdringung des digitalen Quellenkanons hat aber auch mit den im Umbruch befindlichen Fachaufgaben der Archive als »traditionellem Ort« der Geschichtsforschung zu tun. Denn die Archive haben in vielen Fällen erst in den letzten Jahren mit systematischen Übernahmen und der Bereitstellung digitaler Unterlagen begonnen. Dementsprechend stehen viele digitale Quellen aus Verwaltungszusammenhängen der Forschung noch gar nicht zur Verfügung. Gleichwohl werden sie für die spätere geschichtswissenschaftliche Erforschung unserer heutigen Gegenwart und jüngsten Vergangenheit von zentraler Bedeutung sein.
In den Jahren vor dem Sechstagekrieg entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland eine palästinensische Diaspora, die nach 1967 einen wichtigen Einfluss auf die Palästina-Solidaritätsbewegung im Land erhielt. Arabischsprachige Quellen wie zeitgenössische Presseartikel oder spätere autobiographische Reflexionen werfen dabei nicht nur ein Licht auf das Entstehen dieser Diaspora. Sie zeigen auch, wie die Verbindungen zwischen palästinensischen Gruppen und der radikalen Linken in der Bundesrepublik zu vielfältigen Transferprozessen führten. Seit den späten 1960er-Jahren zirkulierten Argumente, Parolen und Symbole zwischen Orten wie Beirut und Heidelberg, die sich bald in antizionistischen, zum Teil auch antisemitischen Publikationen und Protesten wiederfanden. Vor diesem Hintergrund plädiert der Aufsatz dafür, Archive im Nahen Osten stärker als bisher einzubeziehen, um die transnationalen und globalen Bezüge der deutschen Zeitgeschichte besser zu verstehen.
Geographisch und kulturell scheint der Nahe Osten von Deutschland weit entfernt zu sein. Historisch betrachtet ist dies ein Trugschluss, denn die dort virulenten Konflikte sind eng verflochten mit der europäischen Kolonialgeschichte, der Geschichte des Nationalsozialismus und der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte. Im Alltag sind sowohl der Nahostkonflikt als auch Frieden im Kleinen heute in vielfältiger Weise präsent: Während sich in Deutschland antisemitische und antizionistische, aber auch antimuslimische Angriffe häufen, serviert das von einem jüdischen und einem arabischen Israeli gemeinsam betriebene Berliner Restaurant Kanaan im Prenzlauer Berg »Hummus zur Völkerverständigung«. Das von Daniel Barenboim und Edward Said 1999 in Weimar gegründete West-Eastern Divan Orchestra, paritätisch mit israelischen und arabischen Musiker*innen besetzt, existiert nunmehr seit 20 Jahren und hat einen seiner Arbeitsschwerpunkte in Berlin. Unter den Menschen wiederum, die seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien nach Deutschland kamen, sind nicht wenige Nachfahren von Palästinenser*innen, die im Kontext der israelischen Staatsgründung aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet flüchteten oder vertrieben wurden.
Nichts Besonderes. Bundesdeutsche Rüstungsexporte nach Israel in der sozialliberalen Ära (1969–1982)
(2020)
Auf breiter empirischer Grundlage überprüft der Aufsatz das gängige Bild, aus historischer Verantwortung habe die Bundesrepublik Deutschland den Staat Israel schon immer besonders großzügig mit Waffen beliefert. Im Fokus steht die Rüstungsexportpolitik der sozialliberalen Bundesregierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Anhand interner Regierungsakten sowie auch internationaler Datenbanken der Friedensforschung wird in komparativer Perspektive untersucht, welche Rüstungstransfers von 1969 bis 1982 mit Bonner Zustimmung an Israel und andere Empfängerländer gingen. Der jüdische Staat, so zeigt sich, genoss als Abnehmer westdeutscher Militärware keineswegs eine bevorzugte Stellung – nicht einmal im Vergleich zu arabischen Ländern, mit denen er sich im Kriegszustand befand. Was den Bonner Kurs auf diesem Feld bestimmte, war nüchternes politisches und ökonomisches Eigeninteresse, nicht das Postulat, wegen des Holocaust gegenüber Israel in besonderem Maße verpflichtet zu sein. Der Befund sensibilisiert für die Brüche in der Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen, auch für die Zusammenhänge zwischen Erinnerungskultur und Außenpolitik, die in der Bundesrepublik erst ab Anfang der 1980er-Jahre stärker zum Tragen kamen.
The International Tracing Service archives offer process-generated documents from resettlement programs for displaced persons (DP) after World War II. This paper addresses two key challenges to ongoing research based on those archival holdings: the generation of data; and the visual representation of that data in geographic information systems. Digital history offers the opportunity to go beyond case studies and use the wealth of process-generated documents as se- rial sources for algorithm-based analysis. However, data in that form does not exist as such, and thus needs to be generated – a process that implies interpre- tative acts such as abstraction, normalization, and trans-coding, which are shaped by the character of digital media. Can modeling a DP’s life into a series of events, and digitally processing the resultant data, help to find out more about the agency of DPs negotiating their destiny with the authorities? If the mostly hidden and implicit configurations of digital knowledge production are thoughtfully considered and geostatistical analysis is combined with close readings of selected source documents, hermeneutic and quantitative ap- proaches can be reconciled via digital history. This mixed method approach has implications for research culture and the publication of such data.
Nostalgische Alltagserinnerungen an die DDR standen seit den frühen1990er Jahren unter dem Verdacht der Verharmlosung der SED-Diktatur. Obwohl diese sehr einseitige Sichtweise durch die Forschung mittlerweile weitgehend entkräftet ist und ein differenzierteres Bild von Erinnerung Einzug gehalten hat, fällt noch immer eine gewisse Exotisierung ostdeutscher Erinnerungspraktiken auf. Weitet man den Blick jedoch auf nostalgische Erinnerungen in westlichen Ländern, werden trotz einiger Unterschiede Parallelen sichtbar, die auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Ost und West verweisen und Erklärungsmuster für ostdeutsche Alltagserinnerungen in einem anderen Licht erscheinen lassen.
In beiden deutschen Teilstaaten gehörten die Rentenversicherungen zu den ersten Nutzern von Computern. Bereits seit Mitte der 1950er Jahre berechneten diese die Altersruhegelder im Westen, zehn Jahre später auch in der DDR. Die digitale Datenverarbeitung versprach große Rationalisierungs- und Beschleunigungseffekte. Gleichwohl führten die verschiedenen Staats- und Versicherungsformen zu einer unterschiedlichen Nutzung von Computern.
Die Studie von Thomas Kasper zeigt, unter welchen Bedingungen sich die elektronische Datenverarbeitung in der Sozialverwaltung durchsetzen konnte. Sie verdeutlicht, welchen bisher unbekannten Einfluss sie auf sozialpolitische Entscheidungen sowie auf die Arbeitsverhältnisse und den Datenschutz in beiden deutschen Teilstaaten hatte. Nach der Wiedervereinigung ließ nur die gemeinsame Nutzung der vorhandenen digitalen Strukturen die Zusammenführung beider Sozialsysteme gelingen.
In den Meisternarrativen der deutschen Zeitgeschichte spielt die Jugend als Vorhut kultureller und politischer Entwicklungen eine bedeutende Rolle. Neuere Gesamtdarstellungen des 20. Jahrhunderts differenzieren jugendliche Subkulturen, Konsumgewohnheiten, Bildungswege und politische Lager ausführlich. Die historische Entwicklung wird in diesen Erzählungen vorangetrieben durch die rechtsnationalen und antisemitischen Studenten der Weimarer Zeit, die jungen Funktionäre und Soldaten des Nationalsozialismus, die sich dem Westen zuwendenden jungen »Fünfundvierziger«-Eliten der 1950er- und 1960er-Jahre sowie schließlich die revoltierenden Jugendlichen von »1968«. Oft sind solche Narrative mit einem Generationenmodell verknüpft, das in Anlehnung an Karl Mannheim die Jugend als formative Phase und treibende Kraft historischer Veränderung versteht und diese vorwiegend als männlich und intellektuell definiert. Historiker/innen definieren damit Jüngere als den geschichtlichen Akteur »Jugend« und investieren stark in die Binnendifferenzierung dieser Gruppe.
Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich
(2021)
Der Aufsatz entwickelt eine Typologie von Deindustrialisierungsregimen in globaler Perspektive und setzt diese in Beziehung zu drei verschiedenen Arten des Erinnerns an Industrialisierung und Deindustrialisierung: antagonistisches, kosmopolitisches und agonales Erinnern. In welcher Weise und in welchem Maße waren und sind nostalgische Formen des Erinnerns in den unterschiedlichen Deindustrialisierungsregimen präsent? Anknüpfend an bisherige Forschungen wird dafür plädiert, Nostalgie nicht bloß als rückwärtsgewandtes, antiquarisches Sentiment zu betrachten, sondern ihr Potential für die Konstruktion von Zukunft zu erkennen. Zugleich wird versucht, die Theorie des agonalen Erinnerns, wie sie von der Historikerin Anna Cento Bull und dem Literaturwissenschaftler Hans Lauge Hansen entwickelt wurde, für die Deindustrialisierungsforschung fruchtbar zu machen. Der Aufsatz ist ein Diskussionsangebot, wie man die Erinnerung an das Industriezeitalter für unterschiedliche Weltregionen verflechtungsgeschichtlich und vergleichend untersuchen kann – sei es in Südwales, im Ruhrgebiet oder im Osten Chinas.
Einer der kühleren Sommertage im August. Durch eine kleine Passage erreiche ich Steibs Hof, wo früher mit Pelzen gehandelt wurde und heute das N’Ostalgie-Museum Leipzig seine Ausstellung zur »Alltagskultur der DDR« präsentiert. Am Eingangstresen, der zugleich als Bar des integrierten Cafés mit dem Namen »1:33« fungiert, begrüßt mich ein Mann: »Guten Tag. Wollen Sie Ihre Erinnerung auffrischen?« Noch bevor ich mein Ticket bezahlt habe, stellt er mir den »jungen Mann« vor, der all die hier präsentierten Objekte zusammengetragen habe. Das Porträt, auf das er weist, zeigt einen älteren Herrn in der Tür eines knallroten Wartburg 311. »In liebevoller Erinnerung« steht darüber, und unter der Fotografie: »Horst Häger. Geb. 24.11.1937, gest. 12.07.2011. Gründete 1999 das N’Ostalgie-Museum und hat über die Zeit bis 2011 alle ausgestellten Exponate zusammengetragen.« Wie ich erfahre, hat eine Enkelin Hägers das Museum 2016 aus Brandenburg an der Havel nach Leipzig überführt. Mit den Worten »Damit Sie wissen, wer Sie heute Abend ins Bett geleitet« überreicht mir der Mann an der Kasse meine Eintrittskarte, auf der das Sandmännchen abgebildet ist, und entlässt mich in die kleine Ausstellung. An diesem Vormittag bin ich die erste Besucherin, doch noch während ich die Objekte im Eingangsbereich betrachte, kommen weitere Gäste. Wie ich werden sie mit der Frage begrüßt, ob sie ihre Erinnerungen »auffrischen« wollen, was jeweils kurze Irritation auslöst. Fast rechtfertigend klingen die Antworten der beiden Paare: »Wir wollen gern das Museum besuchen« und »Wir würden uns gern umschauen«.
„La vie avant tout“ („Zuerst das Leben“) ist die Ausstellung im Versailler Museum Espace Richaud betitelt, die im Sommer/Herbst 2021 die Fotografien zeigt, die Willy Ronis 1967 in der DDR aufgenommen hat. Sie ist als Einladung zu verstehen, die Bilder eines der wichtigsten Repräsentanten der französischen Fotografie kennenzulernen. Ronis bereiste die DDR für einige Wochen und erarbeitete aus seinen Fotografien eine in Frankreich vielfach (nicht aber in Ost- oder Westdeutschland) gezeigte Ausstellung. Doch seitdem sind nur wenige dieser Bilder in der Öffentlichkeit zu sehen gewesen. Die aktuelle Versailler Exposition und der Katalog sind eine Rekonstruktion dieser Ausstellung nach mehr als fünfzig Jahren. Die Fotografien zeigen nicht nur den fotografischen Ansatz von Willy Ronis und seine Bildsprache, sondern sie erweisen sich bei näherer Betrachtung auch als zeithistorische Quelle und als widerspenstiges Dokument kultureller Aneignung auch jenseits des Kalten Kriegs.
Destination Vergangenheit. David Lowenthals Panorama geschichtskultureller Aneignungen (1985/2015)
(2021)
»The Past is a Foreign Country« ist ein Zentralmassiv der Heritage Studies, der Cultural and Historical Geography und der Public History. Das 1985 erschienene Buch nimmt populäre Zugänge und Formen der Bewahrung und Repräsentation der Vergangenheit in den Blick; dabei spannt es den Bogen von der Gegenwart bis zurück in die Renaissance. Lowenthal zitiert mit seinem Titel den britischen Schriftsteller Leslie Poles (L.P.) Hartley (1895–1972), der seinen Roman »The Go-Between« (1953) mit den Worten begann: »The past is a foreign country; they do things differently there.« Schon die Umschlagbilder legen eine Reise in ferne Vergangenheiten nahe und wecken zugleich den mit dem (Geschichts-)Tourismus verbundenen Exotismus, der aus dem Fremden ebenso wie aus dem Vergangenen das unberührt-unverfälscht Natürliche und Authentische macht. Die Destinationen, die Lowenthal bei seiner Reise in vergangene Geschichtskulturen aufsuchte, lagen vor allem im Vereinigten Königreich, in Nordamerika und im westlichen Europa. Das Buch durchzieht die These, dass alle populären Versuche, die Vergangenheit möglichst authentisch zu bewahren, zu rekonstruieren, darzustellen oder wahrzunehmen, auf die eine oder andere Weise zum Scheitern verurteilt sind, dass sich aber gerade aus der Formbarkeit der Vergangenheit ihre identitätsbildende Kraft erschließt.