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Es ist notwendig, ein kritisches Bewusstsein über die Rolle und Funktion von Bildern in antisemitischen Diskursen zu schaffen und durch die Vermittlung von Medienkompetenz antisemitische Kommunikation durchschaubar zu machen. Außerdem sollten durch historisierende Bildanalysen solche Elemente herausgearbeitet werden, durch die antisemitische Bilder von anderen visuellen Aussagen unterschieden und abgegrenzt werden können.
Auch der 2014 veröffentlichte Comic „Irmina“, um den es hier gehen soll, entworfen und gezeichnet von der Berliner Comic-Autorin Barbara Yelin, behandelt eine Familiengeschichte im Deutschland der 1930er- und 40er-Jahre. „Irmina“ basiert auf Tagebüchern und Briefen ihrer Großmutter, auf die die Autorin vor einigen Jahren gestoßen ist. Wie nah die Geschichte sich an diesen Aufzeichnungen orientiert, bleibt offen, deutlich wird aber, dass dem Buch ausführliche historische Recherchen zugrunde liegen. Dabei nutzt Yelin, wie ich darlegen möchte, genau jene Potenziale des Comics, die das Medium für die Geschichtsschreibung bereithält.
Historiker und Historikerinnen, zumal jene der jüngeren deutschen Geschichte, beschäftigen sich am liebsten mit Recht, wenn es nicht weh tut. Der Boom der Menschenrechtshistoriographie steht dieser Diagnose ebensowenig entgegen wie die Flut an Behördengeschichten der NS-Zeit. Beide Trends bestätigen vielmehr den Befund, versteckt sich hinter den Etiketten doch nicht selten eine klassische Politikhistorie, oft in der Gestalt einer Gesetzgebungsgeschichte, aufgelockert durch und verwoben mit ideen- und diskurshistorischen Elementen. Dies erlaubt es einerseits, sich von der etablierten, meist juristisch definierten Rechtsgeschichte abzusetzen, der vorgeworfen wird, zu einer sterilen Dogmengeschichte erstarrt zu sein. Andererseits hält man an tradierten Arbeitsteilungen fest: Die lästige, wiewohl notwendige Pflichtaufgabe, sich in die technischen Einzelheiten des Rechts zu vertiefen, darf aus der eigenen Zuständigkeit entlassen werden. Entsprechend begrenzt bleibt der wissenschaftliche Austausch: Rechtswissenschaftler/innen lesen historiographische Arbeiten als leichte Lektüre für den Hintergrund; Historiker/innen rezipieren die Studien ihrer juristischen Kolleg/innen als sprödes Fußnotenfutter. Dass der fächerübergreifende Kontakt zuletzt vor allem durch regierungsseitig initiierte Projekte über die NS-Belastung einzelner Ministerien und Behörden vorangetrieben wurde, bestätigt diese Beobachtung eher, als dass sie widerlegt würde.
As a photographer, artist and expert in geopolitics, Emeric Lhuisset has a remarkable understanding of human tragedies and areas of conflict. Through his projects in various areas of conflict he opposes the abridged representation of these tragedies; shows hidden aspects of wars; and invites us to re-think war through art. The work of Lhuisset takes up historical and political narratives in their context. The following two projects by Emeric Lhuisset recall tragedies and intervene in spaces where drastic events have taken place.
Milton Friedman hung up the phone in disgruntlement. The most influential economist of the postwar era had just called three different banks, one in Chicago and then two in New York, in order to initiate a financial transaction. He wanted to sell short $300,000 in pound sterling. Short selling is a technique for speculating on falling prices. Initially, speculators can only speculate on rising prices: they buy something and hope that it gains value, so that they can sell it at a profit. If the price for this asset goes down instead, the speculator incurs a loss when he resells it. So in order to profit from falling prices, speculators need to sell first and buy later – which is indeed possible if what is sold now is in fact only to be delivered a few weeks later. If the speculator is right and prices fall in the interim, he can buy cheap just before delivery is due and thus profit from having already sold what, at the time, he had not yet owned.
Der Artikel widmet sich aus medienwissenschaftlicher Perspektive der „televisiven Historiographie“ und speziell dem Format „Virtual History“, welches der Sender „Discovery Channel“ entwickelt hat. Dieses Sendeformat versucht mittels aufwändiger digitaler Techniken, Bildmaterial von historischen Ereignissen neu zu produzieren, das dennoch einer historischen „Realität“ entsprechen soll und als „authentisch“ deklariert wird. Ausgehend von der Annahme, dass das Fernsehen generell weniger dem Authentischen als dem Falschen und der Verfälschung verpflichtet ist, fragt der Artikel nach der „Indexikalität“ virtueller digitaler Fernsehbilder. Im Anschluss an Maurice Halbwachs’ Unterscheidung von Geschichte und Gedächtnis wird die These entwickelt, dass der klassische Film mit der Konstitutionslogik der Geschichte korrespondiert, während das Fernsehen ein paradoxes Gedächtnismedium ist: Indem es überall dabei (gewesen) sein will, unterläuft es die operative Gedächtnisfunktion, zwischen Erinnern und Vergessen zu unterscheiden.
Für ein Schreibprojekt, das vor nur gut elf Jahren ins Leben gerufen wurde, ist die Bilanz nicht schlecht: Die Wikipedia vereint heute 20 Millionen Artikel in über 280 Sprachversionen und wird von einer halben Milliarde Einzelnutzer im Monat konsultiert. Allein in der deutschsprachigen Variante sind pro Stunde anderthalb Millionen Seitenaufrufe zu verzeichnen. Die schiere Quantität dieser Nachfrage zeigt also, dass es offenbar einen enormen gesellschaftlichen Bedarf für einen freien Zugang zu strukturierten Informationen gibt. In diesem Zusammenhang wird häufig übersehen, dass es nicht allein die digitale Form ist, welche die Online-Enzyklopädie von ihren historischen Vorläufern in der Nachfolge Diderots unterscheidet. Die freie MediaWiki-Software wurde entlang einer Leitidee entwickelt, die den Grundgedanken des Zusammenwirkens vieler Beteiligter von der Open-Software-Bewegung auf die Vision einer globalen und zugangsoffenen Diskursgemeinschaft überträgt.
Als im Mai 2018 die „Süddeutsche Zeitung“ eine Karikatur des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu veröffentlichte, waren zahlreiche Leser*innen schockiert. Sie sahen in der Zeichnung einen Wiedergänger einer „Stürmer“-Zeichnung in einem Leitmedium der deutschen Presselandschaft. Andere konnten darin keinen Antisemitismus erkennen, sondern beurteilten die Zeichnung als israelkritisch, nicht jedoch als antisemitisch. Vor allem Tagespresse und soziale Medien führten diese Auseinandersetzung, mehrere Beschwerden gingen beim deutschen Presserat ein. In der medialen und presserechtlichen Auseinandersetzung wurde die jeweilige Klassifikation mit verschiedenen Argumenten begründet, ohne grundsätzliche Kriterien für die Beurteilung einer karikaturistischen Darstellung als antisemitisch oder nicht zu formulieren. Dies verwundert nicht: Skandalisierung bzw. Legitimierung waren die Ziele in den unmittelbaren Reaktionen auf die Karikatur und nicht eine möglichst differenzierte Auseinandersetzung.
Ein antisemitisches Gespenst im Advent. Der Adventskalender der „Deutschen Apotheker Zeitung“
(2019)
Mit einer Figur, die in Reinform klassische Merkmale des modernen Antisemitismus trägt, rechnet man im Adventskalender der „Deutschen Apotheker Zeitung“ (DAZ) zunächst einmal nicht. Hat sich ein Gespenst aus der Vergangenheit in die Gegenwart verirrt? Oder liegt das Problem im Auge der Betrachter*in, in einer Déformation professionelle, die in einer aktuellen Karikatur ein altes antisemitisches Bild sieht und so Vergangenheit und Gegenwart zu schnell in einen Topf wirft? Der Historiker David Nirenberg warnt in seinem Buch „Anti-Judaismus“ vor solchen vereinfachenden Kontinuitätserzählungen des Antisemitismus: „Wir wissen […], dass Historiker uralte Haken finden können, um darauf neue Hüte zu hängen.“ Betrachtet man jedoch den „DAZ-Adventskalender“ von 2019, hat man den Eindruck, die Apotheker*innen hätten den uralten Haken der Judenfeindschaft gefunden, um Probleme ihres Standes daran aufzuhängen.
Globalisierung/en
(2012)
Globalisierung ist in Wissenschaft und Feuilleton ein allgegenwärtiger Begriff. Angelika Epple diskutiert in ihrem Beitrag die wichtigsten Merkmale des Globalisierungsphänomens und bietet einen einführenden Überblick in die neuere Forschung. Das weit verbreitete Unbehagen am Globalisierungsbegriff macht sich bei den meisten seiner Kritiker daran fest, dass er eine lineare historische Entwicklung in der Tradition der Modernisierungstheorie impliziert. Epple plädiert deshalb dafür, den Begriff im Plural zu verwenden, da es sich um einen asymmetrischen und vielschichtigen Verflechtungsprozess unterschiedlicher Geschwindigkeiten handelt, der von Individuen und Kollektiven vorangetrieben, gebremst, transformiert und verändert werden kann.
Der einstmals weitverbreitete Zeitvertreib der Philatelie gilt – ob zu Recht oder zu Unrecht sei einmal dahingestellt – als verstaubte Sammelleidenschaft von Stubenhockern und Philistern. Übersehen wird indes, dass zwei prominente Wegbereiter der kulturwissenschaftlichen Wende in der Geschichtswissenschaft und somit auch der visual history zu dieser im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftretenden Spezies gehörten. Denn sowohl Aby Warburg als auch Walter Benjamin waren passionierte Briefmarkensammler.
Seit über neunzig Jahren wird über Inhalt und Reichweite des Faschismus-Begriffs gerungen. Fernando Esposito beleuchtet die Entstehung des italienischen Faschismus kursorisch und gibt einen Einblick in das Selbstverständnis der Akteure. Er stellt die Faschismusforschung im Zeichen des Kalten Kriegs vor, erörtert die Ansätze der neueren Faschismusforschung und ihre Themenfelder, um dann in einem abschließenden Fazit den Mehrwert des Faschismusbegriffs vor Augen zu führen.
This article will first examine the emergence of Italian Fascism and provide insight into Italian Fascists’ self-perception. Second, taking the contemporary conceptualizations of fascism developed by its Marxist, liberal, and conservative opponents as a starting point, this article reviews research on fascism during the Cold War. Third, the approaches taken by more recent research on fascism will be discussed and a survey of current fields of empirical work will be presented. A concluding section summarizes the usefulness of the concept of fascism.
Version 2.0: Beim Social engineering handelt es sich um einen transnationalen Versuch, gegen die vermeintlich zersetzenden Kräfte der Moderne mit künstlichen Mitteln eine natürliche Ordnung der Gesellschaft wieder zu erschaffen, indem eine, alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende, vernünftige soziale Ordnung entworfen wurde. Thomas Etzemüller zeigt in einer nun aktualisierten zweiten Version seines Beitrags, wie ein analytischer Zugriff auf den Begriff des social engineering hilft, spezifische Mechanismen, Wertungen und Taktiken im Umgang mit der Moderne zu verstehen und zu beschreiben.
Antikommunismus
(2017)
Mit der Ausbreitung des Kommunismus, mit der Diffusion von Ideologien und Bewegungen waren Abstoßungseffekte, d.h. die Entstehung von Gegenideologien und Gegenbewegungen verbunden. Der Beitrag von Bernd Faulenbach behandelt „Antikommunismus” als historische Kategorie. Er thematisiert zunächst seine Entstehung seit 1917, dann werden die Epochen des Antikommunismus dargestellt bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Kommunismus seit der Epochenwende 1989-91. Abschließend erörtert er den Forschungsstand und offene Fragen.
»[…] wenn ›die Quelle‹ die Reliquie historischen Arbeitens ist – nicht nur Überbleibsel, sondern auch Objekt wissenschaftlicher Verehrung –, dann wäre analog ›das Archiv‹ die Kirche der Geschichtswissenschaft, in der die heiligen Handlungen des Suchens, Findens, Entdeckens und Erforschens vollzogen werden.« Achim Landwehr wirft in seinem geschichtstheoretischen Essay den Historikern ihren »Quellenglauben« vor – diese Kritik ließe sich im digitalen Zeitalter leicht auf die Heilsversprechen der Apostel der »Big Data Revolution« übertragen. Zwar regen sich mittlerweile vermehrt Stimmen, die den »Wahnwitz« der digitalen Utopie in Frage stellen, doch wird der öffentliche Diskurs weiterhin von jener Revolutionsrhetorik dominiert, die standardmäßig als Begleitmusik neuer Technologien ertönt. Statt in der intellektuell wenig fruchtbaren Dichotomie von Gegnern und Befürwortern, »First Movers« und Ignoranten zu verharren, welche die Landschaft der »Digital Humanities« ein wenig überspitzt auch heute noch kennzeichnet, ist das Ziel dieses Beitrages eine praxeologische Reflexion, die den Einfluss von digitalen Infrastrukturen, digitalen Werkzeugen und digitalen »Quellen« auf die Praxis historischen Arbeitens zeigen möchte. Ausgehend von der These, dass ebenjene digitalen Infrastrukturen, Werkzeuge und »Quellen« heute einen zentralen Einfluss darauf haben, wie wir Geschichte denken, erforschen und erzählen, plädiert der Beitrag für ein »Update« der klassischen Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft. Die kritische Reflexion über die konstitutive Rolle des Digitalen in der Konstruktion und Vermittlung historischen Wissens ist nicht nur eine Frage epistemologischer Dringlichkeit, sondern zentraler Bestandteil der Selbstverständigung eines Faches, dessen Anspruch als Wissenschaft sich auf die Methoden der Quellenkritik gründet.
Eines seiner wohl berühmtesten Bilder ist zur Ikone geworden – zu einem jener Bilder, in denen Vergangenheit und Zukunft ineinander fallen: der gealterte Nelson Rolihlahla Mandela, der mit tiefen Falten und ergrautem Haar aus dem mit massiven Gitterstäben versehenen Fenster schaut. Den rechten Ellenbogen hat Mandela auf die Fensterbank gelegt, auf seiner linken Brusttasche fällt ein Emblem ins Auge. Das Bild ist 1994 entstanden. Offiziell ist Südafrika ein freies Land, und Mandela ist für das Foto in die Zelle auf Robben Island zurückgekehrt, in der er 18 seiner insgesamt 27 Jahre in Haft verbrachte. Der Fotograf Jürgen Schadeberg erinnert sich: „This was where he studied, did pushups and reflected on the goal of the liberation of his people. He looked out of the bars and when he thought I had finished taking pictures, relaxed somewhat, and turned around to smile.“ Die Photographers‘ Gallery in London hat dieses Foto als eines der fünfzig prägendsten Bilder des 20. Jahrhunderts gewählt.
Ziel dieses Aufsatzes ist es, Authentizität als medienwissenschaftliche Analysekategorie im geschichtsdokumentarischen Kontext zu konturieren und nach Besprechung der Referenzebenen und dem Umreißen von Authentizität als Textstrategie und Zuschreibungsphänomen diese als interdiskursive Analysekategorie beispielhaft an der Serie »14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs« zu erproben. Die derzeitigen Vorstellungen »authentischer« Geschichtsdarstellung im doku-dramatischen Bereich implizieren demnach sowohl personalisierende als auch depersonalisierende Strategien. Dabei sind die unter den Kategorisierungen zusammengefassten Merkmale, die im Zusammenhang mit der Serie »14« als »authentisch« verhandelt werden, nicht disjunkt, sondern konturieren die Authentizität über wechselseitige Verweisstrukturen. Und da Authentizität nicht über einen Parameter garantiert werden kann, sondern als Verhältnis von Faktoren und in der Synthese des Ensembles im Text zu untersuchen ist, entsteht eine längere Liste von Merkmalen, welche die Zuschreibung des Prädikats »authentisch« anregen, die allerdings selbst nicht als abgeschlossen zu begreifen ist.
In dem Forschungsprojekt „Künstlerische Strategien zur Befragung von Geschichtsbildern seit den 1990er Jahren“ geht es um den Erkenntnisbereich der Geschichte in der Kunst nach dem Ende des Kalten Kriegs. Es knüpft damit an die Tradition des Historienbildes an, das im 20. Jahrhundert seinen Niedergang erfuhr. Doch nach seinem Ende beschäftigen sich Künstler*innen in ihren Arbeiten weiterhin mit geschichtlichen Ereignissen aus Vergangenheit und Gegenwart – das Historienbild ist von noch genauer zu definierenden Geschichtsbildern abgelöst worden.
Der versäumte Abschied von der Volksgemeinschaft. Psychoanalyse und „Vergangenheitsbewältigung“
(2011)
Mit dem Essayband „Die Unfähigkeit zu trauern” legten Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 einen Schlüsseltext für die „Bewältigung” der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik vor. Der von dem Ehepaar gemeinsam verfasste Titelessay, der ein knappes Viertel des Buches füllte, brachte den seit den späten 1950er-Jahren zunehmend diskutierten moralischen Skandal der „unbewältigten” NS-Vergangenheit auf den – psychoanalytischen – Begriff. Dass das Buch über weite Strecken schwer lesbar war und ist, stand der raschen Verbreitung zumindest seines eingängigen Titels nicht entgegen. (...)
Wiederveröffentlichung von: Tobias Freimüller, Der versäumte Abschied von der Volksgemeinschaft. Psychoanalyse und „Vergangenheitsbewältigung“, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 66-70.
Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Ute Frevert bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Winter- und Sommersemester 2021/22 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Wie stellen sich aktuelle Tendenzen in der Zeitgeschichtsschreibung dar – im Vergleich mit dem auffällig gewachsenen Interesse literarischer Autoren für zeitgeschichtliche Themen? Welche Konvergenzen sind zu verzeichnen, und welche textsortenbedingten Differenzen bleiben? Sind die zeitgeschichtlichen Erzählmuster in diesem Umfeld vorwiegend konstant, oder gibt es strukturelle Veränderungen? Worauf lassen sich diese eventuell zurückführen?
Der Erste Weltkrieg ist auch ein Krieg der Bilder, genauer: ein Krieg, in dem erstmals das Medium der Fotografie massenhaft eingesetzt wurde. Schon der „begeisterte“ Abmarsch der deutschen Truppen Anfang August 1914[1] wurde in unzähligen Aufnahmen dokumentiert. Dabei war die Bildberichterstattung stark der Zensur unterworfen. Alle Kriegsparteien hatten zu Beginn oder während des Kriegs eigene Presse- oder Propagandabüros eingerichtet. Die Kriegsberichte und die Fotografien wurden extrem für propagandistische Zwecke eingesetzt; viele Bilder von der angeblichen Front waren zudem gefälscht bzw. in der Heimat nachgestellt worden. Der Krieg war also auch zu einem Medienkrieg geworden. Andererseits blieben die Kriegsaufnahmen nicht mehr auf Bildjournalisten, Fotografen und Propagandaabteilungen beschränkt. Einige Soldaten besaßen inzwischen Kleinbildkameras und dokumentierten ihre Kriegserlebnisse mit eigenen Fotoapparaten.
Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Benno Gammerl bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
(Version 1.0, siehe auch Version 2.0)
Keine Epoche und kein Gegenstand der Zeitgeschichte ist vor transnationalen Fragestellungen sicher, gleich ob wir im Falle Deutschlands über die die alte Bundesrepublik, die DDR, Weimar, den Nationalsozialismus oder das Kaiserreich forschen. Auch für Europa stellt sich die Frage, ob dieses sich „transnational schreiben” lässt.
Keine Epoche und kein Gegenstand der Zeitgeschichte ist vor transnationalen Fragestellungen sicher, gleich ob wir im Falle Deutschlands über die die alte Bundesrepublik, die DDR, Weimar, den Nationalsozialismus oder das Kaiserreich forschen. Auch für Europa stellt sich die Frage, ob dieses sich „transnational schreiben” lässt.
Als der Verfasser dieses Textes 2009 seine Dissertation abschloss, lagen insgesamt 49 World Press Photos of the Year vor. Seit 1955 waren sie durch eine in den Niederlanden ansässige Stiftung mit unablässigem Einsatz aus der immer größer werdenden Flut von Einsendungen herausdestilliert worden. Dass 2014 mehr als 5000 professionelle Fotografen rund 100.000 Fotos zur Begutachtung einsandten, illustriert den enormen Stellenwert dieses eigentlich impertinenten Preises. Steht es einem Foto tatsächlich zu, das Pressefoto des Jahres zu sein? Kann es in seiner endlichen Anzahl von Bildelementen die theoretisch unendliche Komplexität eines Jahres dahingehend verdichten, einen absoluten Bezugspunkt in der retrospektiven Betrachtung seiner Zeit zu verankern? Und lassen sich darüber hinaus überhaupt nachvollziehbare Maßstäbe für die Wahl eines Pressefotos des Jahres formulieren, die sich zumindest nachträglich aus der Analyse des Materials ableiten lassen?
Zeitgeschichte neurodivers? Standpunktepistemologie und (geschichts-)wissenschaftliche Kommunikation
(2022)
In der akademischen wie der breiteren Öffentlichkeit ist der Begriff der Diversität gegenwärtig nahezu universal anschlussfähig. Der Gründungsdirektor des Göttinger Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften Steven Vertovec stimmt gar Loretta Lees zu, die schon 2003 bemerkte, mit Diversität verhalte es sich wie mit Mutterschaft oder Apfelkuchen: Man könne nur mit größeren Schwierigkeiten dagegen sein. In den letzten dreißig Jahren ist Diversität zunächst in den USA und dann auch in Westeuropa sowohl als sozialwissenschaftliche Analysekategorie wie auch als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und zur Aushandlung von Teilhabeansprüchen immer bedeutsamer geworden. Diversität ist das normative Leitbild staatlicher und internationaler Antidiskriminierungsprogramme, die, wie etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 in der Bundesrepublik, »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität […] verhindern oder […] beseitigen« sollen (§ 1). Das öffentliche Bekenntnis zu Diversität ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit in Unternehmen und Organisationen, die oft Strategien des Diversitätsmanagements entwickeln. Der Ursprung dieser gesellschaftlichen Diversitätsbejahung liegt in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, der zweiten Frauenbewegung, aber auch der Gay-, Lesbian- und Transgender-Bewegung sowie der Behindertenrechtsbewegung, die vor allem seit den 1970er-Jahren in den USA und in Westeuropa für die Anerkennung ihrer marginalisierten und diskriminierten Subjektpositionen stritten.
Zeit ist eine der grundlegendsten Kategorien der Geschichtswissenschaft. Rüdiger Graf widmet sich dem Begriff und Phänomen der Zeit zunächst anhand von neueren Theorien über die Zeit in unterschiedlichen Wissensfeldern. Ausgehend von sprachanalytischen Überlegungen hält er fest, dass die Geschichtswissenschaft sich stärker als bisher mit dem Zusammenhang von vergangenen Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukunftsvorstellungen beschäftigen sollte. Die zentrale Aufgabe einer Zeitgeschichte als einer Geschichte unserer Zeit besteht für ihn darin, zentrale Deutungen der Zeit nicht einfach zu reproduzieren, sondern sie vielmehr zu historisieren und zugleich als Faktoren in und für den Wandel der Zeit miteinzubeziehen.
(Version 1.0, siehe auch Version 2.0)Zeit ist die grundlegendste Kategorie der Geschichtswissenschaft. Historikerinnen und Historiker untersuchen, so könnte man in erster Annäherung formulieren, Wandel in der Zeit; ohne Zeit bzw. eine bestimmte Konzeption von Zeit gäbe es keine Vorstellung von Geschichte und damit auch keine wissenschaftlichen Versuche, sie zu erfassen. Auch wer behauptet, nicht Wandel, sondern Zustände zu untersuchen, interessiert sich für diese als Bedingungen für Wandlungsprozesse.
While Crises are omnipresent in history and historiography, the meaning of the concept of „Crisis“ is becoming more elusive than ever. The new article by Rüdiger Graf and Konrad H. Jarausch scrutinizes how historians use the concept with respect to contemporary history, the twentieth century, and modernity in general. After briefly sketching the conceptual history of "crisis," the article addresses the questions of how the concept structures historiographical narratives, what types of crises historians distinguish, and, considering its vagueness, suggestive power, and political instrumentalization, if we should retain the concept or refrain from using it.
Nimmt man Fritz Fischers Buch heute wieder zur Hand, so versteht man kaum die Aufregung, die es bei seinem Erscheinen ausgelöst hat. Minutiös und in gedrängter Form untersuchte der Hamburger Neuzeithistoriker auf fast 900 Seiten ebenso erschöpfend wie ermüdend die Kriegszielprogramme der zivilen und militärischen Reichsleitung sowie einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen des deutschen Kaiserreichs während des Ersten Weltkriegs. (...)
Wiederveröffentlichung von: Klaus Große Kracht, „An das gute Gewissen der Deutschen ist eine Mine gelegt“. Fritz Fischer und die Kontinuitäten deutscher Geschichte in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 66-70.
Religionsgeschichte
(2018)
Religion gibt es immer nur im Plural ihrer konkreten empirischen Ausprägungen. Das gilt auch für die Religionsgeschichte als wissenschaftliche Praxis. Betrieben wird sie zumeist als Erforschung konkreter Glaubensgemeinschaften. Die Grenzen dessen, was noch sinnvoll als „Religion“ bezeichnet werden kann, sind dabei fließend. Klaus Große Kracht zeigt auf, welche Ansatzpunkte sich für eine zeithistorische Religionsforschung anbieten, die sich selbst als Teil einer „Problemgeschichte der Gegenwart“ versteht.
Comics begleiten die Menschen weltweit schon seit mehr als 100 Jahren in verschiedensten Formen, sei es als Strip in Zeitungen, als klassisches Comic-Heft, als Album und „graphic novel“ oder nunmehr auch in digitaler Form im Internet. Sie sind nicht nur Unterhaltung, sondern immer auch Spiegel unserer Gesellschaften. Als historische Quelle wurden sie jedoch erst relativ spät entdeckt. Wie mit ihnen als Quelle umgegangen werden kann, wird im folgenden Artikel beleuchtet, indem in chronologischer Folge an ausgewählten Beispielen ihre Potenziale als text-bildliche Quelle vorgestellt werden.
Verfassungsgeschichte
(2020)
In seinem Beitrag befasst sich Christoph Gusy mit der Disziplin „Verfassungsgeschichte“, die als Teildisziplin der Rechtsgeschichte von der Geschichts- und Rechtswissenschaft betrieben wird. Die Geschichte der Verfassungen behandelt zentrale Normen der Legitimation, Organisation und Ausübung hoheitlicher Gewalt, die so erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gelten. Für die Verfassungsgeschichte gilt dementsprechend: Sie versteht sich ganz überwiegend als „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“. Dies ermöglicht und erschwert zugleich die Herausbildung einer Zeitgeschichte der Verfassungen.
Verfassungsgeschichte
(2010)
Verfassungsgeschichte begreift sich als Teildisziplin der Rechtsgeschichte. Spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert steht sie im Schnittpunkt von Geschichts- und Rechtswissenschaft und wird von beiden Disziplinen betrieben. Ihr Gegenstand sind zentrale Normen der Legitimation, Organisation und Ausübung hoheitlicher Gewalt (= Verfassungen im materiellen Sinne), insbesondere die diesbezüglichen ranghöchsten Regelungen in den Rechtsordnungen (= Verfassungen im formellen Sinne).
Version 1.0: Theorie ist ein genuines Element des Forschungssettings wissenschaftlicher Erkenntnisarbeit. Der Begriff wird heute in verschiedenen, sich teils widersprechenden Definitionen verwendet. Mit dem jeweiligen Theorieverständnis verbunden sind Grundentscheidungen über Form und Anwendungspraxis wissenschaftlicher Methoden.
Version 2.0: Theorie ist ein genuines Element des Forschungssettings wissenschaftlicher Erkenntnisarbeit. Der Begriff wird heute in verschiedenen, sich teils widersprechenden Definitionen verwendet. Mit dem jeweiligen Theorieverständnis verbunden sind Grundentscheidungen über Form und Anwendungspraxis wissenschaftlicher Methoden.
Beim Umgang von Historikerinnen und Historikern mit dem Netz können wir einen interessanten Wandel beobachten: Grundsatzkritik an der Verwendung des Netzes in geschichtswissenschaftlicher Lehre und Forschung findet sich kaum mehr. Noch vor gut zehn Jahren war das anders. Da waren die Bedenkenträger nicht zu überhören, die das Netz für die (Geistes-)Wissenschaften als unnütz und unnötig einstuften und entschlossen waren, dieses vermeintlich kurze technische Intermezzo auszusitzen – Vertreter vor allem der älteren Generation, die sich schon mit der Einführung des Personal Computers seit den 1980er-Jahren schwertaten. Heute geht es vielmehr um die Frage, in welchen Bereichen und mit welchen Fragestellungen das Netz in den Forschungs- und Lehralltag zu integrieren ist.
Ist Facebook eine zeithistorische Quelle, und wer archiviert die Tweets der Politiker? Wie nutzt man digitale Quellen, und wie verändert sich die Quellenkritik, wenn die Kopie sich vom Original nicht mehr unterscheiden lässt? Seit Beginn der 2010er-Jahre wird unter dem Stichwort „Digital Humanities” insbesondere im angelsächsischen Raum eine intensive Debatte über neue Potenziale für die Geisteswissenschaften geführt: Peter Haber zeichnet in seinem Beitrag die Entwicklung der Digital Humanities nach und fragt, ob sich mit der Digitalisierung nicht nur die Qualität und Quantität der Quellen, sondern auch der gesamte Arbeitsprozess von Zeithistoriker/innen verändert hat.
Wenn Historiker/innen das NS-Regime als „charismatische Herrschaft“ bezeichnen, dann legen sie ihren Ausführungen explizit oder implizit ein Modell zugrunde, das der deutsche Soziologe Max Weber entwickelt hat. Rüdiger Hachtmann stellt das Modell vor und zeigt die Grenzen und Defizite des Idealtypus „charismatische Herrschaft“ sowie seiner Anwendung auf die NS-Herrschaft auf, würdigt zugleich aber auch Webers Verdienste. Ausgelotet wird schließlich, inwieweit die Forschung daran in der Zukunft anschließen kann.
Der Artikel von Rüdiger Hachtmann beleuchtet die Genesis der Polykratie-Theorie – zentral sind dabei die Thesen Franz Leopold Neumanns im Rahmen seiner bahnbrechenden Untersuchung „Behemoth“ –, nimmt die einzelnen Elemente der mit dem Begriff „Polykratie“ verbundenen Überlegungen zur Struktur des NS-Herrschaftssystems kritisch in den Blick und diskutiert deren Defizite.
Fordismus
(2011)
Der „Fordismus” prägte das 20. Jahrhundert maßgeblich und nachhaltig. Doch blieben die Konturen des Begriffs und die hinter ihm stehenden Konnotationen zumeist unscharf. Rüdiger Hachtmann beschreibt die Konzepte und ideologischen Grundhaltungen des Namensgebers Henry Ford sowie die Rezeption des Begriffs und arbeitet dessen wichtigste Bedeutungsebenen heraus. Der besondere sozial- und mentalitätsgeschichtliche Stellenwert des Fordismus und seine Formwandlungen erlauben es, langfristige wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Trends und Dynamiken präziser in den Blick zu nehmen – in einem Jahrhundert, das nach Hachtmann als „fordistisch“ bezeichnet werden kann.
Seit 1. August 2013 ist Dr. Miriam Halwani Leiterin der fotografischen Sammlung des Museum Ludwig in Köln. 1977 gegründet, ist die Sammlung eine der größten ihrer Art in Europa. Sie umfasst Bestände von frühen Daguerreotypien aus den Sammlungen Agfa und Lebeck über Reisefotografien, Werken der russischen Avantgarde bis hin zu zeitgenössischen Fotografien. Zeit für ein Gespräch mit der Kunsthistorikerin, die bereits für ihre Dissertation zur „Geschichte der Fotogeschichte 1839-1939“ intensiv in den Kölner Beständen recherchierte.
Gegenbilder
(2020)
Wo Worte gesprochen werden, gibt es meist auch Widerworte. Wo Erzählungen gesponnen werden, formen sich Gegen-Narrative. Und so gibt es selbstverständlich zu bildlichen Aussagen auch Gegen-Bilder: Bilder, die in Form, Inhalt und Gebrauch auf andere Bilder reagieren, indem sie diese in Frage stellen oder ihnen widersprechen. Bilder, die als generative Kräfte im historischen Prozess wirken. Oder aber Bilder, die marginalisiert beziehungsweise gar nicht gezeigt wurden und erst zu einem späteren Zeitpunkt ein bislang herrschendes Narrativ in Frage stellen können.
Im Zuge von Handelsreisen, Verwaltungstätigkeiten und Forschungsexpeditionen entstanden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Fotografien in kolonialistisch-eurozentrischen Kontexten, die das Leben der Bewohner*innen der bereisten Gebiete „als Fremdbilder […] vermittelt durch die vielfältigen Mechanismen der Distribution und des Konsums“ darstellten. Manche bilden eindeutig erkennbar inszenierte Szenen wie Gruppenporträts, Kampfgeschehen oder arrangierte Studioaufnahmen ab, andere hingegen suggerieren, dass die Fotografien spontan im Feld aufgenommen wurden.
Zeigen / Nichtzeigen
(2020)
Der Ausgangspunkt dieses Textes ist die Frage nach dem Zeigen oder Nichtzeigen von Bildern in Online-Ressourcen aus wissenschaftsethischer Sicht (der Ethnologien). Wobei das konkret zu problematisierende Material vorwiegend aus Fotografien von Menschen aus ethnologischen Forschungskontexten bis mindestens zur Mitte des 20. Jahrhunderts besteht, jedoch auch auf weitere Bildkontexte im Zeitalter des Kolonialismus/Imperialismus übertragen werden kann. Gleichzeitig soll auch die Perspektive einer Infrastruktureinrichtung beleuchtet werden, die für die ethnologischen Fächer Literatur im Rahmen der sogenannten Massendigitalisierung frei zur Verfügung stellt. Dieses fotografische Material wirft Fragen allgemeiner ethischer Natur (Menschenwürde) sowie zum Opferschutz, zu Persönlichkeitsrechten, aber auch zu Rassismus, Selbstrepräsentation und den repräsentierten Machtverhältnissen auf, die in einem separaten Beitrag von uns detaillierter besprochen werden.
Biografie ist ein literarisches und wissenschaftliches Genre, das erst durch theoretische und methodische Reflexionen zu einem konzeptionellen Ansatz der Geschichtswissenschaft wird. Levke Harders beginnt ihren Beitrag mit einer Übersicht zur Entwicklung der Biografik in den (deutsch- und englischsprachigen) Geschichtswissenschaften, thematisiert anschließend die Popularität (sowie die Grenzen) des Genres und stellt einige aktuelle Forschungsfelder der Biografik vor, die sich „neuen“ Subjekten und Themen widmen.
Fotografien sind in ihrer Bildaussage nicht eindeutig. Sie geben nicht „die Realität“ wieder, sondern einen Augenblick, fotografiert aus einer ganz bestimmten Perspektive, mit einer ganz bestimmten Intention. Wir sollten uns Fotografien systematisch nähern, um diese Perspektiven zu erkennen, um den historischen Kontext und den persönlichen Hintergrund des Fotografen/der Fotografin zu verstehen. Dabei hilft es, sich zwei Fragen zu stellen: „Was sehen wir?“ und „Was sehen wir nicht?“
In wenigen Jahren ist ein breiter und differenzierter Markt für Geschichte entstanden, auf dem gelernte Historiker mit unterschiedlichen Studienwegen und Ausbildungsintensitäten sehr gute Chancen haben. Eine neuerdings boomende private Kulturwirtschaft braucht Kulturunternehmer, vom Organisator oder Mitwirkenden an ‚Living-History-Events’ über das Angebot von Recherche- oder Erzähldienstleistungen für Unternehmen bis zum Reiseleiter oder ‚Destinationsmanager’ im Kulturtourismus. Chancen haben vor allem breit ausgebildete Historiker, solche, die auch von Antike und Mittelalter eine Ahnung haben, und solche Historiker, die es verstehen, eine aktuelle Nachfrage zu bedienen oder gar neue Bedürfnisse zu wecken.
Dieser Text ist Teil der Buchpublikation: Wolfgang Hardtwig, Verlust der Geschichte – oder wie unterhaltsam ist die Vergangenheit?
Bis in die 1990er Jahre wurde die Rolle von Maria Eisner als „Secretary and Treasurer“ immer wieder mit Sekretärin und Schatzmeisterin oder Büroleiterin im Gründerkreis der legendären Magnum-Männer übersetzt. Jubiläumsschriften, Dokumentationen und Kurzbiografien weisen Eisner bis heute immer wieder als italienische Fotografin aus, verschweigen dabei aber Teile ihres Werdegangs oder deuten ihren Einfluss auf die von ihr gegründeten Agenturen und der dort arbeitenden Fotografen nur vage an. Infolge ihres frühen Rückzugs aus dem Agenturgeschäft im Jahr 1951 sind ihre Verdienste um Assignments, Editionen und Bildrechte im frühen Bildermarkt sowie ihre Bedeutung als wichtige Mentorin bedeutender Fotograf:innen bis heute wenig beachtet.
Othering begegnet uns nicht nur im geschriebenen Wort. Es kann sich ebenfalls in der Kombination von Bild und Text manifestieren. Wie wichtig eine Reflexion der Artikelbebilderung durch die Redaktion ist, möchte ich im Folgenden anhand eines Artikels der „Berliner Morgenpost“ veranschaulichen. Hierzu ist ein poststrukturalistisch orientierter Zugriff besonders geeignet, da hier die Auffassung vertreten wird, dass die Bedeutungen den Dingen nicht immanent sind, sondern sie ihnen diskursiv zugewiesen werden. Somit werden im Diskurs die Dinge erst als soziale Phänomene konstituiert, über die gesprochen bzw. geschrieben wird. Mittels einer solchen anti-essentialistischen Perspektive auf Identitäten kann die Forschung dazu beitragen, binäre Identitätskonstruktionen aufzudecken, zu hinterfragen und letztlich zu überwinden.
Menschenrechte sind zur globalen Leitkategorie aufgestiegen. Die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte der Internationalisierung von Rechtsansprüchen haben Historiker/innen erst vor einigen Jahren für sich entdeckt. Lasse Heerten skizziert in seinem Beitrag, dass Menschenrechte als ein semantisch äußerst offenes Vehikel unterschiedliche Ideen transportieren können und kritisch historisiert werden müssen. Zentral sind dabei Fragen nach Emergenz, ambivalenten Effekten und der Vielgestaltigkeit von Menschenrechten im Verlauf der Geschichte.
Technikgeschichte
(2018)
In den vergangenen Jahren hat sich die deutschsprachige Technikgeschichte inhaltlich und konzeptionell selbstbewusst präsentiert und ihre Position als eine eigenständige Disziplin des historischen Fächerkanons bekräftigt. Eike-Christian Heine und Christian Zumbrägel stellen zentrale Perspektiven, Begriffe und Theorien vor, die die Technikgeschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts prägten, und benennen technikhistorische Themen, die aus zeitgeschichtlicher Perspektive besonders zukunftsträchtig erscheinen.
Wertewandel
(2012)
Wie haben sich Normen und Werte in modernen Industriegesellschaften verändert? Isabel Heinemann beschäftigt sich in ihrem Beitrag über den Begriff des „Wertewandels“ mit der Frage, welche Möglichkeiten für eine kritische Historisierung des ursprünglich sozialwissenschaftlichen Konzepts bestehen. Sie plädiert dafür, den Begriff aus seiner vorherrschenden Fixierung auf die 1960er- und 1970er-Jahre als vermeintlicher Kernphase des Wertewandels zu lösen, um durch den Vergleich von Phasen intensiven Wandels mit Perioden von größerer sozialer und normativer Kontinuität die Bedeutung und Reichweite von Wertewandelprozessen besser erschließen zu können.
Geschlechtergeschichte
(2012)
Geschlecht, so die These des Beitrags von Kirsten Heinsohn und Claudia Kemper im Anschluss an die Forschung, ist keine geschlossene oder gar ausdiskutierte Kategorie. Vielmehr ist das, was unter Geschlecht verstanden wird, ein fortlaufender Aushandlungsprozess, der insbesondere im Hinblick auf seine strukturgebenden und situativen Bedeutungen zu historisieren ist. Die Autorinnen skizzieren das Forschungsfeld „Geschlechtergeschichte“, stellen zentrale theoretische Überlegungen vor und entwickeln schließlich Perspektiven für eine geschlechterhistorisch erweiterte Zeitgeschichte.
Unfreundliche Häme schüttete sich noch Ende des letzten Jahres in der Öffentlichkeit über einem vormals so vielgerühmten Berufsstand aus. Die Ökonomen wurden sehr unverblümt dafür kritisiert, dass sie vor der Wirtschaftskrise ahnungslos und in der Wirtschaftskrise orientierungslos gewesen seien. Lisa Nienhaus, Wirtschaftsredakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), bezeichnete sie als kollektive „Blindgänger“. Als „Starökonomen“ wurden plötzlich Wissenschaftler gelobt, die dem Fach zuvor als Außenseiter und Schwarzseher galten, wie der vor der Finanzkrise noch als „Dr. Doom“ verspottete Nouriel Roubini, der sich nun in Medien und Fachorganen zu Wort melden durfte, dabei aber nicht mehr als Vertreter der Zunft galt, sondern als in der Vergangenheit gegen die Wirtschaftswissenschaften angehender Einzelkämpfer. Gleichzeitig erhoben sich wortgewaltige Verfechter der Mainstream-Ökonomie wie der Münchener Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn: Er habe – ließ er die „FAZ“ und durch sie die Öffentlichkeit wissen – seit längerem auf die Probleme des Finanzmarktes hingewiesen und Veränderungen gefordert, und letztlich sei es das Problem der Journalisten, dass sie lieber über börsliche Höhenflüge als über mahnende wissenschaftliche Expertise berichtet hätten. Die Krise sei also gerade dadurch entstanden, dass die Welt nicht auf die Ökonomen gehört habe.
„Bürger” ist ein geschichtlicher Grundbegriff, der auf die politische Verfasstheit und Teilhabe zielte und sich seit dem 18. Jahrhundert um soziale und kulturelle Dimensionen erweitert hat. Manfred Hettling untersucht in seinem Beitrag die Begrifflichkeit des „Bürgers”, die soziale Formation des „Bürgertums” sowie das eigene Kulturmodell von „Bürgerlichkeit” und stellt Ansätze, Zugriffe und Verfahren der historischen Bürgertumsforschung bis heute vor.
Michael Thompsons Buch »Mülltheorie« beginnt mit einem sehr unappetitlichen Rätsel zu »Rotz«. Es endet mit der Zusammenfassung einer im Buch Schritt für Schritt entwickelten Theorie, in der es darum geht, »Monster« (wie den »Rotz«) nicht aus der gesellschaftlichen Betrachtung und der wissenschaftlichen Theorie auszuschließen. Müll sei ein solches Monster, das in einem modernen Wissenschaftsverständnis ignoriert werde, da der Wert und die soziale Funktion von Müll mit »Null« gleichgesetzt werde. So beobachtete es Thompson in den 1960er- und 1970er-Jahren, als sein Buch entstand.
Wie verändern sich die Objekte der Geschichtsschreibung, also die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit, durch die Medien? Wie verändert sich die Geschichtsschreibung selbst durch die Medien? Was bedeutet die in Forschung und Öffentlichkeit verbreitete Rede von der ‚Mediengesellschaft‘ aus historischer Perspektive eigentlich genau? Der Aufsatz unterscheidet zunächst einige Prozesse der ‚Medialisierung‘, geht damit verbundenen Strukturverschiebungen nach und betrachtet insbesondere Veränderungen von Öffentlichkeiten. Dabei wird dafür plädiert, die Ambivalenz der Entwicklungen anzuerkennen und nicht vorschnell Paradigmenwechsel zu behaupten. Zudem werden einige Leitlinien formuliert, was eine Medialisierung der Zeitgeschichtsschreibung bedeuten könnte. Hier gilt es, neue Wege zu beschreiten und neue Ziele zu setzen, die der Ära der Audiovisualität gerecht werden.
Derzeit erleben wir die Genese eines Fachs. Es gibt klare Anzeichen, dass sich Public History in Deutschland als eine neue Subdisziplin der Geschichtswissenschaften institutionalisiert. Hierfür lassen sich einige klassische Indikatoren identifizieren: Es gibt die ersten Public History-Studiengänge in Deutschland, es werden die ersten Professuren mit Public History denominiert, der Deutsche Historikerverband hat eine Arbeitsgruppe zur Public History gegründet, und es gibt ein erstes Periodikum,das sich dezidiert mit Fragen der Public History auseinandersetzt.
Informations- und Kommunikationstechnologien durchdringen gegenwärtig alle Lebensbereiche. Dabei haben sich mit dem Anbruch des digitalen Zeitalters auch die Vorstellungen von Öffentlichkeit, Privatsphäre und Partizipation stark gewandelt. Techniken des „e-Governments“ steuern politische und soziale Prozesse. Computer regulieren den globalen Finanzmarktkapitalismus, berechnen (und manipulieren) Wahlergebnisse, lenken globale Kommunikationsströme, optimieren industrielle Produktions- und logistische Vertriebsprozesse und speichern überdies das Wissen von Verkehrsbetrieben, Krankenhäusern, Polizeibehörden und Geheimdiensten. Mit dieser Form der „Verdatung der Welt“ sind in den letzten Dekaden neue Wissensräume entstanden. Computer, Suchmaschinen und Datenbanken ordnen unsere moderne Welt.[1] Sie regeln den öffentlichen Raum und stecken zugleich die Sphäre des Privaten ab.
Youth Organizations
(2019)
Hitler Youth, Komsomol, Boy Scouts – no grand narrative of the twentieth century can ignore these youth leagues and their millions of members. For some these organizations meant fun and games or adventure, for others rigid hierarchies and political indoctrination. These stereotypes notwithstanding, historians have nevertheless succeeded in painting a nuanced picture of this pedagogical innovation. This contribution outlines the key developments in scholarly debate and shows how addressing youth organizations can benefit core working areas of contemporary history.
Jugendorganisationen
(2018)
Hitlerjugend, Komsomol, Boy Scouts – keine Großerzählung zum 20. Jahrhundert kommt ohne diese millionenstarken Jugendverbände aus. Für die einen bedeuten Jugendorganisationen Spiel, Spaß und Abenteuer, für die anderen straffe Hierarchien und politische Indoktrination. Ungeachtet dieser Stereotypen ist es der historischen Forschung gelungen, ein differenziertes Bild dieser pädagogischen Innovation zu zeichnen. Der Beitrag stellt die wichtigsten Etappen der Forschungsdiskussion vor und zeigt, welchen Erkenntnisgewinn die Beschäftigung mit Jugendorganisationen für zentrale Arbeitsfelder der Zeitgeschichte haben kann.
Archive investieren mittlerweile sehr viel Geld in die Digitalisierung ihrer Bestände, um sie ihren NutzerInnen komfortabel online bereitzustellen. Mit dem Aufbau virtueller Lesesäle geht es nicht mehr um die schon traditionell zu nennende Form der Digitalisierung, bei der exemplarisch besondere Einzelstücke in Form einer Ausstellung online präsentiert werden, sondern es geht tatsächlich um die Bereitstellung von Archivgut zur wissenschaftlichen Auswertung im virtuellen Raum statt im analogen Lesesaal. Doch während Fördermittel in großem Stil beantragt und bewilligt sowie die technischen Rahmenbedingungen geschaffen und ausgebaut werden, finden inhaltlich-methodische Diskussionen in Deutschland bisher kaum statt. In Frankreich hingegen wird in Anlehnung an das vor 30 Jahren erschienene Buch von Arlette Farge der »Geschmack des Archivs« im digitalen Zeitalter debattiert, und in der Schweiz wird das klare Ziel verfolgt, dass der virtuelle Raum den analogen ersetzen soll. In skandinavischen Ländern ist dies sogar schon geschehen. Dabei ist es in Deutschland keine programmatische Festlegung, dass am traditionellen Lesesaal festgehalten wird, oder muss es zumindest nicht sein, weil die schiere Menge an analogem Archivgut noch für lange Zeit auch herkömmliche Lesesäle erforderlich machen wird. Umso schwieriger wird es in dieser Übergangsphase, die Konturen des virtuellen Raumes genauer zu fassen und zu klären, was eigentlich das Ziel der digitalen Bereitstellung sein soll: eine Art Add-on, ein gleichwertiges Nebeneinander oder eine neue Form der Quellennutzung?
In den 1970er-Jahren wurde Resilienz zu einem Begriff für die Fähigkeit eines Systems, flexibel auf Stress zu reagieren. Statt nach einer Störung dem linearen Ideal der Erholung zu folgen, sollte sich das resiliente System neu organisieren. Die Konzepte Stress und Resilienz stammen aus der Materialforschung des 19. Jahrhunderts; im 20. Jahrhundert wanderten sie in die Psychologie und in die Ökologie. Der Beitrag skizziert die Entstehung des Ideals multistabiler Systeme, die auch unberechenbare, diskontinuierliche Veränderungen bewältigen sollten. Entlang der Geschichte der Bruchmechanik des 19. Jahrhunderts, der Traumaforschung der 1950er-Jahre sowie der Stressökologie der 1970er-Jahre wird gezeigt, wie sich Stress und Resilienz zu Systembegriffen ausweiteten, die so unterschiedliche Größen wie die menschliche Persönlichkeit und die irdische Umwelt erfassten. Diskutiert wird insbesondere die Vorstellung des antizipierten Versagens. Ob Mensch, Technik oder Umwelt – das einkalkulierte Systemversagen wurde zur Bedingung für die Selbstoptimierung des Systems, das aus Krisen und Katastrophen gestärkt hervorgehen sollte. Der Kollaps wurde nicht mehr als ein das moderne Selbstverständnis unterlaufendes Problem gedeutet, sondern als der Motor der Evolution.
Welche Impulse kann das Werk Max Webers der Zeitgeschichte liefern? Wie haben sich Zeithistoriker/innen im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart bei der gedanklichen Ordnung ihrer Probleme von Weber inspirieren lassen? Ausgehend von der „Vielfalt der Perspektiven“, aus denen Webers Themen und Begrifflichkeiten fruchtbar gemacht werden, zeichnet Gangolf Hübinger die Bedeutung Max Webers für wechselnde zeitgeschichtliche Problemstellungen nach und zeigt, was seinen Denkstil letztlich ausmacht: die Verknüpfung von Universalgeschichte und Gegenwartsdiagnose.
Das Lebensthema des Religionsphilosophen, Kulturhistorikers und Politikers Ernst Troeltsch (1865-1923) war die „moderne Welt“. In den großen Neuordnungsdiskursen nach 1918 spielte er eine wichtige Rolle in den westeuropäischen, aber auch in den osteuropäischen Kulturtransfers. Gangolf Hübinger und Johannes Bent stellen sein spätes Hauptwerk „Der Historismus und seine Probleme“ vor und betonen die intellektuelle Bedeutung von Troeltsch sowohl für die Demokratiediskurse der ersten deutschen Republik als auch für die Frage nach der Orientierungskraft von „Geschichte“ für die moderne Gesellschaft, insbesondere für die „Europadiskurse“ des 20. Jahrhunderts.
Je nach Perspektive wird die „Geschichte der Medizin“ als Teildisziplin der Geschichte oder die „Geschichte in der Medizin“ als Prozess der Selbstreflexion und Selbstvergewisserung in der Medizin betrachtet. Nach einer chronologischen Einordnung der Zeitgeschichte der Medizin folgt ein kurzer Abriss zur Geschichte des Fachs sowie zu seinem Wandel und den damit verbundenen Kontroversen. Anschließend stellen die Autor*innen Themen, Methoden und theoretische Zugriffe sowie Akteur*innen vor und fragen nach dem aktuellen Verhältnis von Medizingeschichte und Medizinethik.
Historische Ausstellungen und Museen gelten als typische Arbeitsfelder für Historiker. In der Tat ist eine geschichtswissenschaftliche Grundausbildung eine gute Voraussetzung, doch reicht sie aus, um eine gute historische Ausstellung zu entwickeln? Was macht überhaupt eine gute Ausstellung aus? Hier kommt neben der wissenschaftlichen Arbeit die praktische Umsetzung ins Spiel - ein Aspekt, der bei der Beurteilung von Ausstellungen oft vergessen wird. Dabei geht es nicht um die Entscheidung zwischen Oberflächlichkeit und Tiefgang, zwischen Inszenierung und Originalobjekten oder zwischen Eventkultur und Bildungsangebot. Vielmehr geht es darum, sich der sprachlichen Unschärfen sowie der Vermischung von Begriffen wie Geschichte, Museum, Ausstellung, Erinnerung, Gedächtnis auf der einen und Event, Erlebnis, Management, Unterhaltung auf der anderen Seite bewusst zu werden. Erst dann nämlich steht die Qualität einer Ausstellung zur Debatte, nicht die Güte der wissenschaftlichen Leistung. Anders ausgedrückt: Eine Ausstellung zu realisieren erfordert mehr als die wissenschaftliche Basis der Fachdisziplin, in unserem Fall der Geschichtswissenschaft. Hier geht es darum, (aktuelle) Bezugspunkte für die Besucher zu schaffen, ein Konzept zu entwickeln, das Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes (be)greifbar macht. Es ist der dreidimensionale Raum, in dem sich das Konzept bewähren muss, in dem Geschichte gestaltet werden will. Dazu gehören auch und vor allem die Objekte - die im Geschichtsstudium nicht oder nur am Rande behandelt werden. Hinzu kommt die praktische Durchführung des Vorhabens, die Planung und Organisation von Arbeitsabläufen, die Vermittlung sowie die Finanzierung. Und spätestens hier sieht sich der Historiker vor Aufgaben gestellt, auf die ihn sein Studium in den seltensten Fällen vorbereitet hat.
In ihrem Beitrag über „Zeitgeschichte in Museen - Museen in der Zeitgeschichte“ widmet sich Kristiane Janeke der Entwicklung von Museen und Ausstellungen zu zeithistorischen Themen und der interdisziplinären Forschung zu Theorie und Praxis des Ausstellens. Nach Janeke sind zeithistorische Museen in der letzten Zeit in einer zunehmend heterogenen und multikulturellen Gesellschaft zu Bildungsorten geworden, in denen relevante zeithistorische Diskurse reflektiert und durch das Medium der Ausstellung mitgeprägt werden. Anlass genug, dass sich auch Zeithistoriker/innen noch stärker mit der Thematisierung von Geschichte in Museen auseinandersetzen.
Fürsorgediktatur
(2023)
Neu in einer aktualisierten Version 2.0: In seinem Artikel erörtert Konrad H. Jarausch den Neologismus „Fürsorgediktatur“, ein Spannungsbegriff, der den widersprüchlichen Charakter der DDR vor allem unter Honecker auf einen präzisen Nenner bringen sollte. Mit dem Gedanken entworfen, die festgefahrene Auseinandersetzung um die Geschichtspolitik anzustoßen und eine analytische Debatte zu beginnen, beschreibt Jarausch Kritiken und Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs.
Nach einem kurzen einführenden Überblick zur Geschichte der Unterrichtsvideografie in Deutschland wird in diesem Beitrag anhand ausgewählter Beispiele ein methodischer Zugang aus der Perspektive einer historischen Bildungs- und Unterrichtsforschung entwickelt, der insbesondere auf den visuellen Gehalt dieser noch relativ neuen Quellengattung fokussiert und diesen im Zuge des Kontextes der Unterrichtsaufzeichnungen zu reflektieren sucht.
Zeitzeugin / Zeitzeuge
(2022)
Zeitzeug*innen sind nicht mehr wegzudenken aus der deutschen und internationalen Erinnerungskultur. Der Artikel von Steffi de Jong beschäftigt sich mit der Frage, wie die Zeitzeug*in zu einer derart populären Figur werden konnte. Der erste Teil behandelt den Begriff der Zeitzeug*in, im zweiten wird eine mögliche Genealogie von der Französischen Revolution bis ins digitale Zeitalter vorgeschlagen, und im dritten Teil geht es um die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zeitzeug*in als Quelle, als Untersuchungsgegenstand und als Geschichtsvermittler*in, um schließlich in einem Ausblick nach der zukünftigen Rolle von Zeitzeugenschaft zu fragen.
Als Francis Fukuyamas Essay „The End of History?” im Sommer 1989 in der Zeitschrift „The National Interest” erschien, brach ein Sturm der Empörung los. Die Vorstellung von einem „Ende der Geschichte” hatte zwar gerade Konjunktur; so kamen in der Bundesrepublik 1989 gleich zwei Bücher heraus, die dieses Thema kritisch beleuchteten. Meist gründete das Interesse an einem „Ende der Geschichte” allerdings auf einer postmodernen Position.
Vetorecht der Quellen
(2010)
Als „Vetorecht der Quellen" bezeichnet man eine geschichtstheoretische Denkfigur, nach der der quellenkritischen Deutung historischer Überreste die Funktion zukommt, historisch unwahre Aussagen als solche kenntlich werden zu lassen. Der Begriff wurde vermutlich von dem Bielefelder Begriffshistoriker und Geschichtstheoretiker Reinhart Koselleck (1923-2006) im Jahr 1977 eingeführt.
Hoffnung auf Erfolg. Akteurszentrierte Handlungskonzepte in der Migrations- und Flüchtlingsforschung
(2018)
Die Herausforderung besteht somit in einer reflektierten Verbindung von historischer Wissens- und Migrationsforschung.[37] Darin könnte die Chance liegen, die oftmals eindimensionale Wahrnehmung von Migrant/innen als Opfer restriktiver Grenzregime aufzubrechen, denn sie blockiert tendenziell eher Erkenntnismöglichkeiten, als dass sie neue eröffnet. Wenn ein Konzept wie Eigen-Sinn dazu beitragen würde, die verengten Perspektiven auf Migrationsregime zu erweitern, wäre das nur zu begrüßen. Allerdings spricht die bisherige Inanspruchnahme des Begriffes dafür, doch eher auf andere handlungstheoretische Konzepte wie die Analyse von individuellen und kollektiven Handlungsspielräumen zurückzugreifen oder einer an die Arbeiten von de Certeau angelehnten und auf globale Migrationsbewegungen zugeschriebenen »Rhetorik des Wanderns« zu folgen. Eines zeichnet sich indes jetzt schon ab: Ohne eine stärkere und theoretisch durchdachte Berücksichtigung akteurszentrierter Konzepte wird die Migrationsforschung zentrale Aspekte ihres Gegenstandes weiterhin nur oberflächlich erfassen können.
Der Beliebtheit generationeller Vergemeinschaftungen stehen forschungspraktische Unebenheiten gegenüber, wenn „Generation” nicht mehr nur als Selbstthematisierungsformel, sondern auch als analytische Kategorie dient. Gerade die begriffliche Unschärfe verweist darauf, wie wichtig es ist, danach zu fragen, was die Rede von den „Generationen” in den Blick bekommt, was sie vernachlässigt oder sogar überdeckt. In einer aktuell überarbeiteten und ergänzten Version 2.0 zeigt Ulrike Jureit, welche theoretischen Unwägbarkeiten damit verbunden sind, wenn der kollektive Selbstentwurf nicht allein als Ausdruck eines gesellschaftlichen Erfahrungswandels gedeutet wird, sondern gruppenspezifische Selbstinszenierungen zum zentralen Erklärungsfaktor für bestimmte politische, soziale oder ökonomische Umbrüche werden.
Heimat
(2017)
Das Konzept „Heimat“ lässt sich als scheinbar genauere Bestimmung vor viele Phänomene setzen. In der Unbestimmtheit des Begriffs zeigt sich seine prominente emotionale Seite, die ihn für Marketingzwecke jeder Art – und damit sind auch politische Absichten eingeschlossen – attraktiv macht. Heimat markiert eine lokale Identifizierung, die andere Identifikationen nicht ausschließt, ob es sich nun um regionale, nationale oder transnationale Institutionen, Ideologien oder Glaubensgemeinschaften handelt. Der Artikel behandelt den Begriff „Heimat“ sowie das grundsätzliche Verhältnis zwischen Individuen zu sozialen und geografischen Räumen.
Heimat (english version)
(2018)
The concept of Heimat can be used in conjunction with many phenomena and sometimes seems to have a precise definition. The very vagueness of the concept bespeaks its emotional aspect, one that makes it rather appealing for a wide range of marketing and propaganda purposes. Heimat denotes a local identification that is not exclusive of other identifications, whether regional, national or transnational institutions, ideologies or religious communities. The Article will address the concept and its varied meanings and it will also examine the fundamental relationship between individuals with respect to their social and geographic spaces.
Der Zweite Weltkrieg ist bis heute in der deutschen und europäischen Erinnerungskultur präsent und wird auf individueller wie kollektiver, medialer Ebene mit ganz bestimmten Bildern assoziiert. Auf deutscher Seite waren vor allem die Propagandakompanien (PK) der Wehrmacht die wichtigsten Bildlieferanten zeitgenössischer Medien. Ihre Fotografien durchliefen eine doppelte Zensur: eine militärische sowie die durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP). Die PK-Fotografen waren aber zumeist aufgrund ihrer Ausbildung, oft auch ihrer ideologischen Prägung nach, in ihrer fotografischen Praxis darauf ausgerichtet, vom Regime gewünschte Bildvorstellungen umzusetzen.
Historischer Vergleich
(2012)
Hartmut Kaelble zeigt in seinem Beitrag für Docupedia, dass sich Methodik, Praxis und damit auch Vergleichsräume und Vergleichszeiträume des Historischen Vergleichs in den letzten Jahren stark verändert haben. Nachdem die theoretischen Diskussionen der 1990er-Jahre über den Historischen Vergleich als weitgehend abgeschlossen angesehen werden können, ist er heute ein fest etablierter, eigenständiger Teil der transnationalen Geschichte. Wissenschaftshistorisch hat er damit zur Herauslösung der Geschichtswissenschaft aus rein nationalgeschichtlichen Traditionen beigetragen.
Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Christoph Kalter bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Es ist erst einige Jahre her, da erinnerte ein überdimensionales, begehbares Prostatamodell Männer an die Wichtigkeit der Krebsvorsorge. Eine „Urolisken“- Skulptur, die in verschiedenen deutschen Städten aufgestellt wurde, hatte dasselbe Ziel. Beide Aktionen zeigen: Alternde Männer werden derzeit in ihrer Körperlichkeit verstärkt sichtbar. Für alternde Frauen könnte man Ähnliches feststellen.1 Dies war längst nicht immer so. Wer die Situation alter Männer mit Prostatakarzinom als Familienväter und -versorger im frühen 20. Jahrhundert nachzuzeichnen versucht, stößt schnell an Grenzen, was mit der schwierigen Quellenlage zu tun hat. Mediziner hatten für diese Patienten wenig Handlungsspielraum, Behandlungsmethoden reduzierten sich oftmals auf Palliation, und für die Öffentlichkeit blieben die Krankheitsverläufe dieser Männer ohnehin meist unsichtbar. Im Gegensatz dazu gibt es im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert eine öffentliche Zurschaustellung.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erschien ein völlig neues Printmedium in den Auslagen der Buchhandlungen. Es handelte sich um meist auf billigem Papier gefertigte farbenfrohe Einblattdrucke. Ihre Größe war mit ungefähr 43 x 34 cm sehr einheitlich. Umso heterogener waren die abgebildeten Motive und ebenso vielfältig ihre Verwendbarkeit. Damit war ein Produkt auf den Markt geworfen, das flexibel genug war, um über ein Jahrhundert als Ware zu überdauern. Dies macht den Bilderbogen zu einem ungemein wertvollen materiellen Zeugnis des 19. Jahrhunderts.
Der Beitrag geht der filmischen Konstruktion von Authentizität nach. Hierfür werden zunächst verschiedene filmtheoretische Positionen zum Realitätsgehalt von fotografischen Bildern vorgestellt, um divergierende Konzeptionen von Realität aufzuzeigen. Anschließend werden unterschiedliche filmische Verfahren aus dem Bereich des Dokumentarfilms besprochen, die zum Eindruck von Authentizität beitragen. Um die paradoxale Struktur des Authentischen aufzuzeigen, werden die eingangs vorgestellten filmtheoretischen Überlegungen anhand des Spielfilms »Come Back, Africa« (1959) diskutiert. Abschließend beschäftigt sich der Beitrag mit der Inszenierung der Produktion von dokumentarischen Bildern, mit der die Fernsehserie »Holocaust« (1978) und der Spielfilm »Son of Saul« (2015) die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählung unterstreichen.
Verlagtext Böhlau, siehe: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-14206-3.html: "Ossip K. Flechtheim (1909–1998) war Politologe, Rechtssoziologe, Historiker und Mitbegründer der Zukunftsforschung. Der in der Ukraine geborene Forscher und Universitätslehrer wirkte in Deutschland, der Schweiz und den USA. Sein Leben wurde durch die Brüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts geprägt.
Flechtheim schrieb über Kardinalprobleme seiner Zeit: Krieg und Frieden, Demokratie und Diktatur, Faschismus und Antifaschismus, Kommunismus und Nord-Süd-Konflikt. Er war ein Wegbereiter des Faches Politische Wissenschaft in Deutschland und befasste sich schon früh mit dem Verhältnis von Ökonomie und Ökologie."
„Wir wissen wenig über die Fotografie der Landser“, merkte Bernd Hüppauf noch im Jahr 2015 in seiner Abhandlung über Fotografie im Krieg an. Um diesen Missstand weiter aufzulösen, wird im Folgenden ein Bereich der privaten Fotografien des Zweiten Weltkriegs betrachtet, der neben dem Gestalten von Fotoalben und dem Handel mit Bildern ebenfalls eine große Rolle innerhalb der Landserfotografie spielte: das Verfassen von illustrierten Tagebüchern bzw. von Fotoheften.
Während sich die Zeitgeschichtsforschung über mangelnde Aufmerksamkeit heute nicht beklagen kann, fristet die Geschichtsdidaktik sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in den Fachdebatten der Geschichtswissenschaft eher ein Schattendasein. Die erregten historisch-politischen Diskussionen der 1970er-Jahre, in denen gerade Geschichtsdidaktiker für ein emanzipatives „Geschichtsbewusstsein“ stritten, sind in den Hintergrund getreten. Aus der Sicht der meisten Zeithistoriker gibt es gegenwärtig keinen besonderen Anreiz, sich mit der Geschichtsdidaktik näher zu befassen, da sich diese Disziplin in einer Abwärtsspirale aus intellektueller Mittelmäßigkeit und Sparzwängen befinde - so zumindest eine verbreitete Meinung.
In den 1970er- und 1980er-Jahren galt die militärgeschichtliche Forschung in der Bundesrepublik als sehr konservativ. Viele sich als progressiv verstehende Geschichtswissenschaftler und -lehrer betrachteten eine zu intensive Beschäftigung mit Militär und Krieg als politisch verfehlt, pädagogisch gefährlich und wissenschaftlich anachronistisch. Zwar wurde „Militarismus“ als historisches und soziologisches Phänomen erforscht sowie „historische Friedensforschung“ zum Postulat der Geschichtsdidaktik gemacht, doch entfernte man sich in „pazifistischem Affekt“ (Jan Philipp Reemtsma) von der konkreteren Realität des Gewalthandelns und der militärischen Vergesellschaftung. Dies war einerseits verständlich und aus heutiger Sicht dringend geboten, um die preußisch-deutschen Traditionen einer Glorifizierung des Militärs und einer anwendungsorientierten Operationsgeschichtsschreibung zu überwinden. Andererseits wurden durch die dezidierte Abkehr vom Militärischen viele Gegenstandsbereiche ausgegrenzt, die zum Verständnis der deutschen und internationalen Geschichte besonders des 19./20. Jahrhunderts essenziell sind.
„Wenn ich nicht Peter Panter wäre, möchte ich ein Buchumschlag im Malik-Verlag sein“, schrieb Kurt Tucholsky 1932. Dieses Zitat findet sich in der großen Ausstellung, mit der die Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin noch bis zum 23. August 2020 John Heartfield würdigt – unter anderem als kongenialen Gestalter von Buchumschlägen. Während diese Ausstellung geradezu ein Gesamtkunstwerk ist und Heartfield als Multimedia-Künstler hervortreten lässt, zeigt der Salon Berlin des Museums Frieder Burda vom 12. Mai bis zum 24. Oktober 2020 eine Fotokunstausstellung, die demgegenüber minimalistisch wirkt, aber ihren eigenen Reiz hat – und direkte Bezüge zur Heartfield-Ausstellung. Darauf wird noch einzugehen sein.
Zu diesem Heft
(2022)
War es in den Jahren 2020/21 vor allem die Corona-Pandemie, die von vielen als gravierende Zäsur wahrgenommen wurde, so ist mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 noch ein ganz anderer Ereigniszusammenhang von existentieller Bedeutung hinzugetreten, dessen mittel- und längerfristige Folgen erst teilweise absehbar sind. Während der Buchtitel »Der 11. September 2001 – (k)eine Zeitenwende?« aus dem Frühjahr 2022 schon klingt wie aus einer längst vergangenen Epoche, wird die Frage »Beginnt jetzt eine neue Zeit?« nun unter veränderten Vorzeichen gestellt oder die »Zeitenwende« und das »Ende der Globalisierung« gleich forsch behauptet. Eine im besten Sinne akademische Tagung über »Epochenwenden und Epochenwandel« erhielt im April 2022 eine so nicht erwartete Aktualität; das Organisationsteam schrieb dazu: »Das Thema hat uns in der Gegenwart eingeholt und vielleicht schon überholt.« Allerdings gehört zur geisteswissenschaftlichen Arbeit immer auch die Skepsis gegenüber eiligen Zeitdiagnosen und Zäsurbehauptungen, wie etwa der aus Indien stammende Politikwissenschaftler Parag Khanna betont hat: »Wir sollten uns vor großspurigen Proklamationen hüten, die unsere Zeiten auf den Punkt bringen wollen. Solche Prägungen erfassen nur den Moment, der gerade vergangen ist, und sind garantiert bald wieder passé.« Nun mag selbst eine derartige »Garantie« des Vorläufigen fragwürdig erscheinen, wenn es doch »überdeutliche Symptome des Umbruchs, der tiefen Zäsur« gibt, wie der Historiker Jörn Leonhard hervorgehoben hat. Mit Rückbezug auf Reinhart Koselleck betont er die grundsätzlich enge Verbindung von »Zäsur und Wiederholung«, von »Einmaligkeit der Geschichte« und ihrer »Rekurrenz«.
Zu diesem Heft
(2023)
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der nun schon seit über einem Jahr andauert, hat vielfältige historische Bezüge und Implikationen – auch solche, an die man vielleicht nicht sofort denkt. Nach Angaben des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge kamen während dieses Krieges bisher menschliche Überreste von über 800 Wehrmachtssoldaten an die Oberfläche, einige davon beim Ausheben neuer Schützengräben. Mitunter werden auch Helme und Stiefel gefunden. Die »Zeitschichten«-Metapher des Historikers Reinhart Koselleck (1923–2006), der als Soldat selbst in der Ukraine gewesen war, gewinnt hier eine veränderte Bedeutung und sehr konkrete Materialität. In ihrer Dankesrede bei der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung sagte die russische, momentan in Berlin lebende Schriftstellerin Maria Stepanova im April 2023: »Sind wir jetzt dazu verdammt, das zwanzigste Jahrhundert immer wieder neu zu erleben, seine Gefängnisse, Konzentrationslager und Propagandamaschinen, seine Grabenkriege und seine Flächenbombardements? Was tun, wenn das Gewebe der Sprache, ihre Textur, plötzlich durchsichtig wird und man all die verborgenen Schichten latenter und offener Gewalt sieht, die in ihr liegen und nach außen drängen?«
In this issue
(2023)
The Russian war of aggression against Ukraine, now in its second year, has many historical connections and implications – including some which may not immediately spring to mind. The German War Graves Commission estimates that the human remains of more than 800 Wehrmacht soldiers have been uncovered so far over the course of this war, some of them surfacing as new trenches were being dug. Helmets and boots have also been found. Historian Reinhart Koselleck’s (1923–2006) metaphor of Zeitschichten, or temporal layers, acquires here a different meaning and a very concrete materiality. (Koselleck had himself served as a soldier in Ukraine.) In her acceptance speech for the Leipzig Book Award for European Understanding in April 2023, the Russian author Maria Stepanova, who currently lives in Berlin, said: ›Are we condemned to keep reliving the twentieth century with its prisons, concentration camps and propaganda machines, its trench warfare and area bombardments? What can we do when the fabric of language, its texture, suddenly becomes transparent, revealing all the hidden layers of latent and overt violence percolating to the surface?‹
In this issue
(2022)
In 2020/21 it was first and foremost the Covid pandemic that many experienced as a major turning point; now the Russian war of aggression against Ukraine since 24 February 2022 has added a whole new set of events of existential significance, whose medium- and long-term consequences we can only partly foresee. The title of a book published in the spring of 2022, Der 11. September 2001 – (k)eine Zeitenwende? (11 September 2001 – A Historical Turning Point?), has come to sound like something from a bygone age. The question ›Is this the beginning of a new era?‹ is now posed under altered circumstances, and a ›historical turning point‹ and the ›end of globalisation‹ are proclaimed in equally adamant fashion. An academic – in the best sense of the word – conference on ›New Eras and Epochal Change‹ in April 2022 acquired an unanticipated immediacy. The organising team wrote: ›We have been outrun and perhaps even rendered irrelevant by events.‹ But humanities scholarship also entails a certain scepticism towards hasty diagnoses of the times and proclamations of turning points, as scholars including the Indian-born political scientist Parag Khanna have underscored: ›We should avoid grandiloquent proclamations that seek to encapsulate our times. Such characterisations can only capture the moment that has just passed and are guaranteed to quickly be outdated.‹ Of course even such a ›guarantee‹ that any statements can only be provisional may seem questionable when there are ›unmistakable symptoms of upheaval, of profound rupture‹, as the historian Jörn Leonhard has emphasised. With reference to Reinhart Koselleck, he underscores the fundamentally close link between ›rupture and repetition‹, between the ›singularity of history‹ and its ›recurrence‹.
Zum 50. Heft
(2021)
Der 17. Jahrgang dieser Zeitschrift markiert auf den ersten Blick keinerlei Jubiläum. Trotzdem ist die vorliegende Ausgabe für Herausgeber und Redaktion eine besondere: Es handelt sich um das 50. Heft insgesamt. (2007 gab es ein Doppelheft, sonst immer drei Hefte pro Jahrgang.) Dies ist der Anlass für einen knappen Rückblick auf die anfänglichen Ziele und die bisherigen Entwicklungen, aber auch für einen (selbst-)kritischen Ausblick. Mit Recht hat die erst in den Anfängen befindliche kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung festgestellt: »Nicht selten geht das Zeitschriftenmachen mit Reflexionen über den Wert, die Bedingungen oder die Versprechen des Zeitschriftenmachens einher.«
The fiftieth issue
(2021)
At first glance, the seventeenth year of this journal’s publication would not appear to mark any particular anniversary. And yet the present edition is quite special for the editors and the editorial team: it is the 50th issue overall. (There was a double issue in 2007, otherwise there have always been three issues each year.) This milestone is the occasion for a brief review of the original objectives and of developments thus far, as well as a (self-)critical look at what the future may bring. Scholars in the nascent field of the cultural study of periodicals have rightly observed: ›The production of periodicals is often accompanied by reflections on the value, conditions, and promise of producing periodicals.‹
Die Deutung der jüngeren und jüngsten Vergangenheit liegt nicht allein in der Hand professioneller Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker, sondern ist ein hart umkämpftes Feld mit verschiedensten Akteuren. Das vorliegende Heft widmet sich diesem breiteren Feld der „populären“ Geschichtsschreibung aus unterschiedlichen Perspektiven. Welche Rolle spielt die „akademische“ Zeitgeschichte nun bei der Konstituierung von Geschichtsbildern und Geschichtserzählungen? „Akademisch“ mag wie ein abwertendes Signum klingen – unverständlich, im System Wissenschaft verfangen, vorbei am Publikum –, während es für den praktizierenden Akademiker eine Quelle seines Berufsethos sein dürfte (oder vielleicht der letzte Rettungsanker der Selbstlegitimierung). Strittig bleibt indes, was das „Fachwissenschaftliche“ genau ausmacht: Sind es bestimmte Mindeststandards, die ein Geschichtswerk erfüllen muss, um als „wissenschaftlich“ anerkannt zu werden, oder ist die „akademische“ Geschichtsschreibung im Wesentlichen durch eine (nicht allein fachspezifische) Forschungspraxis gekennzeichnet, die an strukturelle Bedingungen von Drittmittel- und „Exzellenz“-Projekten und akademische Moden gebunden ist sowie zu guter Letzt als „Abschlussbericht“ in Darstellung überführt werden muss?