Gewalt
Das Tagebuch des bulgarischen Kommunisten und Komintern-Vorsitzenden Georgi Dimitrov (1882-1949) gehört zu den erst in jüngerer Zeit zugänglich gewordenen Quellen, die Stalin jenseits historisch tradierter Klischees und der zumeist spekulativen Persönlichkeitsskizzen der älteren westlichen Literatur als einen Menschen mit konkret benennbaren Charakterzügen zeigen und darüber hinaus ein anschauliches Bild der Umgangs- und Kommunikationsformen in seinem Umfeld vermitteln. Bis 1991 im Archiv der Kommunistischen Partei Bulgariens aufbewahrt und unter Verschluss gehalten, zählt Dimitrovs Tagebuch, das die Jahre 1933 bis 1949 umspannt, zu den vielen archivalischen und sonstigen Quellen, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Ost- und Südosteuropa von der Geschichtswissenschaft erschlossen und zum Teil durch Editionen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden. Das internationale Interesse an Dimitrovs Aufzeichnungen war so groß, dass die bulgarische Ausgabe (1997) wahlweise ganz oder in Auszügen ins Deutsche, Französische, Englische und Italienische übersetzt wurde.
Wie haben sich die Perspektiven auf die NS-Zeit seit 1989/90 verändert? Nach einem knappen Rückblick auf die „historiographische Systemkonkurrenz“ in der Ära des Kalten Krieges werden zunächst wichtige Blickerweiterungen skizziert, die bereits vor 1989/90 einsetzten: die wachsende Aufmerksamkeit für alltagsgeschichtliche Zusammenhänge sowie vor allem für die Verfolgung und Ermordung der Juden. Die Zäsur von 1989/90 brachte für die NS-Forschung einen zusätzlichen Schub, weil sie die Bedeutung von Akteuren in historischen Entscheidungssituationen nachhaltig in den Vordergrund rückte. Der Aufsatz erläutert darüber hinaus drei Stränge der aktuellen NS-Forschung: Ansätze einer integrierten Geschichte, die eine dichotomische Betrachtung von Opfern und Tätern überwinden; die Europäisierung und Globalisierung nicht nur der Erinnerungspolitik, sondern auch der wissenschaftlichen Arbeiten zur NS-Zeit; sowie das übergreifende Phänomen einer verstärkten Medialisierung von Geschichte.
Als das Institut für Zeitgeschichte 2005 ankündigte, dass es in Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv und dem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg eine ambitionierte 16-bändige Quellenedition zur Geschichte des Holocaust starten werde, mögen manche Fachkollegen und interessierte Laien verwundert gewesen sein. Wie zeitgemäß kann ein solches Vorhaben noch sein – angesichts rasanter technischer Veränderungen und damit verbundener Möglichkeiten der Speicherung und Verbreitung von in den Archiven ‚eingelesenen‘ Akten? Demgegenüber lässt sich die Ansicht vertreten, dass die professionelle Durchführung eines derartigen Projekts längst überfällig war. Wie der Mitherausgeber Dieter Pohl treffend argumentiert hat, ist es trotz mancher Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte und ungeachtet aller Widrigkeiten zu einem Paradigmenwechsel gekommen – vor allem in der systematischen Erfassung des erhaltenen Materials durch die internationale Vernetzung verschiedener Forschungsgemeinschaften.
Noch immer liegen NS- und Genozidforschung weit auseinander – und sind zugleich doch eng miteinander verbunden. Denn zum einen bildet der Holocaust für die Genozidforschung bis heute die Matrix der unterschiedlichsten Typologieversuche. Zum anderen gründet die These von der Singularität des Holocaust notwendig, obgleich meist nur implizit auf dem Vergleich mit anderen Massenmorden. Dennoch arbeiten beide Disziplinen bis heute vielfach nebeneinander her. NS-Forscher ignorieren die Forschungsergebnisse zu den übrigen Völkermorden im 20. Jahrhundert weitgehend und perpetuieren damit die Singularitätsthese durch den eigenen eingeengten, überwiegend nationalgeschichtlich-deutschen Horizont. Die zahlreichen Bücher zu Genoziden basieren hingegen oft auf einem Kenntnisstand des Holocaust, der aus den 1970er-Jahren stammt, und beziehen sich damit sich auf eine gänzlich veraltete Matrix, die wiederum die eigenen Schlussfolgerungen verzerrt.
Rereading a book is always an uncanny experience in multiple temporalities. If the linguistic turn has taught us anything, it is that the context of reading shapes the meaning of the text that is read. The historicist impulse to reconstruct the original context on the basis of the text itself is at best an asymptotic, at worst a quixotic, pursuit. Yet texts remain, some more so than others. Those texts which continue to be read and reread long after their original context has passed we call ‘classics’. This is a term most frequently applied to literature, of course, but also to philosophy and other scholarly works animated by a generalising impulse. It pertains to works, in other words, which lay claim to a significance transcending their original context. It is rarely applied to works whose principle value is empirical or narrowly scholarly. These are presumed to be only temporarily useful interventions into an ongoing scholarly debate, in which later works draw on and ‘supersede’ the insights of earlier ones, rendering their predecessors superfluous. (Rather the reverse of Jove and his children.) Consequently, relatively few works of historical scholarship are considered classics in the full sense. History’s emphasis on the particular, its frequent skepticism of theoretical generalisations, and its embrace of archival empiricism have all tended to preclude the emergence of a broad canon of ‘historical classics’. There have, however, been exceptions to this rule.
Die Deutschen tun sich schwer mit dem Kolonialismus. Lange Zeit an Universitäten wie im öffentlichen Bewusstsein ignoriert und vergessen, wird er seit einigen Jahren zwar erinnert, jedoch meist exotisiert und banalisiert. Hegels bekanntes Diktum, dass Afrika keine Geschichte habe, wird offenbar immer noch von vielen geglaubt, zumindest in der Form, dass, wenn es eine Geschichte hat, diese auf jeden Fall keinerlei Bedeutung für die eigene, sei es die europäische, sei es die deutsche, besitze.
Es ist ein bisweilen befremdlicher erster Eindruck, den das Apartheid-Museum in Johannesburg für seine Gäste bereithält – während die Besucherin am Kassenhäuschen des Museums, auf halbem Weg zwischen der Johannesburger Innenstadt und dem Township Soweto gelegen, auf ihre Eintrittskarte wartet, trägt der Wind fröhliche Schreie herüber; Ausdruck der Achterbahnfahrten im nur einige Meter entfernt liegenden Vergnügungspark „Gold Reef City“. Einzig ein weitläufiger Parkplatz trennt den Themenpark, der mit einer disneyfizierten Repräsentation des Johannesburgs um 1900 aufwartet, und das zugehörige Kasino vom Museumskomplex. Für viele war dies zunächst ein Affront, etwa für die südafrikanische Autorin Nadine Gordimer, die „die Würde des südafrikanischen Freiheitskampfes“ durch den Rummel verletzt sah, gleichzeitig jedoch einräumte: „ Tatsache ist aber, dass wir ein eigenes Apartheid-Museum zwar diskutiert, aber nie zustande gebracht haben.“ Gordimers Bemerkung führt direkt in die Verwicklungen der südafrikanischen Kultur- und Erinnerungspolitik, für die das hier besprochene Großprojekt beispielhaft steht. Denn es war in der Tat das profane Anliegen, eine Kasinolizenz zu erlangen, das das gewaltige Museum möglich machte: Der „Community“ etwas „Greifbares“ zu geben war Bedingung für die Erteilung von „Gambling Licences“ ab 1994. In diesem Fall brachte der taktische Schritt eines der am besten besuchten Museen des Landes hervor.
Für Alexander Kluge gibt es keine abgeschlossenen Werke: „Bücher halten nicht still. Sie sind auch nie ‚beendet‘“. So ist es auch im Fall der „Schlachtbeschreibung“ nicht bei der Erstausgabe von 1964 geblieben. Kluge versteht seine Bücher als „work in progress“, als „Baustellen“ und als Produkte einer Sammlertätigkeit, die nicht beendet werden kann. Ein Buch wie die „Schlachtbeschreibung“ ist in diesem Sinne lediglich ein kleiner Teil eines stetig wachsenden und sich immer wieder aufs Neue verändernden multimedialen Netzwerks, das nicht nur literarische Texte umfasst, sondern auch philosophische Arbeiten, Kinofilme und Fernsehmagazine. Bis heute sind nicht weniger als sieben zum Teil sehr stark voneinander abweichende – gekürzte, erweiterte, neu arrangierte und um Abbildungen ergänzte – Ausgaben des Stalingrad-Buchs erschienen. Die vorerst letzte (gedruckte) Überarbeitung stammt aus dem Jahr 2000, als Kluge sein erzählerisches Gesamtwerk, ergänzt durch neu entstandene Texte, unter dem Titel „Chronik der Gefühle“ in einer umfangreichen zweibändigen Ausgabe versammelte. Darin findet sich die „Schlachtbeschreibung“ – als ein Kapitel unter vielen – in einen neuen Zusammenhang gestellt.
Grenzpfähle der Tabuzone. Vom schwierigen Umgang mit Krieg, Gewalt und toten Körpern im Museum
(2010)
Zum Krieg gehört der Tod: Für den Historiker Michael Geyer sind „die willentliche, kalkulierte, menschliche Planung des Massen-Todes, sein öffentlicher Gebrauch im Gefecht und die Erfahrung der Überlebenden mit dem Massentod“ Grundlage des kriegerischen Handelns. Diese Praxis zu rekonstruieren sei Aufgabe der Kriegsgeschichte. Nicht das Gefecht allein, sondern das Töten im Gefecht gehöre ins Zentrum der Analyse, denn „Kriegsgeschichte ist Geschichte organisierter Tötungsgewalt.“ Mit Blick auf Carl von Clausewitz’ Beschreibung der Atmosphäre des Krieges zwischen Gefahr, körperlicher Anstrengung, Ungewissheit und Zufall formulierte Geyer: „Kein Zweifel, Krieg als physische Gewalt spielt sich in Form widerstrebender Gemütsbewegungen in den Köpfen und Leibern der Soldaten ab. Die Arbeit am Tode ist, als Arbeit am Leib, eine Arbeit in Metaphern. Sie kommt zu keinem Ende, da das Zerbrechen der Körper sich der Darstellung entzieht.“
Im Sommer 1968 wurde der nigerianische Bürgerkrieg durch die Veröffentlichung von Fotos hungernder ‚Biafrakinder‘ zu einem internationalen Medienereignis. Dieser „Bildakt“ bezog einen Teil seiner Wirkungsmacht daraus, dass viele Zeitgenossen die aktuellen Bilder mit Fotografien assoziierten, die während der Befreiung der Konzentrationslager 1945 entstanden waren. Gestützt auf Medienberichte, Publikationen von Aktivisten und Archivmaterial stellt der Aufsatz die Grundzüge der internationalen politischen Kommunikation über Biafra dar und analysiert die Bezüge zur beginnenden kulturellen Erinnerung an den Holocaust. Die Einschreibung Biafras in die Ikonographie des Holocaust ließ eine neuartige Rhetorik des Holocaust-Vergleichs entstehen, durch die sowohl der nigerianische Bürgerkrieg wie auch die Verbrechen des Nationalsozialismus als Genozid sichtbar wurden. Diese Rhetorik erzeugte zwar für kurze Zeit viel Aufmerksamkeit, ging jedoch an der komplexen Realität des Konflikts vorbei. Als sich herausstellte, dass Biafra kein ‚neuer Holocaust‘ war, verloren die Bilder und die dazugehörige Rhetorik des Vergleichs ihre Wirkungsmacht.