Gewalt
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Zum 30. Mal jährte sich 2007 der „Deutsche Herbst“. Angesichts der gegenwärtigen Diskurse um Terrorismus und Innere Sicherheit besitzt das Thema eine doppelte publizistische Relevanz, auch wenn die Ereignisse des Jahres 1977 mit den gegenwärtigen Entwicklungen kaum vergleichbar zu sein scheinen. Dennoch kann ein Blick in die Literatur jener Zeit vielleicht neue historische und aktualitätsbezogene Erkenntnisse liefern.
Jillian Becker, geboren 1932 in Johannesburg und seit den 1960er-Jahren britische Schriftstellerin und Journalistin, veröffentlichte kurz vor der Entführung Hanns Martin Schleyers am 5. September 1977 ihr 300 Seiten starkes Werk „Hitler’s Children“. Die Resonanz auf Beckers Studie war in der Bundesrepublik immens, so dass das Buch nur kurze Zeit später ins Deutsche übersetzt, im Titel mit einem Fragezeichen versehen und von der Autorin um den Epilog des „Deutschen Herbstes“ bis zum Tod der „ersten Generation“ der RAF ergänzt wurde. Das Werk erhielt die Newsweek-Auszeichnung „Buch des Jahres 1977“ und wurde in acht Sprachen übersetzt. Becker hatte damit die erste fundierte und penibel recherchierte Zusammenfassung über den Baader-Meinhof-Terrorismus der 1970er-Jahre geliefert, was sie neben Analysen zur PLO für ihre politische Beratungstätigkeit der Thatcher-Regierung in den 1980er-Jahren qualifizierte.
Am Beispiel des Russischen Bürgerkriegs untersucht der Aufsatz kollektive Gewalthandlungen in staatsfernen Räumen. Gewalt war dort nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch sinnstiftendes Medium. Die Aufzeichnungen des ehemaligen zarischen Offiziers Govoruchin bieten ungewöhnlich detaillierte Einblicke in die Geschehnisse in der ukrainischen Kleinstadt Gajsin. Bei mehreren Pogromwellen des Jahres 1919 ermordete die Truppe des Atamanen (Warlords) Volynec fast die gesamte jüdische Bevölkerung des Ortes. Antisemitismus war dafür nur ein Faktor neben anderen - die neuartige Pogromgewalt hatte vor allem Sinn und Bedeutung für die Kämpfergemeinschaft selbst, die eine Kultur der Gewalt ausbildete. Gewalthandlungen können als Kommunikationsformen verstanden werden, die Gemeinschaft, Autorität und Identität konstituieren. In der historischen Situation des Russischen Bürgerkriegs reproduzierte sich die Gewalt selbst und tendierte zur Entgrenzung. Der 25-jährige Volynec verdankte seine Führungsrolle einem gewissen Organisationsgeschick, vor allem aber einer schrankenlosen Gewaltbereitschaft.
Saul Friedländer, der im Oktober 2007 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde, hat für sein jüngstes Buch „Die Jahre der Vernichtung“ einhelliges Lob erhalten. Dabei wurde vor allem hervorgehoben, dass Friedländer die Stimmen der jüdischen Opfer zu Wort kommen lasse. Doch verdeckt dieses Lob, so gut es gemeint ist, eine wichtige Differenz. Friedländer, der 1932 in Prag geboren wurde, 1939 mit seinen Eltern nach Frankreich flüchtete, dort als Junge in einem katholischen Internat die deutsche Besetzung und Judenjagd überlebte, während seine Eltern auf der Flucht verhaftet und in Auschwitz ermordet wurden, Friedländer hat diese Stimmen der Verfolgten und Ermordeten noch gehört - wir Jüngeren nicht. Der offenkundige Wunsch zahlreicher Rezensenten, sich in Hörweite der Opfer zu versetzen, muss scheitern. Die Stimmen bleiben stumm. Und auch wenn Friedländers historiographische Kunst darin besteht, uns lesen und ahnen zu lassen, wovon die Stimmen sprechen, so ist diese Fremdheit doch unübersteigbar.
Das NS-Regime begann mit dem Ausnahmezustand. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 durch den Reichspräsidenten entsprach formal noch der Verfassung, obwohl die Präsidialkabinette der Weimarer Republik seit 1930 längst die verfassungsgemäße Balance zwischen Reichstag, Regierung und Präsidenten zugunsten autoritärer Regierungen ohne parlamentarische Mehrheit verschoben hatten und daher das Präsidialkabinett Hitler ebenso wenig wie seine Vorgänger dem demokratischen Inhalt der Weimarer Verfassung entsprach. Auch war der Wahlkampf zu den Reichstagswahlen Anfang März bereits von der Behinderung und Verfolgung der Opposition durch die Nationalsozialisten mit allen Mitteln des Staates, die ihnen nun zur Verfügung standen, gekennzeichnet.