1970er
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Dieses Themenheft trägt den Titel „Die 1970er-Jahre - Inventur einer Umbruchzeit“. Wie schwierig ihre Bilanzierung ist, deutet schon der am Ende des Jahrzehnts von Jürgen Habermas lancierte Versuch einer Ortsbestimmung mit dem Titel „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘“ an. Die Beiträger dieser Sammelbände versuchten „Begriff und Würde der Moderne“ gegen eine befürchtete konservative Wende zu verteidigen. Weit weniger Aufmerksamkeit widmeten die meisten von ihnen dem Beginn eines fundamentalen Strukturwandels, der das Ende der klassischen Industriegesellschaft signalisieren und das sozialliberale Zukunftsprojekt gefährden sollte. Aus heutiger Sicht vermitteln die Essays von 1979 eher den Eindruck einer verbreiteten Ratlosigkeit, als dass sie zum Verständnis der beginnenden ökonomisch-sozialen Strukturkrise beitragen würden. Originelle Denker wie Claus Offe erkannten durchaus bestimmte Tendenzen des Wandels, fassten ihre Beschreibungen und Deutungen aber in höchst zeitgebundene und normativ aufgeladene Begriffe („Spätkapitalismus“ etc.).
Radio Luxembourg war in der europäischen Rundfunklandschaft der Nachkriegszeit eine Ausnahme: Die privatkommerzielle Radiostation sendete werbefinanzierte Unterhaltungsprogramme in die benachbarten Staaten und erreichte damit ein Millionenpublikum. Die Autorin Anna Jehle zeigt anhand verschiedener Untersuchungsfelder - der Unternehmens- und Programmgeschichte, der Zielgruppen, der Marketingaktivitäten und des Werbezeitenverkaufs -, wie eng die Entwicklung der Konsumgesellschaft im Frankreich der sogenannten trente glorieuses mit der Verbreitung und Nutzung des Radios verbunden war. Mit seinem ganz auf Massenkonsum ausgerichteten Rundfunkkonzept war Radio Luxembourg nicht nur integraler Bestandteil, sondern auch Katalysator und Agent der Konsummoderne. Dies hatte weitreichende Auswirkungen für das französische Rundfunksystem, das sich unter dem Einfluss Radio Luxembourgs kommerzialisierte, und zwar bereits lange vor der Deregulierung des Rundfunks in den 1980er Jahren.
Seit dem Ende der 1960er-Jahre lieferte der für seine Sofortbildkameras und -filme bekannte US-amerikanische Fotografiehersteller Polaroid Apparate nach Südafrika, die zur effizienten Erstellung von Ausweisdokumenten für die schwarze Bevölkerung dienen konnten. Besonders in der Firmenzentrale in Massachusetts löste dies den Protest schwarzer Mitarbeiter/innen aus (Polaroid Revolutionary Workers Movement, PRWM). Die Fallstudie untersucht einige Pamphlete und Flugblätter, die sich elaborierter Manipulationen von Fotografien und einer aufrüttelnden Bildsprache bedienten. Die Bewegung setzte das Medium Fotografie gegen den Sofortbildhersteller ein, um diesen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Der Streit um den US-amerikanischen Handel mit Südafrika gelangte bis ins Repräsentantenhaus. Die Darstellung der Bild- und Konfliktgeschichte ermöglicht es zugleich, einen breiteren Blick auf die Genese und die konkrete historische Situation der ausweisbasierten Kontrollmechanismen im Apartheidstaat Südafrika zu richten. Der tatsächliche Einsatz der Polaroid-Technik für Überwachungszwecke lässt sich nicht eindeutig ermitteln, und der Protest hatte insofern Erfolg, als das Unternehmen seine Lieferungen nach Südafrika Ende der 1970er-Jahre stoppte.
Selten kommt es vor, dass ein Text 25 Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen ins Deutsche übersetzt wird. Das ist beim Mammutaufsatz von Juan José Linz über »Totalitarian and Authoritarian Regimes« aus dem Jahr 1975 der Fall. Und was das Erstaunen noch größer macht: Der deutsche Herausgeber und Übersetzer war Raimund Krämer, ein in der DDR am Potsdamer Institut für Internationale Beziehungen der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR ausgebildeter Wissenschaftler, der sich 1985 dort habilitiert hatte. Ausgerechnet einem Mitglied der einstigen Diplomatenschule der DDR, das einen engen Austausch mit Linz während dessen Georg-Simmel-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin 1997 gepflegt hatte, kommt nun das Verdienst zu, das Gedankengut des Hispano-Amerikaners im deutschen Wissenschaftsbetrieb stärker bekanntgemacht zu haben. Krämer gefiel die sachliche Analyse, die einen vordergründigen Moralismus mied, und das beiderseitige Interesse für latein- und mittelamerikanische Regierungssysteme dürfte die kollegiale Verbundenheit noch gefördert haben.
This article reassesses the emergence of human rights advocacy in 1970s West Germany from the perspective of memory politics. Focusing on the campaigns against political violence in South America, the article first traces the boom and bust of antifascist activism against the Chilean junta in the early 1970s. It then analyzes the displacement of abstract antifascist discourses by a more humanitarian human rights talk closely intertwined with concrete references to National Socialist crimes. Taking the perspective of grassroots advocates, this article explores how and why activists referenced the crimes of Nazism to defend human rights in the present. Finally, the article moves beyond the claim that human rights politics were minimalistic and even anti-antifascist, by showing how some human rights activists continued to think of themselves as antifascists. They infused antifascism with entirely new meanings by recovering the 20 July 1944 assassination attempt against Hitler as an acceptable example of anti-government violence.
Während der Apartheid-Ära führten die vielfältigen Verbindungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nach Südafrika zu Konflikten im westdeutschen Protestantismus. Einen Streitpunkt bildete die Frage, wie man sich zu Boykotten südafrikanischer Produkte, zu Desinvestitionen und zu Wirtschaftssanktionen verhalten sollte. Dieses Thema wurde in der Bundesrepublik seit Ende der 1970er-Jahre besonders durch die Evangelische Frauenarbeit in Deutschland und deren Kampagne »Kauft keine Früchte aus Südafrika!« in die Öffentlichkeit getragen. Beeinflusst von der Befreiungstheologie und der »Schwarzen Theologie« forderten südafrikanische Kirchen ihre ausländischen Partner wenige Jahre später dazu auf, sich für umfassende Sanktionen in ihren jeweiligen Ländern einzusetzen, um die Apartheid in Südafrika zu überwinden. Dieser Wandel innerhalb der südafrikanischen Kirchen veränderte den westdeutschen Protestantismus nicht nur auf kirchenpolitischer, sondern auch auf theologischer Ebene, wie die Rezeption des »Kairos-Dokuments« südafrikanischer Theologen von 1985 zeigt.
In beiden deutschen Teilstaaten gehörten die Rentenversicherungen zu den ersten Nutzern von Computern. Bereits seit Mitte der 1950er Jahre berechneten diese die Altersruhegelder im Westen, zehn Jahre später auch in der DDR. Die digitale Datenverarbeitung versprach große Rationalisierungs- und Beschleunigungseffekte. Gleichwohl führten die verschiedenen Staats- und Versicherungsformen zu einer unterschiedlichen Nutzung von Computern.
Die Studie von Thomas Kasper zeigt, unter welchen Bedingungen sich die elektronische Datenverarbeitung in der Sozialverwaltung durchsetzen konnte. Sie verdeutlicht, welchen bisher unbekannten Einfluss sie auf sozialpolitische Entscheidungen sowie auf die Arbeitsverhältnisse und den Datenschutz in beiden deutschen Teilstaaten hatte. Nach der Wiedervereinigung ließ nur die gemeinsame Nutzung der vorhandenen digitalen Strukturen die Zusammenführung beider Sozialsysteme gelingen.
Das Schweigen deuten. Stimm- und Wahlenthaltung als Streitgegenstand in der Schweiz (1960–1990)
(2023)
Wie gehen demokratische Gesellschaften mit einer sinkenden Stimm- und Wahlbeteiligung um? Seit den 1960er-Jahren führte dieses Phänomen in der schweizerischen Öffentlichkeit zur Diagnose eines demokratischen »Unbehagens« oder gar einer »Krankheit«. Während Nichtwähler:innen selbst in dieser Diskussion selten zur Wort kamen, drückten Politiker, Wissenschaftler und Journalisten (überwiegend Männer) mitunter Nostalgie für eine idealisierte, unmedialisierte Dorfpolitik aus. Die Einführung des Frauenstimmrechts im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre destabilisierte solche Ideale weiter, indem sie das androzentrische Staatsbürgerschaftsmodell des »Bürgersoldaten« in Frage stellte. Obschon nichtkonventionelle Partizipationsformen in dieser Zeit zunahmen, wurde die Stimm- und Wahlenthaltung zum »öffentlichen Problem«, über welches Politiker debattierten und zu dem sie wissenschaftliche Studien beauftragten. Die sich teilweise im Kreis drehende Diskussion führte zu einer Kritik der vertikalen Verhältnisse zwischen Repräsentierten und Repräsentanten – in einer demokratischen Kultur, die sich lange als horizontal stilisiert hatte. Ähnlich wie in der aktuellen, international regen Debatte über Bedrohungen der Demokratie standen die Deutungen der Stimm- und Wahlenthaltung als freie Projektionsfläche für Krisendiagnosen dabei in einem Gegensatz zur Komplexität des Phänomens als »polyphonem Schweigen«.
Zeitgeschichte ist häufig Streitgeschichte, d.h. Gegenstand nicht nur wissenschaftsinterner, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit geführter Debatten mit hohem Erregungspotenzial. Das Medium Ausstellung unterstützt solche Debatten oder ruft sie überhaupt erst hervor: Ausstellungen erreichen ein größeres Publikum als wissenschaftliche Schriften, bieten einen öffentlichen Kommunikationsraum und ermöglichen je nach Perspektive der Besucher unterschiedliche Lesarten von (Zeit-)Geschichte. Die beiden „Wehrmachtsausstellungen“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung haben dies paradigmatisch vor Augen geführt und in ihrer Wirkung selbst die Organisatoren überrascht.
Eine Grundfrage der von Péter Korniss erstellten fotografischen Arbeiten war stets die nach den Möglichkeiten der transgenerationalen Weitervermittlung von Werten innerhalb einer Gemeinschaft. Geht die „alte Welt“, gehen die ländlichen Traditionen in unserer modernen Zeit unwiederbringlich verloren? Werden die Bräuche vom Neuen überlagert? Oder gibt es Spuren des Vergangenen, die erfolgreich mit in die Zukunft übernommen werden können? Bei der Beschäftigung mit Korniss‘ fotografischem Werk fällt auf, dass er im Zuge seiner Arbeit eine Bindung, teilweise sogar Freundschaften, zu den fotografierten Menschen aufbaute und dass er sie über längere Zeiträume hinweg begleitete.
Das Buch bietet einen historischen Abriss der innerparteilichen Kontrollorgane der SED bis 1971 und ihrer Vorgeschichte. Die Kontrollorgane spielten im Prozess der Stalinisierung der SED und später während ihrer poststalinistischen Transformation und "Modernisierung" eine besondere Rolle. Sie galten als innerparteiliche "politische Polizei" bzw. als Wächter über "Einheit und Reinheit". Die Wirkungsgeschichte dieser Organe - insbesondere ihre Funktion bei den Parteisäuberungen, bei der Verfolgung von oppositionellen und widerständigen Sozialdemokraten und Kommunisten, bei der "Immunisierung" der SED gegen abweichende politische Konzeptbildungen und bei der Konditionierung ihrer Kader und Mitglieder - wird über den gesamten Untersuchungszeitraum dargestellt und in die allgemeine Partei- und Gesellschaftsgeschichte eingebettet. Besonderer Wert wird auf die Entschlüsselung der "internen Logik" dieser Organe sowie auf die Entwicklung ihrer Handlungsmaximen gelegt. Aus der Vielzahl von Fallbeispielen und Einzelschicksalen entsteht ein plastisches Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der DDR. (Verlagstext, siehe: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-13401-3.html)
Im Januar 1957 verfilmte die DEFA eine Kabarettnummer. Der Sketch „Hausbeleuchtung“ aus dem achten Programm der Ost-Berliner „Distel“ lieferte die Grundlage für die 98. Folge der satirisch-humoristischen Kurzfilmserie „Das Stacheltier“. Was ist im Film zu sehen? Wir erleben das Ende einer Hausversammlung, auf der ein Funktionär versucht hatte, ausschweifend die „brennenden Probleme des Zeitgeschehens immer noch heller zu beleuchten“. Seine Frage „Was bewegt Sie, wenn Sie einen Blick auf das Weltgeschehen werfen?“ wird durch einen Kameraschwenk über die Hausbewohner beantwortet, die eingenickt sind: Sie bewegt nichts. Vom Redner „zur Diskussion“ geweckt, stellen sie Fragen, die sie tatsächlich interessieren, nach der Reparatur der Hausbeleuchtung und der morschen Treppe. „Aber Freunde“, geht der Referent darüber hinweg, „das sind doch Kleinigkeiten [...] Wir müssen doch immer das große Ganze sehen [...]“ - „Aber das können wir doch nicht, wenn wir kein Licht haben!“, versucht ein Bewohner spitzfindig, den Redner auf die Niederungen des Alltags zu zwingen. Nur seinen Auftrag im Blick - die Belehrung in Sachen Weltgeschehen - weigert sich dieser jedoch hartnäckig, auf die konkreten Fragen der Hausbewohner einzugehen. Auf diese Ignoranz folgt in der Szene umgehend die Strafe: Als der Funktionär die Versammlung beendet und forsch abgeht, bricht unter ihm die unbeleuchtete, morsche Treppe zusammen. Lädiert, aber mit unerschüttertem Optimismus, verabschiedet er sich von uns, dem Publikum: „Für wahre Demokratie und Frieden! Und für eine lichtere Zukunft!“
Verlagstext Böhlau: "Satirische Kritik, die sich auf die DDR richtete, widersprach dem Optimismus, den die SED in ihren Medien verbreiten ließ. Und dennoch war die Partei gezwungen, satirische Kurzfilme, Berufskabaretts und eine Satirezeitung, deren verkaufte Auflage eine halbe Million erreichte, zu etablieren. Worin
bestand dieses Paradox DDR-Satire? Wie kam es zum ersten satirischen Großprojekt in der DDR, der DEFA-Stacheltier-Produktion? Weshalb gab es in den siebziger Jahren eine zweite Gründerzeit für Kabaretts? Worin unterschied sich der frühe Eulenspiegel vom späten?
Die Untersuchungen zur frühen und späten Satire in der DDR richten sich auf satirische Kurzfilme, die DEFA-Stacheltiere, die Satirezeitschrift Eulenspiegel und Kabarettprogramme des Potsdamer Kabaretts am Obelisk, der Dresdner Herkuleskeule und des Leipziger Studentenkabaretts Rat der Spötter. In den Blick genommen werden Grenzbereiche: Die ersten satirischen Unternehmungen und späte Satiren im letzten Jahrzehnt der DDR, Phasen, in denen Funken sprühten, die in Höhepunkten und Niederlagen endeten."
Im offiziellen Selbstverständnis von Staat und Partei war die DDR eine Arbeitsgesellschaft - die (Aufbau-)Arbeit für den Sozialismus bildete eine zentrale Sinnressource. Wer sich diesem übergreifenden Prinzip nicht unterordnen wollte, aus welchen Gründen auch immer, sah sich oft beruflich diskriminiert. Besonders in den 1970er- und 1980er-Jahren versuchte der SED-Staat berufliche Ausgrenzung als politisches Kontroll- und Erziehungsmittel einzusetzen. Vielfach führte diese Strategie jedoch zum Gegenteil des Gewünschten: Beruflich Benachteiligte wurden gerade durch die Praxis der Ausgrenzung stärker politisiert und schufen sich neue widerständige Handlungsräume. Anhand von zwei Beispielen des individuellen Umgangs mit beruflicher Diskriminierung wird das Wechselverhältnis zwischen dieser Diskriminierung und politischer Gegnerschaft untersucht - ein Aspekt, der in bisherigen Forschungen zur DDR-Opposition kaum berücksichtigt wurde und der zu einer stärker gesellschaftsgeschichtlichen Fundierung solcher Forschungen beitragen kann.
Der Beruf nimmt im Leben eines Menschen einen sehr wichtigen Platz ein. Über den reinen Broterwerb hinaus, bestimmt er seine Rolle und Bedeutung in der Gesellschaft. Berufe strukturieren also die Gesellschaft und die Interaktion ihrer Mitglieder. In der DDR waren Arbeit und Beruf zentrale Elemente, die dem Einzelnen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen sollten. In der Tat wurden soziale Dienstleistungen wie Kinderbetreuung über berufliche, speziell betriebliche Netzwerke verteilt. Die Arbeitsbeziehungen waren für den Einzelnen von zentraler Bedeutung, nicht so sehr hinsichtlich der materiellen Tätigkeit, sondern eher in Bezug auf den „Betrieb als sozialen Ort“, also dem Betrieb als „Verteilungsinstanz von Sozialleistungen“, der Anknüpfungspunkte für informelle soziale Beziehungen“ bot, „die ihr Anwendungsfeld hauptsächlich jenseits der Arbeit und zum Teil auch außerhalb des Betriebes fanden“. So las man in der Erklärung zum 1977 in Kraft getretenen Arbeitsgesetzbuch der DDR, dass die „Arbeit [...] die wichtigste Sphäre des gesellschaftlichen Lebens“ sei. Weiter wurde in dieser Erklärung die Rolle von Arbeit und Beruf nicht nur für die Gesellschaft benannt, sondern ebenso für „die Entwicklung jedes einzelnen ihrer Mitglieder“.
Der Artikel betrachtet die späten 1960er- und die 1970er-Jahre als eine Umbruchszeit, in der in West- wie in Osteuropa fundamental neue Gesellschaftsentwürfe formuliert wurden. Ausgehend von 1968 als transnationalem Protestjahr wird gefragt, inwieweit sich die an Bedeutung zunehmenden Oppositionsbewegungen im östlichen Teil Europas von den neuen sozialen Bewegungen in Westeuropa unterschieden. Dabei werden die Geschlechterbeziehungen in den staatssozialistischen Gesellschaften ins Zentrum der Analyse gerückt, und es wird herausgearbeitet, inwieweit die Formung der Geschlechterverhältnisse durch staatliche wie oppositionelle Politik neue Gesellschaftsentwürfe beeinflusste. Die Konservierung traditioneller Geschlechterverhältnisse war sowohl für die Regime als auch für die oppositionellen Bewegungen funktional. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass im östlichen Europa - im Gegensatz zu Westeuropa und den USA - aus den gesamtgesellschaftlichen Protestbewegungen keine einflussreiche Frauenbewegung hervorging.
Was ist deine Arbeit wert?
(2019)
Es ist auf den ersten Blick erkennbar, wer auf dieser Aufnahme des Hobbyfotografen Günter Franzkowiak aus dem Jahr 1975 die Hauptrolle spielt: ein Lohnzettel, oder, um genau zu sein, gleich drei davon. Die Blicke der drei Arbeiter des Volkswagenwerks in Wolfsburg lenken auch den des Betrachters unweigerlich auf jenen Papierstreifen, den der Arbeiter im Arbeitskittel am linken Bildrand in den Händen hält.
Zwischen Popkultur, Politik und Zeitgeschichte. Von der Schwierigkeit, die RAF zu historisieren
(2004)
Debatte, Konflikt, Affäre, Gesinnungsstreit - noch immer gibt es keinen allseits akzeptierten Begriff zur Kennzeichnung dessen, was im Sommer 2003 mehr als nur die Feuilletons in Aufregung versetzt hat. Die „Bild“-Zeitung hatte eines Morgens „Skandal“ gerufen, und (beinahe) alle folgten. Was am ersten Tag noch „Skandal-Ausstellung“ hieß, das wurde bereits am Tag darauf als „Terror-Ausstellung“ bezeichnet - mit dem suggestiven Unterton, dass sich ein kulturelles Unternehmen vielleicht selbst in ein Instrument des Terrorismus verwandelt haben könnte. Die Reaktionsmuster ähnelten in mancher Hinsicht denen aus der Zeit der sogenannten Mescalero-Affäre. Doch diese ereignete sich auf dem Scheitelpunkt der RAF-Geschichte und liegt inzwischen mehr als ein Vierteljahrhundert zurück - ein Zeitraum, in dem sich nicht nur die weltpolitischen Koordinaten gravierend verschoben haben, sondern sich die besagte Gruppierung, an deren weiterer Existenz längst Zweifel aufgekommen waren, auch offiziell aufgelöst hat.
Es herrscht Bürgerkrieg, Bürokratie und Korruption lähmen die Regierung, das Parlament ergeht sich in endlosen Debatten - dies ist die Situation, in der sich die Demokratie selbst den Todesstoß versetzt: Sie ruft nach einem starken Mann. Damit beginnt der Aufstieg eines Politikers zur Herrschaft über das Imperium in der Star-Wars-Galaxis. „Um weiterhin allgemeine Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, wird die Republik umgestaltet werden, und zwar zum ersten galaktischen Imperium zum Wohle und Nutzen einer stabilen und sicheren Gesellschaft“, erklärt der künftige Diktator, während sich die Kamera öffnet und den Blick auf eine unüberschaubare Masse begeistert zustimmender Parlamentarier freigibt. Nur sehr leise gibt es auch eine kritische Stimme zu hören: „So geht die Freiheit zu Grunde mit donnerndem Applaus.“ Die imperiale Machtübernahme steht im Mittelpunkt der Handlung des Star-Wars-Films „Die Rache der Sith“, der im Mai 2005 als sechster und letzter Film der Serie in die Kinos kam.
Wir sind das Volk ist ein Strategie-Brettspiel, in dem der historische Verlauf der innerdeutschen Teilung spielerisch nacherzählt und erlebbar wird. Entwickelt von Peer Sylvester und Richard Sivélerschien es 2014 im Histogame Verlag. Motiviert wurde die Entwicklung durch das Interesse Sylvesters am Konzept „zwei[er] getrennte[r] Staaten, die sich nebeneinander entwickeln und miteinander konkurrieren.“ [1] Das Spiel ist nicht primär geschichtspolitisch motiviert, kann aber durch das kontrafaktische Spielprinzip einen besonderen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten. Das Spiel erhielt viel positive Resonanz und wurde insbesondere für seine Rahmenhandlung und die Spielmechanik gelobt.
„Computerspiele einschließlich anderer interaktiver Unterhaltungsmedien (Video-/Konsolen-, Online- und Handyspiele) haben in den letzten Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Sie sind in Deutschland wirtschaftlich, technologisch, kulturell und gesellschaftlich zu einem wichtigen Einflussfaktor geworden. [...] Computerspiele transportieren gesellschaftliche Abbilder und thematisieren eigene kulturelle Inhalte. Sie werden damit zu einem bedeutenden Bestandteil des kulturellen Lebens unseres Landes und sind prägend für unsere Gesellschaft.“1 Wie der Beschluss des Deutschen Bundestags zur Einrichtung des Deutschen Computerspielpreises zeigt, der seit 2009 jährlich vergeben wird, werden Computerspiele mittlerweile auch von offizieller Seite als ebenso bedeutsam wahrgenommen wie andere, bereits etablierte Kulturgüter. Diese Entwicklung entspricht in ihrer Grundtendenz derjenigen anderer Medien wie Film oder Comic, deren kulturelle Bedeutung ebenfalls erst einige Zeit nach ihrer Erfindung gesellschaftlich anerkannt und staatlich gefördert wurde.
Die gezeigte Szene war Teil der täglichen Sendung »Medizin nach Noten«, einem Fernsehformat, das die DDR jahrzehntelang begleitete – und bis über ihr Ende hinausreichte. Die Erstausstrahlung erfolgte zu Beginn der 1960er-Jahre, die letzte Ausstrahlung 1994. Bemerkenswert ist diese Sendung nicht nur wegen der sehr langen Laufzeit, sondern auch, weil sie besondere Einblicke in die Geschichte des Sports und gleichzeitig in diejenige des Fernsehens der DDR liefert. Der folgende Beitrag versucht zu zeigen, in welcher Weise durch die Verbindung dieser beiden Geschichten neue Perspektiven für das Konvergenz- oder auch Spannungsfeld von Gesundheit, Politik und Ökonomie hervortreten.
Nichts Besonderes. Bundesdeutsche Rüstungsexporte nach Israel in der sozialliberalen Ära (1969–1982)
(2020)
Auf breiter empirischer Grundlage überprüft der Aufsatz das gängige Bild, aus historischer Verantwortung habe die Bundesrepublik Deutschland den Staat Israel schon immer besonders großzügig mit Waffen beliefert. Im Fokus steht die Rüstungsexportpolitik der sozialliberalen Bundesregierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Anhand interner Regierungsakten sowie auch internationaler Datenbanken der Friedensforschung wird in komparativer Perspektive untersucht, welche Rüstungstransfers von 1969 bis 1982 mit Bonner Zustimmung an Israel und andere Empfängerländer gingen. Der jüdische Staat, so zeigt sich, genoss als Abnehmer westdeutscher Militärware keineswegs eine bevorzugte Stellung – nicht einmal im Vergleich zu arabischen Ländern, mit denen er sich im Kriegszustand befand. Was den Bonner Kurs auf diesem Feld bestimmte, war nüchternes politisches und ökonomisches Eigeninteresse, nicht das Postulat, wegen des Holocaust gegenüber Israel in besonderem Maße verpflichtet zu sein. Der Befund sensibilisiert für die Brüche in der Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen, auch für die Zusammenhänge zwischen Erinnerungskultur und Außenpolitik, die in der Bundesrepublik erst ab Anfang der 1980er-Jahre stärker zum Tragen kamen.
„Unhappy is a society that has run out of words to describe what is going on“, schrieb Daniel Bell 1973 in „The Coming of Post-Industrial Society“ (S. 294). Bell war diesbezüglich um Worte nicht verlegen, und hier liegt die historische Relevanz des Buches: Es handelt sich um einen bis heute einflussreichen Versuch, einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel westlicher Industriegesellschaften zu beschreiben und intellektuell zu erfassen, während er sich noch vollzog. Bell, der sich schon in seiner Studienzeit als „Spezialist für Generalisierungen“ bezeichnet hatte, wagte damit den großen Wurf, ordnete gesellschaftliche Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg in weiter Perspektive historisch ein und identifizierte langfristige Trends. Die zukünftige Gesellschaft werde eine postindustrielle sein, und die USA hätten diese Schwelle zum Beginn der 1970er-Jahre bereits überschritten. Unter den zeitgenössischen gesellschaftstheoretischen Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsentwürfen nimmt Bells Konzept der postindustriellen Gesellschaft auch deshalb eine Sonderstellung ein, weil es sich umgehend als ein bekanntes, wenn auch verkürzendes Schlagwort etablierte.
Am 1. Oktober 1973 nahmen die Hochschulen (seit 1985 Universitäten) der Bundeswehr in Hamburg und München ihren Lehrbetrieb auf. Hervorgegangen aus jahrelangen Diskussionen über Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr, sollten sie allen Offizieren ein vollwertiges wissenschaftliches Studium bieten, um sie für ihre militärischen Führungsaufgaben sowie für den zivilen Arbeitsmarkt nach ihrer Dienstzeit zu qualifizieren. Neben der Attraktivität der soldatischen Laufbahn kamen zwei weitere Argumente hinzu: zum einen die militärische Effektivität unter den Vorzeichen der wissenschaftlich-technischen Systemkonkurrenz im Kalten Krieg, zum anderen die integrative Funktion akademischer Bildung für Soldaten als »Staatsbürger in Uniform«. Erst das Ineinandergreifen dieser drei Argumentationsstränge ermöglichte die Gründung der Hochschulen, gegen die Kritik von konservativen Militärs und aus der Studentenbewegung. Der Aufsatz ordnet die verschiedenen Motivationen für die Akademisierung der Offizierslaufbahn seit den frühen 1960er-Jahren historisch ein und erklärt die Spannungen der Gründungsgeschichte im Kontext der allgemeinen Hochschulexpansion.
In konfessionsvergleichender Perspektive behandelt der Beitrag das Verhältnis der christlichen Großkirchen zu den sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik. Genauer untersucht werden die Interaktionen mit den frühen Protestbewegungen, der Studentenbewegung, der „Dritte-Welt“-Bewegung sowie der Friedensbewegung. Die Abgrenzungs- und Transferprozesse zwischen Kirchen und Bewegungssektor werden als Reaktionen des kirchlich verfassten Christentums auf die Wandlungsprozesse der bundesdeutschen Gesellschaft verstanden. Es wird gezeigt, dass die beiden Kirchen aus strukturellen, kirchenpolitischen und theologischen Gründen bei ähnlichen Herausforderungen verschieden agierten. Als Bindeglieder zu den sozialen Bewegungen werden die Bewegungsgruppen innerhalb und am Rande der Kirchen ausgemacht, die oft transkonfessionell handelten. Sie beförderten innerhalb der Bewegungen eine Moralisierung der Politik und in ihren Kirchen eine Politisierung der Religion.
Zwischen 1950 und 1980 wurden Säuglinge in der Bundesrepublik zunehmend mit Flaschenmilch ernährt. Die Produktpalette war groß, und die Werbestrategien der Nahrungsmittelhersteller waren ausgeklügelt. Dies allein kann jedoch nicht der Grund für die steigende Nutzung der Säuglingsflasche gewesen sein. Sie wird hier mit einer explizit dinghistorischen Perspektive untersucht: Wie kam sie in die Familie, und wie veränderte sie die Beziehungen von Müttern, Vätern und Säuglingen? Müttern versprach die Säuglingsflasche mehr Freiheiten in der Gestaltung ihres Alltags; Vätern ermöglichte sie es, ihre Männlichkeit neu zu definieren, indem die Väter ihre Kinder selbst fütterten. Eher als in der Bundesrepublik wurde in Schweden die Versorgung von Kleinkindern diskutiert und eine stärkere Mitverantwortung der Männer für die Familie gefordert. Für beide Länder lässt sich beobachten, dass die Säuglingsflasche – zusammen mit anderen Akteuren – die Familie während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgestaltete. In beiden Ländern verlief dies durchaus kontrovers.
Von einer „Gesellschaft“ der DDR zu reden, ist auch zehn Jahre nach ihrem Ende noch immer alles andere als selbstverständlich. Als „Staat“ war und ist sie allemal leichter auszumachen: ein Ensemble von Institutionen, Ordnungen und Verfahren in Deutschland, dessen äußerer Bestand von einer Weltmacht garantiert wurde und das sich nicht zuletzt durch seine Entgegensetzung zur Bundesrepublik zu legitimieren suchte. Von einem totalitären Gestaltungswillen durchdrungen, der sich auf alle sozialen Beziehungen und Lebensbereiche auf seinem Territorium erstreckte, repräsentierte der „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ im Selbstbild wie in der Fremdwahmehmung die historische Alternative zum bürgerlich-liberalen Rechtsstaat in Westdeutschland. Diese Eindeutigkeit seiner Konturen begleitete ihn bis in den Untergang, der vertraglich definiert und exekutiert werden konnte. Infolge der Privatisierung staatlichen Vermögens kann, wer will, auch den „Marktwert“ dieses Staates im nachhinein bestimmen.
Nach 1989 dauerte es einige Jahre, bis diese beiden in Geschichte- wie in den benachbarten Gesellschaftswissenschaften angesiedelten Paradigmen zu einem konstruktiven Verhältnis wechselseitiger Ergänzung fanden. Davon profitieren nun auch die neuen Ansätze zur Erforschung der Geschichte des Kalten Krieges. Die hier vorgelegte Sammlung von Aufsätzen ist im Umfeld eines Forschungsprojektes entstanden, das Teil dieser Konjunktur ist und am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam seit 2001 das Verhältnis von Massenmedien und Kaltem Krieg bearbeitet. Es handelt sich um Zwischenergebnisse aus individuellen Einzelforschungen. Arbeiten zu weiteren Untersuchungsgegenständen, deren Ergebnisse in einem weiteren, umfangreicheren Band zur Kulturgeschichte des Kalten Krieges in Europa zusammengefasst werden, dauern noch an. Die folgenden Thesen zur gesellschafts- wie mediengeschichtlichen Interpretation des Kalten Krieges halten gleichwohl in aller Vorläufigkeit und Kürze einige Grundannahmen wie auch erste allgemeine Befunde der gemeinsamen Projektarbeit fest.
Warum widmete Walter Ulbricht zehn Jahre lang seine knapp bemessene Freizeit parteigeschichtlichen Fragen? Hatte das Politbüro nichts Besseres zu tun, als über die Redaktion der Briefe Thälmanns zu beraten? Was stand dahinter, wenn Otto Grotewohls fünfbändige Geburtstagsausgabe an einer einzigen Fußnote scheiterte, und weshalb schmolz die Pieck-Ausgabe von fünfzehn Bänden auf sechs zusammen? Welche Geheimnisse verbargen sich hinter dem Streit um den richtigen "Charakter der Novemberrevolution", was durfte man wann über Stalins "Personenkult" schreiben, und warum lautete die einzig richtige Reihenfolge "Karl und Rosa"? Im ideologischen Kernbereich der SED konnte jedes falsche Komma ein politischer Fehler sein und ein gestrichener Name einen Kurswechsel andeuten. "Der rote Faden" führt den Leser in ein untergegangenes Diskurs-Labyrinth, in dem parteigeschichtliche Texte sehr, sehr ernst genommen wurden. Im Mittelpunkt steht dabei die achtbändige "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" von 1966, eine mit einzigartigem Aufwand fabrizierte und verbreitete "Heilige Schrift" der SED. (Verlagstext, siehe: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-04603-3.html)
Angela Davis war eine der intellektuellen Leitfiguren der afroamerikanischen Bewegungen für Freiheit und Gleichheit in den USA. Als sie von 1970 bis 1972 inhaftiert war, gab es in der DDR eine breite Solidaritätskampagne, initiiert von der SED-Führung und mobilisiert durch die Massenorganisationen. Diese Kampagne verweist auf eine transnationale Dimension in der Geschichte der DDR; Davis wurde als „unsere Genossin“ vereinnahmt. Der Beitrag zeigt, welche Bedeutung die Kampagne im Rahmen der internationalen Anerkennungsbestrebungen der DDR hatte, welchen Stellenwert sie aber auch innenpolitisch gewann. Nach ihrer Freilassung besuchte Davis 1972 und 1973 die DDR und wurde als sozialistische Heldin präsentiert. Dies ist nicht allein als Ausdruck propagandistischer Steuerung zu verstehen, sondern zugleich als Teil einer genuinen Alltagskultur des Kalten Kriegs in der DDR.
Die Revolution in der Produktkultur kommt unspektakulär daher: Im Herbstheft der Zeitschrift „Kultur im Heim“ von 1967 werben die Deutschen Werkstätten Hellerau mit einem Rastermotiv, das das Möbelprogramm Deutsche Werkstätten (MDW) ankündigt. Zwar steht im Vordergrund noch das Holz als Qualitätshinweis, doch ist alles in das kommende Maßsystem eingepasst - selbst das historisierende, an deutsche Handwerkskunst erinnernde Markenzeichen.
Unter dem Titel „Landsleute“ hat der Fotojournalist Rudi Meisel Bilder aus Reportagen zusammengestellt, die zwischen 1977 und 1987 in der DDR, im Ruhrgebiet und in West-Berlin entstanden sind. Sie sind als Ausstellung – 2015 in der Fotogalerie C/O Berlin gezeigt – nun im Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung zu sehen: Anlass für Fragen an den Fotografen zwischen Zeitgenossenschaft und Geschichte.
Gerichte handeln reaktiv; das heißt, sie werden nicht aus eigener Initiative, sondern erst durch Anruf von außen in Bewegung gesetzt, der auch in sozialistischen Staaten (vom Strafrecht einmal abgesehen) in aller Regel nicht vom Staatsanwalt, sondern von Bürgern (und zivilrechtlich handelnden volkseigenen Betrieben) kam. Um sein Rechtssystem im Justizalltag durchzusetzen, war also auch der sozialistische Staat auf die Mithilfe seiner Bürger angewiesen. Durch Nicht-Anrufen konnten Bürger das Recht unterlaufen; durch die Art und Weise, wie sie Gerichte benutzten, konnten sie seine Wirksamkeit beeinflussen; durch ihre Erfahrungen vor Gericht wurden die Bürger ihrerseits in bestimmten Haltungen und Wertvorstellungen bestätigt. In diesem Beitrag will ich die gegenseitige Abhängigkeit von Bürger und Rechtssystem im sozialistischen Rechtsalltag untersuchen. In welchen Angelegenheiten wandten sich Lüritzer Bürger an ihr Gericht? Wie wurden sie vom Gericht behandelt und wie verhielten sie sich selbst? Wie beeinflußte die Alltagspraxis der ostdeutschen Justiz die Wirksamkeit des Rechts als Instrument gesellschaftlicher Veränderungen? Und welche Nachwirkungen können wir heute beobachten?
„History, in general, only informs us what bad Government is“, schrieb Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident der USA, im Juni 1807. Mit der rund drei Jahrzehnte zurückliegenden Loslösung vom britischen Mutterland, mit der Revolution und der Gründung der Republik hatte sich die Frage danach, was „gute“ von „schlechter“ Regierung unterscheide, in Nordamerika mit besonderer Dringlichkeit gestellt. Schließlich hatte man in den ehemaligen Kolonien bewusst den Despotismus verabschiedet und eine Gesellschaftsordnung auf den Weg gebracht, die das Glück des Einzelnen, Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu ihren Grundsätzen erhob. Damit wurden die leitenden Prinzipien der Aufklärung in der politischen und gesellschaftlichen Realität auf die Probe gestellt. John Adams, ein weiterer „Gründervater“ und später zweiter Präsident der Republik, hatte schon einige Monate vor der Unabhängigkeitserklärung geschrieben, mit der Revolution lösten sich sämtliche autoritär strukturierten Herrschaftsverhältnisse, und zwar nicht nur diejenigen zwischen Mutterland und Kolonien, sondern auch die zwischen Herren und Sklaven, Lehrjungen und Meistern oder Eltern und Kindern. Angesichts solcher Veränderungen empfand Adams - wie viele andere auch - nicht nur Freude und Zuversicht, sondern zugleich ein gewisses Unbehagen. Man musste neue Formen der Regierung finden, die die Menschen ohne imperativen Zwang derart führten, dass sie in einer freiheitlichen Ordnung funktionierten.
Während die Jahrzehnte des Booms nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine weitgehend stabile Ordnung geprägt waren, setzte mit dem Sinken wirtschaftlicher Wachstumsraten, dem Zerfall des internationalen Währungssystems und den beiden Ölpreiskrisen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Zeit zunehmender Komplexität unternehmerischer Entscheidungen ein. Statt der bis dahin dominierenden Orientierung an der Produktion wurde der Markt zum wichtigsten Bezugspunkt und die Kapitalrendite zum maßgeblichen Indikator. Am Beispiel des Chemiefaserproduzenten Enka Glanzstoff bzw. dessen Mutterkonzern Akzo wird gezeigt, auf welche Weise der Markt durch die Öffnung der Vorstandsetagen für externe Berater (in diesem Fall von McKinsey) an Bedeutung gewann. Seit den 1970er-Jahren wurden zahlreiche Unternehmen nach kompetitiv gedachten Organisationsprinzipien umstrukturiert. Trotz der Gegenwehr von Gewerkschaften und Betriebsräten schritt damit auch die interne Vermarktlichung von Unternehmen voran. Während die Unternehmen zudem stärker multinational agierten, gelang dies den Arbeitnehmervertretungen nicht in gleichem Maße.
Es war eine reizvolle Aufgabe, die Jürgen Habermas (im Zusammenspiel mit Günther Busch und Siegfried Unseld vom Suhrkamp-Verlag) Mitte 1978 Freunden und Kollegen stellte: Wolle man nicht, fragte er an, das bevorstehende Erscheinen des 1000. Bandes der edition suhrkamp (es) zum Anlass nehmen und eine Zeitdiagnose aus linksintellektueller Sicht wagen? 32 Autoren - Wissenschaftler, Publizisten, Schriftsteller - folgten seinem Aufruf und sandten ihre Beiträge ein, so dass aus der ‚es 1000’ sogar zwei Bände mit insgesamt 861 Seiten wurden. Das Projekt war ambitioniert, obgleich Habermas um einen moderaten Grundton bemüht war. Als Vorbild fungierte der 1000. Band der Sammlung Göschen, „Die geistige Situation der Zeit“ von Karl Jaspers, 1931 erschienen. Jaspers’ Schrift war ganz dem kulturkritischen Duktus seiner Zeit verhaftet gewesen, hatte er doch die fortschreitende Rationalisierung und Technisierung der Welt als Ursachen einer allgemeinen menschlichen Sinnkrise gedeutet, die nicht mehr innerweltlich zu lösen sei, sondern nur durch den Sprung des Einzelnen in die Transzendenz.
Der Rechtsterrorismus in der Bonner Republik wird erstmals eingehend in seiner ganzen Bandbreite untersucht.
Der Rechtsterrorismus wurde in Deutschland jahrzehntelang als Problem für die innere Sicherheit unterschätzt. Das Bild vom verwirrten Einzeltäter prägte den Diskurs. Erst die Aufdeckung der Morde des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) machte Politik und Gesellschaft die unmittelbare Gefahr bewusst. Auch die bundesdeutsche Zeitgeschichte befasste sich lange kaum mit dem Rechtsterrorismus, obwohl dessen Geschichte bis in die frühen 1960er Jahre zurück reicht.
Darius Muschiol untersucht anhand vielfältiger Akten und Dokumente den Entstehungs- und Entwicklungsprozess des bundesdeutschen Rechtsterrorismus bis 1990. Er blickt auf die Radikalisierungsprozesse der Rechtsterroristen, deren Vernetzungen, ihr Agieren und die Bewertung dieser Gewalt durch Politik, Justiz und Öffentlichkeit. Zudem stehen die jeweiligen Feindbilder, die gesellschaftliche Einbettung des Terrorismus und dessen Kommunikationsstrategien im Vordergrund. Im Blick stehen dabei auch bekannte Gruppierungen und Ereignisse wie die »Wehrsportgruppe Hoffmann« oder das Oktoberfestattentat 1980, vor allem aber zahlreiche bislang kaum oder unbekannte Akteure. Ebenso zeigt der Autor die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Reaktionen. Dabei arbeitet er insbesondere heraus, dass es sich eben nicht um Einzeltäter handelte, sondern dass gerade diese Sicht die Gewalt verharmloste. Darius Muschiol ergänzt damit den Blick auf die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik wesentlich.
Ernst Friedrich Schumachers vor 50 Jahren erschienenes Buch »Small is Beautiful« wurde in den 1970er-Jahren schnell zu einem Standardwerk der Technikkritik und der Debatten um alternative Wirtschaftsformen im globalen Zusammenhang. Vor allem im expandierenden Feld der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Bürgerinitiativen wurde Schumacher zu einem wichtigen Stichwortgeber. Bis heute wird das Buch als Referenz für alternative Konzepte von Wirtschaft und Gesellschaft angeführt – vom »Green New Deal« über die »Donut-Ökonomie« bis zur »Postwachstumsgesellschaft«. Gerade im Kontext der ökologischen Krisen der Gegenwart und der kritischen Sicht auf Wachstumsziele als Selbstzweck ist Schumachers Plädoyer für eine »Rückkehr zum menschlichen Maß« hoch aktuell. Von den Traditionen des ökonomischen Denkens des 20. Jahrhunderts geprägt, scheint sein Buch in besonderem Maße geeignet, Anknüpfungspunkte für das Wirtschaften »in einer endlichen Welt« zu liefern. Aber es sind auch andere, stärker historisierende Lesarten möglich.
Foucault war einer der ersten Theoretiker, die die Historizität des Körpers radikal herausgestellt haben; seine Bedeutung für die Körpergeschichte ist entsprechend häufig hervorgehoben worden. Die meisten körperhistorischen Studien im Anschluss an Foucault haben sich auf die in „Überwachen und Strafen“ beschriebenen Disziplinartechniken und seine Überlegungen zur Biomacht in „Sexualität und Wahrheit“ bezogen. Weitgehend unbeachtet blieb in Foucaults Machtanalytik zunächst der Zusammenhang von Zugriffen auf den Körper und modernem Staat - ebenso wie die Dimension des Subjekts. Der in Foucaults Vorlesungen von 1978 und 1979 entwickelte weite Begriff von ‚Regierung‘ ist als Versuch zu verstehen, Staat und Subjekt in seine Machtanalyse zu integrieren.
Sowjetische Soldaten und Zivilpersonen bildeten mit einer Gesamtzahl von über einer halben Million Menschen die größte Gruppe von Ausländem in der DDR. Durch ihre flächendeckende Präsenz gehörten sie beinahe 50 Jahre lang für einen sehr großen Teil der ostdeutschen Bevölkerung zum Alltag. Nach Schätzungen von Kurt Arlt hielten sich zwischen 1945 und 1994 insgesamt etwa 10 Millionen Bürger der Sowjetunion bzw. ihrer Nachfolgestaaten als Soldaten, Zivilbeschäftigte der Streitkräfte oder deren Familienangehörige auf deutschem Boden auf.3 Verglichen mit den quantitativ deutlich kleineren Gruppen der Vertragsarbeiter und politischen Emigranten stellten sie daher in der DDR gleichsam „die Fremden“ schlechthin dar.
Im Juni 2020 nahm Emery Mwazulu Diyabanza einen aus dem Tschad stammenden hölzernen Grabpfosten aus dem 19. Jahrhundert und versuchte hiermit das Museum zu verlassen. Er rechtfertigte seine Tat, dass er gestohlenes Eigentum zurückfordere. Im Oktober verurteilte ein Gericht ihn wegen Diebstahl zu einer Geldstrafe. Der aus dem Kongo stammende Diyabanza dokumentierte die Aktion auf youtube und leistete hiermit einen Beitrag für die aktuelle Debatte um Restitution von Objekten, die in kolonialen Kontexten erworben wurden.
„Wem gehört Kulturgut?“ – Diese Frage wird in den letzten Jahren verstärkt diskutiert. Die Aufmerksamkeit für koloniale Sammlungen wird dabei durch Forderungen aus den sogenannten Herkunftsländern oder Interventionen wie dem Sarr/Savoy-Bericht bestärkt. Sie trifft auf eine Diskussion um Deutschlands koloniale Vergangenheit, die sich derzeit vor allem an Forderungen der Herero und Nama, an Straßennamen, am Humboldt Forum oder an Diskussionen um Rassismus festmacht.
In der aktuellen Debatte wird dabei oft übersehen, dass bereits vor einigen Jahrzehnten intensive Debatten um postkoloniale Restitution geführt wurden. Ziel dieses Beitrages ist es, diese Fragen an einem historischen Beispiel zu untersuchen und verschiedene Perspektiven auf die Frage, wem Kulturgut gehört, aufzuzeigen.
Kaum eine Ausstellung hat eine derartige Aufmerksamkeit auf sich gelenkt wie diese. In der Zeitgeschichtsforschung ist die durch sie und mit ihr herbeigeführte epochale Zäsur unbestritten. Im Jahr 1981 bildete die Ausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ den Höhepunkt einer regelrechten „Preußenwelle“. Bereits gegen Ende der 1970er Jahre war ein gestiegenes Interesse der Öffentlichkeit an „deutscher“ Geschichte festzustellen.
Die Debatte um die Preußen-Ausstellung im Westberliner Martin-Gropius-Bau und die Frage eines nationalen Geschichtsortes öffnete aber ebenso ein Fenster für die Erschließung des „Prinz-Albrecht-Geländes“, dessen Geschichte Anfang der 1980er Jahre (fast) vollkommen unbekannt war und an dessen Ort sich heute das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors befindet. Der „History Boom“ ging einher mit einem „Memory Boom“. Vielmehr noch: Beide verliefen nicht lediglich parallel, sondern sind verschränkt.
Ich möchte aufzeigen, dass beide – Preußen-Ausstellung und Topographie des Terrors – in den zeitgenössischen Debatten um den Umgang mit Vergangenheit verbunden sind. Doch zunächst skizziere ich knapp Vorgeschichte und Entstehung der Preußen-Ausstellung.
»Aktiv gegen Streß« – mit dieser Schlagzeile informierte »Der Scheibenwischer«, die Werkszeitung der IG Metall für die Beschäftigten der Daimler-Benz AG und der Mercedes-Benz AG am Standort Stuttgart, im Mai 1990 über die laufenden Tarifverhandlungen. Arbeitstempo und Leistungsdruck nähmen rasant zu, diesem Trend müsse man gemeinsam entgegenwirken. Dazu habe die IG Metall für die Tarifrunde ein »Anti-Streß-Paket« geschnürt, in dessen Mittelpunkt die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche »für mehr freie Zeit und Lebensfreude« stehe. Die insgesamt acht Seiten des Hefts, das vor allem an die Angestellten in den Verwaltungszentralen des Konzerns verteilt wurde, informierten über Probleme wie Personalabbau, psychische Gründe für steigende Fehlzeiten und drohende Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen durch das von der Unternehmensberatung McKinsey eingeführte Programm zur »Optimierung der Gemeinkosten« (OGK). Hervorgehobene Kästchen definierten zentrale Begriffe der Artikel, darunter »Streß«. Mit Verweis auf das seit 1976 in vielen Auflagen erschienene Buch »Phänomen Streß« von Frederic Vester wurden in knappen Worten medizinischer Hintergrund und psychisch-soziale Folgen der modernen Industriegesellschaft für den »natürlichen Verteidigungsmechanismus des Körpers« zusammengefasst.
»Verdammt von Moralisten, glorifiziert als Kunst, unverzichtbarer Wirtschaftsfaktor für die Medien« – so fasste die Journalistin Eva-Maria Burkhardt 1989 in der Zeitschrift »Auto Motor und Sport« die gesellschaftliche Relevanz von Werbung zusammen. Anschließend ging sie auf die massive öffentliche Kritik speziell an der Autowerbung ein. Diese sei verantwortlich für »Rowdytum und Raserei auf den Straßen«, lautete ein vielfach kolportierter Vorwurf von Experten für Verkehrssicherheit, da sie die Symbole »Sportlichkeit« und »Motorleistung« inszeniere. Sicher vereinfachte die zeitgenössische Diskussion den kausalen Zusammenhang zwischen Bildern von rasenden Autos und schweren Verkehrsunfällen; zumindest die Zahl der Verkehrstoten war in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre eher rückläufig. Gleichwohl belegt diese Debatte, wie eng (Auto-)Werbung und öffentlich diskutierte Themen aufeinander bezogen waren. Werbung wirkte dabei als »Zerrspiegel« gesellschaftlicher Realität.
Patronage ist eine Form menschlicher Interaktion, bei der zwei Akteure, die in ihrem Status verschieden sind, eine asymmetrische Beziehung eingehen. Der Patron verfügt gegenüber seinem Klienten über einen Vorsprung an Ressourcen materieller oder immaterieller Art, etwa über ein großes Vermögen oder eine politische Führungsposition, die ihm die Kontrolle einer Institution ermöglicht oder das Entscheidungsmonopol über die Verwendung und Zuteilung von knappen Gütern sichert. Bestimmender Inhalt einer Beziehung zwischen Patron und Klient ist der auf beiderseitigen Nutzen abzielende Austausch von Leistungen und Gegenleistungen. Diese Bindung ist informeller Natur und beruht auf Treue, Loyalität und Dankbarkeit, nicht aber auf einer rechtlichen oder vertraglichen Grundlage, das heißt, Art und Umfang der zu erbringenden Leistungen werden nicht im Voraus festgelegt und sind nicht einklagbar. Der Patron gewährt seinem Klienten Protektion und Förderung im weitesten Sinne; er vergibt an ihn Posten oder auch Zuwendungen finanzieller Art. Im Gegenzug ist der in einer Art Bringschuld stehende Klient dazu angehalten, seinen Förderer in loyaler Weise zu unterstützen und dessen Interessen zu vertreten. Vom Engagement und der Loyalität des Klienten hängt es ab, wie lange er die Protektion seines Patrons genießen wird. Er ist vom Patron abhängig, denn ohne dessen Förderung bliebe er von der Mitnutzung an bestimmten Ressourcen ausgeschlossen, die der Patron kontrolliert (z. B. Teilhabe am politischen Prozess).