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In den letzten Jahren haben die Klagen über eine »Ökonomisierung« der Krankenhäuser in der Bundesrepublik ihren vorläufigen Höhepunkt erlebt. Anders jedoch, als es die aktuelle Diskussion nahelegt, handelt es sich dabei um keine plötzliche Entwicklung. Zu einem tieferen Verständnis der Gegenwart des bundesdeutschen Krankenhauses ist ein Blick auf den Wandel politökonomischer Leitkategorien nach dem »Strukturbruch« der 1970er-Jahre notwendig. Am Beispiel der im traditionellen Verständnis am Gemeinwohl orientierten Einrichtung Krankenhaus lässt sich die marktförmige Transformation öffentlicher Institutionen sogar paradigmatisch nachvollziehen. Der Aufsatz plädiert dafür, am Begriff »Ökonomisierung« analytisch festzuhalten, verdeutlicht aber auch, dass damit eine schubartige Entwicklung bezeichnet ist, die keineswegs allein die freie Entfaltung von Marktkräften forciert hat. Dafür steht etwa das umstrittene System der »Fallpauschalen«. »Plan« und »Markt«, so wird anhand der Krankenhausreformen der letzten 40 Jahre belegt, bildeten komplementäre Prinzipien einer neuen steuernden Regulierung.
»Von neuem aufgeladen«. Anzeigenwerbung für Verjüngungsmittel in Illustrierten der Weimarer Republik
(2020)
Ewige Jugend ist ein uralter Menschheitstraum. Er war schon lange zur Ware geworden, bevor Anfang der 1990er-Jahre der Ausdruck »Anti-Aging« geprägt wurde. Das macht bereits ein flüchtiger Blick in die illustrierten Magazine der Weimarer Republik deutlich. In fast jeder Ausgabe finden sich Anzeigen, mit denen für den verjüngenden Effekt eines Nahrungsergänzungsmittels oder eines Hormonpräparats, einer Schönheitsoperation oder eines Fitnessprogramms geworben wurde. Hundertfach gewähren solche Anzeigen, die unter anderem von (inter)nationalen Kosmetik- und Pharmaherstellern, Privatkliniken und Kureinrichtungen in Auftrag gegeben wurden, einen Einblick in den Verjüngungsdiskurs der 1920er- und frühen 1930er-Jahre. Zudem zeugen sie von der raschen Expansion der damaligen Verjüngungsindustrie und belegen, wie sehr diese Industrie und die Weimarer Bilderblätter, die wie »kaum ein zweites Medium [...] die Befindlichkeiten der Epoche« spiegeln, voneinander profitierten.
1967 rückte der Palästinakonflikt in den Fokus der politischen Arbeit des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der diesen Konflikt im Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt deutete. Politischen Zuspruch erhielt der SDS von palästinensischen wie auch israelischen Studentengruppen, die in Frankfurt am Main ihr Wirkungszentrum hatten. Diese sich als antizionistisch verstehenden Akteure fanden in dem ebenfalls in Frankfurt sitzenden Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland (BJSD) einen Kontrahenten. Die Präsenz dieser zentralen Protagonisten transformierte das studentische Milieu im Frankfurter Westend zum bundesrepublikanischen Nukleus eines Deutungskampfes um die Geschehnisse im Nahen Osten. Eine sabotierte Veranstaltung mit dem israelischen Botschafter Asher Ben-Natan im Frankfurter Hörsaal VI am 9. Juni 1969 dient dem Aufsatz als Beispiel, um diesen Konflikt zu historisieren. Neben schriftlichen Quellen stützt sich der Beitrag auf Bildmaterial des Frankfurter Fotografen Kurt Weiner.
In den 1960er- und 1970er-Jahren führten die Satiren von Ephraim Kishon (1924–2005) die westdeutschen Bestseller-Listen an. Wie erklärt sich diese Resonanz des israelischen Autors gerade in der Bundesrepublik? Während Kishons Beliebtheit von deutschen Leser*innen (und von ihm selbst) vor allem als ironische Wendung der Geschichte bezeichnet wurde, versucht der Beitrag den publizistischen Erfolg im Kontext der frühen deutsch-israelischen Beziehungen genauer zu bestimmen, indem Akteure und Strukturen des literarischen Feldes betrachtet werden. Zum einen wird Kishons Rezeption in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund von Versöhnungsrhetoriken und Auseinandersetzungen um den jüdischen Humor interpretiert. Zum anderen beleuchtet der Beitrag die Bedeutung der beteiligten Zeitungs- und Buchverlage. Die Verlagshäuser Langen Müller (Herbert Fleissner) und Ullstein (Axel Cäsar Springer) spielten eine besondere, politisch hochgradig ambivalente Rolle. Während dieses Netzwerk Kishon vor allem als Unterhaltungsautor darstellte, äußerte er sich nach dem Sechstagekrieg 1967 immer wieder auch politisch in deutschen Medien. Kishon trug damit zu einer Politisierung bei, die bis in die Gegenwart die Rezeption israelischer Literatur in der Bundesrepublik prägt.
In den Jahren vor dem Sechstagekrieg entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland eine palästinensische Diaspora, die nach 1967 einen wichtigen Einfluss auf die Palästina-Solidaritätsbewegung im Land erhielt. Arabischsprachige Quellen wie zeitgenössische Presseartikel oder spätere autobiographische Reflexionen werfen dabei nicht nur ein Licht auf das Entstehen dieser Diaspora. Sie zeigen auch, wie die Verbindungen zwischen palästinensischen Gruppen und der radikalen Linken in der Bundesrepublik zu vielfältigen Transferprozessen führten. Seit den späten 1960er-Jahren zirkulierten Argumente, Parolen und Symbole zwischen Orten wie Beirut und Heidelberg, die sich bald in antizionistischen, zum Teil auch antisemitischen Publikationen und Protesten wiederfanden. Vor diesem Hintergrund plädiert der Aufsatz dafür, Archive im Nahen Osten stärker als bisher einzubeziehen, um die transnationalen und globalen Bezüge der deutschen Zeitgeschichte besser zu verstehen.
Geographisch und kulturell scheint der Nahe Osten von Deutschland weit entfernt zu sein. Historisch betrachtet ist dies ein Trugschluss, denn die dort virulenten Konflikte sind eng verflochten mit der europäischen Kolonialgeschichte, der Geschichte des Nationalsozialismus und der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte. Im Alltag sind sowohl der Nahostkonflikt als auch Frieden im Kleinen heute in vielfältiger Weise präsent: Während sich in Deutschland antisemitische und antizionistische, aber auch antimuslimische Angriffe häufen, serviert das von einem jüdischen und einem arabischen Israeli gemeinsam betriebene Berliner Restaurant Kanaan im Prenzlauer Berg »Hummus zur Völkerverständigung«. Das von Daniel Barenboim und Edward Said 1999 in Weimar gegründete West-Eastern Divan Orchestra, paritätisch mit israelischen und arabischen Musiker*innen besetzt, existiert nunmehr seit 20 Jahren und hat einen seiner Arbeitsschwerpunkte in Berlin. Unter den Menschen wiederum, die seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien nach Deutschland kamen, sind nicht wenige Nachfahren von Palästinenser*innen, die im Kontext der israelischen Staatsgründung aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet flüchteten oder vertrieben wurden.
Nichts Besonderes. Bundesdeutsche Rüstungsexporte nach Israel in der sozialliberalen Ära (1969–1982)
(2020)
Auf breiter empirischer Grundlage überprüft der Aufsatz das gängige Bild, aus historischer Verantwortung habe die Bundesrepublik Deutschland den Staat Israel schon immer besonders großzügig mit Waffen beliefert. Im Fokus steht die Rüstungsexportpolitik der sozialliberalen Bundesregierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Anhand interner Regierungsakten sowie auch internationaler Datenbanken der Friedensforschung wird in komparativer Perspektive untersucht, welche Rüstungstransfers von 1969 bis 1982 mit Bonner Zustimmung an Israel und andere Empfängerländer gingen. Der jüdische Staat, so zeigt sich, genoss als Abnehmer westdeutscher Militärware keineswegs eine bevorzugte Stellung – nicht einmal im Vergleich zu arabischen Ländern, mit denen er sich im Kriegszustand befand. Was den Bonner Kurs auf diesem Feld bestimmte, war nüchternes politisches und ökonomisches Eigeninteresse, nicht das Postulat, wegen des Holocaust gegenüber Israel in besonderem Maße verpflichtet zu sein. Der Befund sensibilisiert für die Brüche in der Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen, auch für die Zusammenhänge zwischen Erinnerungskultur und Außenpolitik, die in der Bundesrepublik erst ab Anfang der 1980er-Jahre stärker zum Tragen kamen.
In den Meisternarrativen der deutschen Zeitgeschichte spielt die Jugend als Vorhut kultureller und politischer Entwicklungen eine bedeutende Rolle. Neuere Gesamtdarstellungen des 20. Jahrhunderts differenzieren jugendliche Subkulturen, Konsumgewohnheiten, Bildungswege und politische Lager ausführlich. Die historische Entwicklung wird in diesen Erzählungen vorangetrieben durch die rechtsnationalen und antisemitischen Studenten der Weimarer Zeit, die jungen Funktionäre und Soldaten des Nationalsozialismus, die sich dem Westen zuwendenden jungen »Fünfundvierziger«-Eliten der 1950er- und 1960er-Jahre sowie schließlich die revoltierenden Jugendlichen von »1968«. Oft sind solche Narrative mit einem Generationenmodell verknüpft, das in Anlehnung an Karl Mannheim die Jugend als formative Phase und treibende Kraft historischer Veränderung versteht und diese vorwiegend als männlich und intellektuell definiert. Historiker/innen definieren damit Jüngere als den geschichtlichen Akteur »Jugend« und investieren stark in die Binnendifferenzierung dieser Gruppe.
Im September 1976 veröffentlichte Heinrich Böll, Literaturnobelpreisträger und einer der meistbeachteten Schriftsteller der Bundesrepublik, die Besprechung eines gerade veröffentlichten Buches, dessen Autor zwar in der DDR lebte, seinen Text jedoch beim kleinen Werner Gebühr Verlag in Stuttgart zum Druck gegeben hatte. Faszination und Anziehung versprach der schmale Band schon wegen seiner Entstehung »im Grenzstreifen zwischen DDR und Bundesrepublik« (so Böll); deshalb wurde er unter einem Pseudonym – Carl-Jacob Danziger – veröffentlicht. Größer noch war das Interesse aber, weil es sich bei dem Buch mit dem ironisch distanzierten und in Anführungszeichen gesetzten Titel »Die Partei hat immer recht« um den autobiographischen Roman eines Schriftstellers handelte, der sich zuerst voll und ganz dem sozialistischen Selbstverständnis der DDR verschrieben, mit seinem Buch nun jedoch die Geschichte seiner Enttäuschungen vorgelegt hatte. »Danzigers schlimmste Sünde aber ist, daß er sich für Realismus und nicht für sozialistischen Realismus entscheidet«, fasste Böll die von Danziger niedergelegte Konfrontation seiner einstigen sozialistischen Utopie mit der Realität des DDR-Sozialismus zusammen. Hier lag die Geschichte einer Entfremdung und Abwendung vor. Auch deshalb wurde Danzigers Roman in der Bundesrepublik schnell große Aufmerksamkeit zuteil; Journalisten würdigten ihn als Ausdruck von »zivilem Ungehorsam«, »Auswurf des Gewissens« und einer persönlichen Abrechnung mit der Partei.
Während des Kalten Krieges wurde in Millionen Wohnzimmern, Kasernen und Schulen gespielt: Klassische Unterhaltungsspiele wie Memory bzw. Merk-Fix, aber auch Spiele wie Fulda Gap oder Klassenkampf, die die Systemkonfrontation als Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse erleb- und simulierbar machten. Der Aufsatz betrachtet eine in der zeithistorischen Forschung und in den Cold War Studies bislang vernachlässigte Quellengattung, die gerade in den 1970er- und 1980er-Jahren für die populärkulturelle Vermittlung von Grundcharakteristika des Ost-West-Konflikts sehr bedeutsam war. Untersucht wird, wie sich Brett- und Computerspiele in die Wettkampflogik des Kalten Krieges einschrieben, inwiefern sie für die Systemkonfrontation auf beiden Seiten sinnbildend waren, nationale Spezifika aufwiesen oder aber als Foren der Gesellschaftskritik dienten. Deutlich wird auch, wo für die jeweiligen Obrigkeiten die Grenzen des »Spielbaren« lagen. Den eigenen Untergang als Handlungsmöglichkeit oder Dystopie zu erproben, erschien vielfach als moralisch und politisch bedenklich, weil die in Spielen entwickelten Szenarien womöglich den Blick auf die Realität verändern und Kritik verstärken konnten. Andererseits konnten die Spiele aber auch die Veralltäglichung des Kalten Krieges unterstützen: Sie bereiteten Wissen über militärische Sachverhalte auf und trugen zur Gewöhnung an das atomare Drohpotential bei.
Die Restitution von Wohneigentum stellte ein großes Konfliktfeld im deutschen Einigungsprozess dar, das zugleich durch eine lange Vorgeschichte geprägt war. Eigentumsideen und -notationsformen aus dem 19. Jahrhundert sowie Praktiken aus der DDR spielten nach 1990 in die Entscheidungen der Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen hinein; sie prägten Erfahrungen und Bewertungen des 1990 eingeführten Prinzips »Rückgabe vor Entschädigung«. Das zugrundeliegende Vermögensgesetz wurde in den 1990er-Jahren modifiziert und berücksichtigte vermehrt DDR-Praktiken. Trotzdem dominieren in den öffentlichen Darstellungen Verlusterzählungen, vor allem aufgrund der langen Zeit der Unsicherheit bis zur endgültigen Entscheidung. Das für den ersten Teil des Aufsatzes gewählte Beispiel Kleinmachnow, das unmittelbar an das frühere West-Berlin angrenzte, stand in den 1990er-Jahren besonders im Medieninteresse. Unklar blieb aber, welche Aussagekraft es für Ostdeutschland hat. Im zweiten Teil wird deshalb nach dem Typischen dieses Falles gefragt. Zugleich wird dafür auf die besonderen Quellen der Transformationsgeschichte eingegangen: Die Sozialwissenschaften produzierten seit 1990 eine Vielzahl qualitativer und quantitativer Daten, die nun auch der Geschichtswissenschaft als Quellen zur Verfügung stehen. Vor einer Sekundäranalyse müssen sie aber wissensgeschichtlich eingeordnet werden: Die Sozialwissenschaften beobachteten den Transformationsprozess nicht nur, sondern gestalteten ihn mit. Vorgeschlagen wird hier ein integratives Verfahren, um quantitative und qualitative Ergebnisse für die Geschichtswissenschaft zu verbinden und somit zu einem besseren Verständnis der komplexen Transformationsgeschichte zu gelangen.
Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit
(2019)
Das neu-alte Schloss steht bereits. Die Baugerüste sind Ende 2018 gefallen und haben den Blick auf die rekonstruierten Barockfassaden an der Nord-, West- und Südseite freigegeben. Lediglich die moderne Ostfassade lässt von außen erkennen, dass es sich bei dem Gebäude auf dem Berliner Schlossplatz nicht wirklich um das alte Stadtschloss handelt, sondern um eine Teilrekonstruktion. In deren Innerem soll ab Ende 2019, im 250. Geburtsjahr Alexander von Humboldts, das Humboldt Forum etappenweise eröffnen. Neben Sonderausstellungsflächen, Veranstaltungsräumen und einer Ausstellung zur Geschichte des Ortes im Erdgeschoss sowie Ausstellungen des Landes Berlin und der Humboldt-Universität im ersten Obergeschoss wird es im zweiten und dritten Obergeschoss die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst beherbergen, die beide zu den Staatlichen Museen zu Berlin gehören und damit Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind.
»Alternative Fakten«, »erinnerungskulturelle Wenden«, Konflikte um Museen und Gedenkstätten, historische Sehnsüchte und Ressentiments – es nimmt nicht Wunder, dass der Aufstieg des Populismus1 überall in Europa auch von der Geschichtswissenschaft als Herausforderung verstanden wird. Das gilt in besonderem Maße für Deutschland, wo die politische Ordnung so sehr mit einer spezifischen Geschichtserfahrung und Geschichtsdeutung verbunden ist. Seit den Mobilisierungserfolgen von »Pegida« ab 2014 und der »Alternative für Deutschland« (AfD) ab 2015 steht der liberale Basiskonsens mit seiner um selbstkritische Reflexion und historische Verantwortung modellierten Erinnerungspolitik öffentlich unter Druck wie selten zuvor.
Elektronisches Publizieren und online verfügbare Quellenbestände haben die Geschichtswissenschaft verändert. Gesunkene Zugangshürden und einfache Suchmöglichkeiten beschleunigen den Blick in Quellen sowie Literatur und verbreitern die empirische Basis. Programme zum Bibliographieren, Recherchieren und Exzerpieren ersetzen den Zettelkasten, strukturieren unser Wissen neu und vereinfachen den Blick über geographische und disziplinäre Grenzen hinaus. In der Geschichtswissenschaft viel weniger bekannt sind dagegen Möglichkeiten zur Untersuchung großer Textkorpora mittels computerlinguistischer Methoden. Solche Forschungen versuchen qualitative und quantitative Analyseschritte miteinander zu verbinden. Dieser Sprung von der »digitalisierten« zu einer »digitalen« Geschichtswissenschaft, die algorithmische Analyseverfahren methodisch innovativ nutzt und reflektiert, ist längst noch nicht vollzogen.
Fritz Bauer und das Radio
(2019)
»Bauer ging nicht gerne in die Öffentlichkeit«, meinte Detlev Claussen rückblickend. Claussen, in den späten 1960er-Jahren Student in Frankfurt am Main, fügte seiner Charakterisierung des hessischen Generalstaatsanwalts jedoch sofort hinzu: »[…] aber die Verfolgung seiner Pflichten nötigte ihn dazu, öffentlich über die von ihm angeregten spektakulären Prozesse zu sprechen und in Hörfunk und Fernsehen, mit Aufsätzen und Vorträgen für eine Reformierung des Strafrechts zu kämpfen.« Der Soziologe Claussen ging noch weiter und urteilte: »Fritz Bauer musste contre coeur aus dem schützenden Schatten der Privatheit eines entre nous heraustreten, um seinen Auftrag zu erfüllen, nämlich Licht auf das Fortleben der Mörder unter uns zu werfen.« Die biographische Forschung unterstreicht das öffentliche Wirken des Juristen mittlerweile durch vielfältige Publikationen. Zu den Editionen von Vorträgen und kleineren Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften gesellen sich seit 2014 die Ausgaben der »Gespräche, Interviews und Reden« aus den Fernseharchiven und seit 2017 ein Hörbuch mit Tondokumenten unter dem Titel »Fritz Bauer. Sein Leben. Sein Denken. Sein Wirken«.
Der junge Historiker Lutz Niethammer (geb. 1939) wollte kein »68er« sein. Viele seiner Altersgenossen fanden den Weg in die Außerparlamentarische Opposition, doch Niethammer blieb distanziert – er wollte teilhaben, nicht teilnehmen. Zwar rezipierte er die marxistisch wie psychoanalytisch inspirierten Faschismustheorien, doch blieb es bei einem grundlegenden Wissenschaftsinteresse.2 Während sich viele andere der Studentenbewegung anschlossen und ihr Augenmerk auf den Antiimperialismus und Internationalismus legten, brachte Niethammer die Gefahr von rechts in den Blick. Schon früh wandte er sich gegen den Geschichtsrevisionismus: Seine Kritik an David L. Hoggans Buch »Der erzwungene Krieg« von 1961 bildete den Anfang einer längeren Auseinandersetzung. »Ich glaubte, wir sollten etwas gegen den Aufstieg des Neofaschismus tun«, erklärte Niethammer retrospektiv in seiner fragmentarisch-autobiographischen Essaysammlung »Ego-Histoire?«. Dies erschien ihm »näherliegender« (sic) als der hilflose Antikapitalismus der Linken.
Anhand einer Anwaltsgruppe um Kurt Rosenfeld und Theodor Liebknecht wird gezeigt, wie sozialistische Anwälte Gerichtsverfahren sowie deren öffentliche Wahrnehmung mitprägten und im Sinne der eigenen politischen Bewegung nutzbar machen konnten. Wie setzten sie juristische Verfahrensmöglichkeiten für weitergehende Ziele ein? Nach Hinweisen zu den Ursprüngen dieses Anwaltstypus und den biographischen Hintergründen der Anwälte fokussiert der Beitrag das Fallbeispiel der Berliner »Spartakusprozesse«. In diesen Verfahren gegen (angebliche) Beteiligte am Januaraufstand 1919 klagten die untersuchten Anwälte die Rechtsprechung, die neue Regierung und die bewaffnete Macht an. Schon hier stellten sie die für die Weimarer Republik zentralen Fragen nach der Legitimität und Legalität der Regierung sowie nach einer alternativen Ordnung. Deutlich wird ferner der besondere Resonanzraum für politische Strafverteidigung in Umbruchszeiten und für Anwälte, die zugleich als Politiker öffentlichkeitswirksam arbeiteten. Sozialistische Anwälte können folglich nicht auf die Rolle von Kronzeugen gegen die einseitige Justiz der Weimarer Republik reduziert werden, sondern sie waren selbstbewusste Akteure, die zur Debatte um den rechtlichen und politischen Charakter der neuen Ordnung wesentlich beitrugen.
Im März 1933 überfiel die SA das Amts- und Landgericht in Breslau. Jüdische Richter und Anwälte wurden, zum Teil unter schweren Misshandlungen, aus dem Gebäude getrieben und in den nächsten Tagen an der Ausübung ihrer Berufe gehindert. Die Justiz reagierte, indem sie ein sogenanntes Justitium verhängte: Für die Dauer von fünf Tagen wurden alle Termine abgesagt und alle Verfahren ausgesetzt. Im Rückblick stilisierten Zeitzeugen dieses Ereignis zum Streik. Der Beitrag skizziert zunächst die jahrhundertelange Rechtsgeschichte des Justitiums, das sich noch heute in der Zivilprozessordnung findet. Untersucht werden dann die näheren Umstände und Folgen der Breslauer Vorgänge von 1933. Dabei zeigt sich, dass der »Stillstand der Rechtspflege« tatsächlich kein Akt des Widerstandes gegen äußere Repression ist, sondern vielmehr ein juristischer Selbstbetrug: Auf die Gefahr von Rechtlosigkeit antwortet das Recht einfach mit dem Rekurs auf vorhandenes juristisches Vokabular, um eigene Handlungsfähigkeit zu suggerieren und selbst rohe Gewalt als Rechtszustand zu definieren.
Der Aufsatz analysiert die Kontakte zwischen der Hauptkommission zur Erforschung der deutschen bzw. »hitleristischen« Verbrechen in Polen und der bundesdeutschen Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Welche Dynamiken und Problemfelder entwickelte eine solche Kooperation vor dem Hintergrund des Kalten Krieges? Ein Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem jeweiligen Verständnis von Recht und den praktischen Herausforderungen. Da zwischen Polen und der Bundesrepublik bis 1970/72 keine direkten diplomatischen Beziehungen bestanden, war schon die Frage heikel, was »Rechtshilfe« bedeuten konnte. Der Dialog bewegte sich zwischen Kooperationswillen und beidseitiger Frustration, die aus konträren gesellschaftspolitischen und juristischen Voraussetzungen resultierte. Die polnische Hauptkommission war bereits 1945 gegründet worden, die Ludwigsburger Zentralstelle erst 1958. Für die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen im bilateralen Kontext bedurfte es mühevoller Verhandlungen. Vielfach berührten sie die Ebene der politischen Emotionen; dies zeigte sich etwa im situativ variierenden Gebrauch der deutschen Sprache durch die polnischen Vertreter. Die Intensität der Kommunikation über das Recht war bemerkenswert, auch jenseits der konkreten Ergebnisse für die Strafverfolgung.
Dass der Angeklagte dem Gerichtsreporter sympathisch gewesen wäre, kann man kaum behaupten. Der Delinquent, so notierte Ilja Ehrenburg während des ersten Nürnberger Prozesses, sei »ein übler Komödiant«, »gleicht einem alten Weib, und seine Kopfhörer sehen wie ein Kopftuch aus. Er spielt die Rolle des gutmütigen Onkels, der zufällig eine Million Menschen ermordet hat.« Als sowjetischer Berichterstatter entsprach es schwerlich Ehrenburgs Selbstverständnis, die Angeklagten in ein freundliches Licht zu setzen, und für den weithin – nicht zuletzt von sich selbst – als Anführer der verbliebenen Regimespitze wahrgenommenen Hermann Göring galt dies ganz besonders. Doch während andere Prozessbeobachter die nach Abschminken, Drogenentzug und Gewichtsverlust wiedergewonnene, maskuline Statur des Reichsmarschalls a.D. betonten, bemühte sich Ehrenburg nach Kräften, ein effeminiertes Bild zu zeichnen und Göring lächerlich zu machen. Das Kopftuch passte da ins Bild – irritierend war allenfalls, dass ausgerechnet ein Kopfhörer diesen Eindruck vermitteln sollte. Weder sah das im Nürnberger Justizpalast verwendete, metallene Gerät so aus, noch wollte es mit seiner Verwendung in Militär und Nachrichtentechnik so recht zum Anliegen des Journalisten passen.
Cognac, Zigarren, Wackelpudding und wechselnde Damenbekanntschaften gehörten zur Standardausstattung der von 1986 bis 1998 in fünf Staffeln mit insgesamt 58 Folgen ausgestrahlten SFB/ARD-Anwaltsserie »Liebling Kreuzberg«. Mit einer Einschaltquote von bis zu 47 Prozent in der ersten Staffel1 verdankte die Serie ihren Erfolg nicht zuletzt dem Hauptdarsteller Manfred Krug (1937–2016). Als Anwalt der »kleinen Leute«, von seinem langjährigen Freund und Kollegen Jurek Becker als »einzige[r] Kleinbürger im deutschen Fernsehen mit Sexappeal« bezeichnet, verkörperte Krug den zuweilen raubeinigen, lebenserfahrenen und hilfsbereiten Rechtsanwalt Robert Liebling.
Es gibt zahlreiche Gelegenheiten, um festzustellen, dass auch das eigene Selbst – entgegen jeglicher irrationalen Hoffnung – dem Alterungsprozess nicht entzogen ist. Eine Möglichkeit ist die Aufforderung, gut 25 Jahre nach seinem ersten Erscheinen ein Buch zu thematisieren, dessen Erstauflage in der eigenen akademischen Ausbildung nicht ganz unbedeutend war. Es war 1997, als mit Niklas Luhmanns »Gesellschaft der Gesellschaft« ein in mehrerlei Hinsicht schwergewichtiger Block mitten in die allgemeine Theoriediskussion hineinplumpste. Dass dieses Buch in der Erstausgabe mit schwarzem Einband daherkam, erschien mir damals durchaus folgerichtig und erinnerte an den gleichfarbigen Monolithen aus Stanley Kubricks »2001: A Space Odyssey«. Ähnlich Ehrfurcht gebietend gestaltete sich die Lektüre von Luhmanns Hauptwerk, vor allem dem Novizen in Sachen Systemtheorie, der ich damals war.
Die Pyrenäen bilden eine natürliche Grenze zwischen Frankreich und Spanien, zwischen dem europäischen Hauptland und der iberischen Halbinsel. Dort, wo sie nicht in den Himmel ragen, in ihren Tälern und auf ihren Passhöhen sowie an den Meeren, waren die Pyrenäen auch stets eine tierra de paso, eine Transitzone. An ihren östlichen Ausläufern gibt es zwei bedeutende Übergänge. Einer liegt im sanften, flachen Tal von La Jonquera und quert die Landesgrenze bei Le Perthus. Der andere kreuzt an der Küste am Coll dels Belitres zwischen Cerbère (Frankreich) und Portbou (Spanien). Daneben und dazwischen durchziehen kleine Wege die Landschaft, offizielle und inoffizielle, Pfade für Schmuggler, Verfolgte, Fliehende. Jede Gegend und jede Route hat ihre Konjunktur. Die Hoch-Zeit dieser Transitlandschaft, als sich die europäische Kriegs- und Verfolgungsgeschichte des 20. Jahrhunderts an dieser Grenze kristallisierte, war zwischen dem Winter 1938/39, als der spanische Krieg mit dem Sieg Francisco Francos endete, und den Jahren 1940/41, bevor im Sommer 1941 die systematische Vernichtung der europäischen Juden begann.
During the 1970s liberal social scientists and leftist activists discussed the possible decriminalization of pedophilia. The essay argues that, while rooted in the “sexual revolution,” this debate can only be comprehended if one considers customary practices of education. The essay explores the often violent situation in residential child homes and its critique by the New Left (“Heimkampagne”) and inquires into ideas about children and young persons’ own agency. The juxtaposition of physical violence and seemingly unproblematic sexuality made advocacy for pedophiliac contacts plausible, to the degree that some adolescents of the Nuremberg “Indianerkommune” even claimed right to these encounters.
Längst beerdigt und doch quicklebendig. Zur widersprüchlichen Geschichte der »autogerechten Stadt«
(2017)
Das Automobil steht gegenwärtig wieder einmal im Brennpunkt breiter gesellschaftlicher Debatten um Themen wie Elektromobilität, Car-Sharing, »autonomes Fahren« und verwandte Fragen. Darin kommt ein tiefer Umbruch der automobilen Kultur zum Ausdruck. Wie Konflikte um Fahrverbote in den Innenstädten, den Abriss automobiler Infrastrukturen oder die Erweiterung autofreier Zonen zeigen, erfasst dieser Umbruch auch und gerade die (großen) Städte. Vor dem Hintergrund eines sich andeutenden Abschieds von der Automobilität der Hochmoderne in den metropolitanen Räumen Europas und Nordamerikas gewinnt auch die retrospektive Reflexion über Entwicklungslinien und Wendepunkte der Raumentwicklung im Zeichen des Automobils in »seinem« 20. Jahrhundert stark an Interesse. Dies gilt umso mehr, als der epochemachende Leitbegriff der »autogerechten Stadt« die Genese und die Probleme städtischer Automobilität mehr verdeckt als freilegt.
»Verdammt von Moralisten, glorifiziert als Kunst, unverzichtbarer Wirtschaftsfaktor für die Medien« – so fasste die Journalistin Eva-Maria Burkhardt 1989 in der Zeitschrift »Auto Motor und Sport« die gesellschaftliche Relevanz von Werbung zusammen. Anschließend ging sie auf die massive öffentliche Kritik speziell an der Autowerbung ein. Diese sei verantwortlich für »Rowdytum und Raserei auf den Straßen«, lautete ein vielfach kolportierter Vorwurf von Experten für Verkehrssicherheit, da sie die Symbole »Sportlichkeit« und »Motorleistung« inszeniere. Sicher vereinfachte die zeitgenössische Diskussion den kausalen Zusammenhang zwischen Bildern von rasenden Autos und schweren Verkehrsunfällen; zumindest die Zahl der Verkehrstoten war in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre eher rückläufig. Gleichwohl belegt diese Debatte, wie eng (Auto-)Werbung und öffentlich diskutierte Themen aufeinander bezogen waren. Werbung wirkte dabei als »Zerrspiegel« gesellschaftlicher Realität.
Seit 1950 sind mehr als 778.000 Menschen auf deutschen Straßen gestorben und mehr als 31 Millionen Menschen verletzt worden (in der Bundesrepublik und der DDR zusammen). In anderen Industriestaaten liegen die Zahlen der Opfer von Verkehrsunfällen in vergleichbarer Höhe, in den Schwellenländern steigen sie angesichts einer zunehmenden Mobilität weiter. Wie lässt sich erklären, dass eine moderne Gesellschaft wie die deutsche des 20. Jahrhunderts bereit war, diesen Blutzoll zu zahlen? Die Frage weist über sich selbst hinaus, denn sie macht auf ein zentrales Problem der Epoche der Industriemoderne aufmerksam: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden neue, von industriellen Produktionsweisen geprägte Technologien, die die Lebensgewohnheiten tiefgreifend veränderten und mit denen sich Hoffnungen einer überaus fortschrittlichen Zeit verbanden.
Jenseits von Zeit und Raum. Flugreisewerbung in den USA und Westdeutschland während der 1970er-Jahre
(2017)
»Getaway. To places you always wanted to see but never thought you could«, lautete die Überschrift einer Werbekampagne der amerikanischen Fluggesellschaft Trans World Airlines (TWA) im Jahr 1971. In großformatigen, mit Farbfiltern hervorgehobenen Bildern von Sehenswürdigkeiten wie dem britischen Parlamentsgebäude in London, dem amerikanischen Grand Canyon oder dem Taj-Mahal-Mausoleum im indischen Agra bewarb sie Reiseziele auf verschiedenen Kontinenten.
Um 1980 avancierten in der Bundesrepublik und in West-Berlin Hausbesetzungen und die kollektive Instandsetzung verfallender Häuser zu einem sichtbaren und vieldiskutierten Mittel des Protests. Einer aus ihrer Perspektive verfehlten Wohnungspolitik, die intakte Häuser abriss, setzten unterschiedliche Akteure den Erhalt von Altbauten und damit auch von gewachsenen sozialen Strukturen der Stadtviertel entgegen. Mit der eigenhändigen Instandsetzung der Häuser war das Ziel verbunden, sie zu Orten für neue, alternative Formen des Zusammenlebens und Arbeitens umzugestalten. Instandsetzen hieß, den Beweis dafür anzutreten, dass Flächensanierung als »Kahlschlagsanierung« falsch sei, dass Altbauten erhaltenswert und menschengerechte Städte mit mehr Lebensqualität ohne große Kosten möglich seien.
Millionen von Menschen aus zahlreichen Ländern besuchten im 20. Jahrhundert die Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Die Motive und Praktiken der Reisenden waren dabei durchaus unterschiedlich. In den ersten Nachkriegsjahren und -jahrzehnten fuhren viele Angehörige von Kriegstoten zu Soldatenfriedhöfen, Gedenkstätten und ehemaligen Schlachtfeldern. Aber es waren immer auch andere Personen und Gruppen unter den Reisenden, die keine persönliche Beziehung zu den toten Soldaten hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg bezeichneten britische Zeitgenossen die Reisen von Veteranen und Angehörigen gefallener Soldaten zu den von ihnen als heilig betrachteten Schlachtfeldern und Kriegsgräbern als Pilgerfahrten und werteten andere Besucher dieser Orte als »Touristen« ab, die sich an den sakralen Stätten nicht angemessen benähmen und aus reiner Sensationslust angereist seien.
Der vorliegende Aufsatz analysiert, wie die aus damaliger und heutiger Sicht unerwartet große Flüchtlingshilfe gegenüber den vietnamesischen »Boat People« aufkam und ihre starke Dynamik gewann. Untersucht wird, welche Rolle zivilgesellschaftliche Gruppen, die staatliche Bürokratie, politische Parteien sowie Medien dabei spielten und wie diese bei der konkreten Aufnahme von Flüchtlingen interagierten. Dabei wird erstens gezeigt, dass anfangs vor allem öffentlicher Druck die sozialliberale Regierung zu einer Aufnahme der Indochina-Flüchtlinge bewegte, sich dann aber zivilgesellschaftliches und staatliches Handeln wechselseitig ergänzten. Das zweite Argument lautet, dass der öffentliche Druck insbesondere durch mediale Kampagnen und durch christdemokratische Initiativen aufkam, die entschieden für die Aufnahme der Flüchtlinge eintraten. Eine wichtige Rolle spielte dabei, so die dritte These, dass die »Boat People« diskursiv mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verbunden wurden – speziell mit der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Viertens zeigt der Aufsatz, wie Techniken der Flüchtlingsaufnahme und neue Formen humanitärer Hilfe entstanden, die sich als zivilgesellschaftlicher und bürokratischer Wandel interpretieren lassen.
»Kern/Schumann I und II« sind wichtige Quellen für den Wandel der Arbeitswelt, allerdings können die Studien aufgrund ihres spezifischen Untersuchungsdesigns nur auf bestimmte geschichtswissenschaftliche Fragen Antworten geben: Sie konzentrierten sich auf Erwerbsarbeit und besonders auf die industrielle Stammbelegschaft. Begrenzt erkennbar sind deshalb Erfahrungen von Migranten und Frauen sowie unterschiedliche Beschäftigungsarten und -bereiche. Hierzu versprechen andere SOFI-Studien mehr Auskunft.[52] Die Vorstellung von »Kern/Schumann I und II« in diesem Beitrag ist verbunden mit einem Plädoyer, die große Vielfalt der SOFI-Studien für Zwecke der Geschichtswissenschaft zu nutzen.
My Road to Berlin, or Mein Weg nach Berlin, presents a Willy Brandt that confounds a present-day reader’s expectations. While the 1960 autobiography of the then-mayor of West Berlin links his career with the familiar story of democracy’s development in Germany, this work nevertheless retains an unexpected edge. In one surprising scene, the mayor denounces his East Berlin SED counterparts as a ›Communist foreign legion‹ whom ›the citizens of my city had decisively defeated‹ during the Second Berlin Crisis of 1958 (p. 17). In the book, Brandt comes off as a Cold Warrior of steely determination rather than a Brückenbauer bridging ideological divides. Far from being out of character, however, My Road to Berlin captures Brandt at a pivotal moment in his career, when he sought to offer himself to both West German voters and a global public as a viable alternative to Konrad Adenauer.
Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft mit unvollständigem Gedächtnis. Neuere deutsche Migrationsgeschichte samt ihrem Kernstück, der Geschichte der Einwanderungsgesellschaft Deutschland, ist ein Spezialthema, das in der Zeitgeschichte nicht breit rezipiert wird.Auch ist es nicht flächendeckend in der universitären Lehre verankert. In den Standardwerken zur Geschichte der Bundesrepublik stellt Migration nach wie vor eine Randnotiz dar. Zudem existieren viele Forschungslücken, blinde Flecken und hegemoniale Deutungsmuster; Darstellungen und Analysen sind oft an der Mehrheitsperspektive orientiert. Daher bleibt die Forderung von Bundespräsident Johannes Rau in seiner Rede auf dem Historikertag 2002, die Geschichte Deutschlands unter dem Blickwinkel
der Transformation zu und der Realität einer Einwanderung.
Die gleichberechtigte Einbeziehung von Frauen in Forschung und Lehre steht heute weit oben auf der politischen Agenda bundesdeutscher Wissenschaftspolitik. Primäres Ziel ist es gemäß dem sogenannten »Kaskadenmodell«, den Frauenanteil auf allen Karrierestufen in Forschung und Lehre demjenigen der Studierenden und Promovierenden anzugleichen. Dies sei, so das Bundesministerium für Bildung und Forschung, »nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit«. Gemischte Gruppen führten, »wenn sie geeignete Rahmenbedingungen vorfinden«, außerdem »zu besseren Forschungs- und Entwicklungsergebnissen« sowie »zu einer Erweiterung der Forschungsperspektive«. Das gelte auch »für die Berücksichtigung von Geschlechterfragestellungen als Forschungsgegenstand«. Ähnlich beschreibt die Europäische Kommission das Ziel ihrer Gleichstellungspolitik für Wissenschaft und Forschung.
Strafgefangenenarbeit ist ein Merkmal des modernen Gefängniswesens in unterschiedlichen politischen Systemen. Seit einigen Jahren wird in Wissenschaft und Öffentlichkeit verstärkt diskutiert, welche Rolle sie in der DDR spielte und ob der Begriff der Zwangsarbeit dafür geeignet ist – dies nicht zuletzt deshalb, weil auch tausende politische Gefangene von ihr betroffen waren. Der Beitrag untersucht, ob die Arbeitsbedingungen politischer Häftlinge schlechter waren als diejenigen krimineller Insassen und ob die Strafgefangenen insgesamt gegenüber Zivilarbeitern in der DDR diskriminiert wurden. Das Ergebnis ist differenziert: Zwar mussten die Häftlingsarbeiter zum Teil schwerere Tätigkeiten als Zivilarbeiter ausführen, doch gab es je nach Branche und Haftort durchaus Unterschiede. Eine zentral angewiesene Benachteiligung politischer Häftlinge in Bezug auf die Arbeitsbedingungen lässt sich nicht belegen, doch konnte sie eine Folge der Gefängnishierarchie sein, die nicht zuletzt der Kontrolle der politischen Häftlinge diente.
Das Thema »Erben« besitzt eigentlich alles, was zur Neugier reizt: prominente Schicksale, sozialen Sprengstoff, in materielle Interessen hineingewirkte Emotionen, familiäre Inventuren und kriminelle Energien. Aus diesen Gründen ist das Erben durch alle literatur- oder filmhistorischen Epochen hindurch zu einem Leitmotiv erzählender Genres geworden – vom »König Lear« bis zu den »Buddenbrooks« und von Balzacs »Eugenie Grandet« bis zum »Gestiefelten Kater«. Für Komödien und Dramen aller Art, von Krimis ganz zu schweigen, ist der Erbfall ein überaus dankbarer Plot. Für die zeithistorische Wissenschaft, zumindest für die deutschsprachige, trifft diese Feststellung überraschenderweise kaum zu. Während für die älteren Epochen der Geschichte das Vererben, die Weitergabe von Land und Besitz, der Umgang mit Mitgiften, strategisches Heiratsverhalten oder die adlige Erbfolge seit langem maßgebliche und sehr gut erforschte Themenfelder sind, gilt dies für das 19. und vor allem für das 20. Jahrhundert nur in einem sehr eingeschränkten Maße.
Die Fernsehreihe »Wettlauf mit der Zeit« stellte von 1986 bis 1989 in über 80 Folgen den Zuschauern die Entwicklung und Anwendung sogenannter Schlüsseltechnologien vor und zeigte deren vorgeblich positive Wirkung sowohl auf die Volkswirtschaft der DDR wie auch auf die gesamte sozialistische Gesellschaft. Die Darstellung erfolgte dabei stets aus produktionsbezogener Sicht, nur selten rückte die Konsumentenperspektive in den Fokus. Schlüsseltechnologien wurden definiert als Techniken, »die auf längere Sicht die Produktivkraftentwicklung in der gegenwärtigen Etappe der wissenschaftlich-technischen Revolution wesentlich bestimmen«. Den Zuschauern der Reihe wurden als solche präsentiert: die Mikroelektronik, die Informatik, CAD/CAM-Systeme, verschiedene Automatisierungstechniken, Formen neuer bzw. verbesserter Energieverwendung und -verwertung, der Einsatz von Biotechnik und die so bezeichnete »sozialistische Umweltgestaltung«. Worin aber bestand nun der »Wettlauf mit der Zeit«?
Das Jahr 1932 war ein Jahr der Extreme, mit gewaltsamen Straßenprotesten, Ausnahmegesetzen und der Rückkehr des Hungers. Es wurde zum negativen Schlüsseljahr der Weimarer Republik. Eine der originellsten, heute allerdings völlig vergessenen Krisendiagnosen dieser Zeit stammt von Richard F. Behrendt, dessen Analyse der »Psychologie der Politik« zentrale Ansätze der historisch-soziologischen Gewaltforschung der letzten drei Jahrzehnte gewissermaßen intuitiv vorwegnimmt.
Bildagenturen, die zwischen Fotografen und Redaktionen vermitteln, sind zentrale Akteure bei der Produktion massenmedialer Sichtbarkeit. Ihre Rolle im System der NS-Bildpropaganda ist weitgehend unerforscht. Der Aufsatz widmet sich einem brisanten Spezialfall, der amerikanischen Associated Press und ihrer Niederlassung im Deutschen Reich. 1935 unterstellte sich die deutsche AP GmbH dem Schriftleitergesetz und ließ sich damit »gleichschalten«. Bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 hatte sie eine eminente Bedeutung als transatlantischer Bildlieferant für die nationalsozialistische Propaganda. Außerdem durfte AP weiterhin im Deutschen Reich produzieren. Die von der Agentur unter der Ägide des Propagandaministeriums, der Wehrmacht und der SS aufgenommenen Fotos bestückten die NS-Presse, aber die New Yorker AP-Zentrale stellte sie auch der nordamerikanischen Presse zur Verfügung, wo sie mal als scheinbar neutrale Nachrichtenbilder erschienen, mal ausdrücklich als Propagandabilder gekennzeichnet wurden.
Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verreiste die Mehrheit der Westdeutschen mindestens einmal im Jahr. Die Urlaubsreisen wurden zunehmend als Pauschalreisen ins Ausland unternommen und stellten für die meisten Haushalte auch in Krisenzeiten ein zentrales Konsumgut dar. Um sich dem Reiseverhalten eines Großteils der Bevölkerung anzunähern, werden hier Pauschalurlaube in Spanien untersucht. Dank des wachsenden Flugverkehrs entwickelte sich gerade dieses Land in den 1970er- und 1980er-Jahren zum beliebtesten Auslandsreiseziel der Westdeutschen. Von der zeitgenössischen Konsumkritik wurden Pauschalurlaube in Spanien jedoch häufig negativ bewertet; individuelle Ansprüche spielten bei dieser Urlaubsform angeblich keine Rolle. Anhand der Urlaubspraktiken, wie sie sich indirekt aus den Angeboten der Veranstalter sowie zusätzlich aus Fotoalben und Erinnerungsberichten erschließen lassen, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Massentourismus und die Erfüllung individueller Vorlieben schlossen sich nicht aus; zudem waren Pauschalreisen mitunter der Einstieg in eine selbstständigere Begegnung mit dem Urlaubsland. Der Aufsatz verdeutlicht damit auch das Potential praxeologischer Ansätze zur Erforschung des bundesdeutschen Massenkonsums insgesamt.
Unternehmensplanspiele entstanden in den USA um 1956 aus militärischen Simulationsprogrammen, Fallstudien an Business Schools sowie Kriegsplanspielen und einer Reihe weiterer Einflussgrößen. Angesiedelt am Schnittpunkt von Unternehmensführung, ökonomischen Paradigmen und Computerisierung, bietet das Feld der Unternehmensplanspiele besonders gute Voraussetzungen, um Transformationen gesellschaftlicher Steuerungslogiken nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nachzuvollziehen. In den »ernsthaften Spielen« wurden Praktiken des Entscheidens sowie die Adaption an ein neues Medium und einen veränderten Rationalitätsbegriff (spielerisch) erprobt. Der Aufsatz nähert sich diesem Feld aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive. Der Beitrag fokussiert auf die erste Phase der Verwendung von Unternehmensplanspielen bei der Ausbildung von Führungskräften in der Bundesrepublik seit Beginn der 1960er-Jahre. Näher vorgestellt wird der Einsatz des von IBM entwickelten Planspiels TOPIC 1 bei Hoechst.
Picture agencies are mediators between photographers and editorial staffs; they play a crucial role in producing mass media visibility. However, their part in the system of the visual propaganda of the Nazi state is largely unexplored. This article features a controversial case, the American Associated Press and its German subsidiary. By submitting to the Schriftleitergesetz (Editorial Control Law) in 1935, the German AP GmbH (LLC) followed its German counterparts in the process of Gleichschaltung (forcible coordination). Until the United States entered the war in December 1941, AP supplied the Nazi press with American pictures. This service proved to be of particular relevance for propaganda. AP was also allowed to continue its photographic reporting in the Reich. AP pictures taken under the aegis of the Propaganda Ministry, the Wehrmacht and the SS were ubiquitous in the Nazi press. Moreover, the New York headquarters supplied the North American press with these same pictures, where they were published either as news photos or as propaganda images.
»Apartheid tötet – boykottiert Südafrika!«. Plakate der westdeutschen Anti-Apartheid-Bewegung
(2016)
In ganz Nord- und Mitteleuropa bildeten sich in den 1960er- und 1970er-Jahren Anti-Apartheid-Bewegungen, die durch Aktionen in ihren Heimatländern den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika unterstützen wollten. In der Bundesrepublik Deutschland wurde am 21. April 1974 im niedersächsischen Othfresen (südlich von Salzgitter) der Verein »Anti-Apartheid-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin« (AAB) gegründet. Zu diesem ersten Treffen eingeladen hatten der Mainzer Arbeitskreis Südliches Afrika (MAKSA) – ein 1971 entstandener Zusammenschluss evangelischer Kirchenmitarbeiter, die selbst einige Jahre in Südafrika tätig gewesen waren und meist wegen ihrer Haltung zur Apartheid das Land hatten verlassen müssen –, die Arbeitsgruppe »Freiheit für Nelson Mandela«, die aus dem MAKSA 1973 unter der Federführung des Stuttgarter Pfarrers Karl Schmidt hervorgegangen war, sowie der Pfarrer Hans-Ludwig Althaus. Sie wollten über die Situation in Südafrika informieren und Protest gegen die Apartheid mobilisieren. Sie kritisierten insbesondere die Zusammenarbeit der Bundesregierung und westdeutscher Unternehmen mit dem Apartheid-Regime. Der Begriff Anti-Apartheid-Bewegung hat aber eine doppelte Bedeutung: Neben dem Namen des Vereins bezeichnet er zugleich allgemein die gesellschaftliche Bewegung derer, die sich gegen die Apartheid in Südafrika engagierten. Diverse Gruppen waren daran beteiligt; im Laufe der Jahre erstellten sie eine Fülle von Plakaten. Dieser Beitrag soll einen Einblick in die verschiedenen Gestaltungsformen der Anti-Apartheid-Plakate in der Bundesrepublik geben.
Im Sommer 2016 jährt sich der Marsch von 20.000 südafrikanischen Frauen nach Pretoria zum 60. Mal. Am 9. August 1956 besetzten sie das Amphitheater der Union Buildings, des Amtssitzes der Regierung, aus Protest gegen die Ausweitung der diskriminierenden Passgesetze auf nicht-weiße Frauen. Diese Demonstration, organisiert von der Federation of South African Women, war ein Triumph der Opposition. Nur vier Jahre nach dem Marsch der Frauen änderte sich die Lage drastisch – mit dem Massaker von Sharpeville und seinen Folgen. Nach dem Verbot von African National Congress (ANC) und Pan Africanist Congress (PAC) sowie der Verurteilung der Führung von Umkhonto we Sizwe, des militärischen Arms von ANC und Südafrikanischer Kommunistischer Partei (SACP), folgte eine Dekade polizeilich erzwungenen Schweigens. In den 1970er-Jahren nahmen die Proteste gegen die Apartheid weltweit zu, und mit dem Aufstand von Soweto 1976 wurde die »Verwundbarkeit« des Apartheid-Systems sichtbar. Das Interesse der Weltöffentlichkeit sollte nicht nur durch Informationen von »außen« befriedigt werden, sondern verlangte nach möglichst glaubwürdigem Material von »innen«, aus Südafrika selbst. Dieses lieferten in der Bundesrepublik besonders die Anti-Apartheid-Bewegung und die Informationsstelle Südliches Afrika (issa).
Zwischen Hoffen und Bangen. Südafrika im Blick westdeutscher Intellektueller der 1960er-Jahre
(2016)
In den 1960er-Jahren verbreitete sich die Kritik am südafrikanischen Apartheid-Regime weltweit. Aber die Bundesrepublik unterhielt gleichzeitig hervorragende und privilegierte Beziehungen zu den weißen Rassisten am Kap. Südafrika galt als natürlicher Verbündeter im Kalten Krieg gegen den Kommunismus und als Garant für die Sache des Westens im risikoreichen Dekolonialisierungsprozess auf dem schwarzen Kontinent.
Zwischen 1950 und 1980 wurden Säuglinge in der Bundesrepublik zunehmend mit Flaschenmilch ernährt. Die Produktpalette war groß, und die Werbestrategien der Nahrungsmittelhersteller waren ausgeklügelt. Dies allein kann jedoch nicht der Grund für die steigende Nutzung der Säuglingsflasche gewesen sein. Sie wird hier mit einer explizit dinghistorischen Perspektive untersucht: Wie kam sie in die Familie, und wie veränderte sie die Beziehungen von Müttern, Vätern und Säuglingen? Müttern versprach die Säuglingsflasche mehr Freiheiten in der Gestaltung ihres Alltags; Vätern ermöglichte sie es, ihre Männlichkeit neu zu definieren, indem die Väter ihre Kinder selbst fütterten. Eher als in der Bundesrepublik wurde in Schweden die Versorgung von Kleinkindern diskutiert und eine stärkere Mitverantwortung der Männer für die Familie gefordert. Für beide Länder lässt sich beobachten, dass die Säuglingsflasche – zusammen mit anderen Akteuren – die Familie während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgestaltete. In beiden Ländern verlief dies durchaus kontrovers.
Der Beitrag untersucht Arbeitsämter in der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien während der 1970er- und 1980er-Jahre, einer Zeit deutlich gestiegener Arbeitslosenzahlen. Im Fokus stehen die Verwaltungsvorgänge, begriffen als soziale Praktiken und Mensch-Ding-Verhältnisse. Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie fragt der Aufsatz nach der Agency der Verwaltungsdinge im Arbeitsamt: den Bürogestaltungen, Aktenordnern, Wartenummern oder Stellenaushängen. Problematisiert wird besonders die in den 1970er- und 1980er-Jahren durchgesetzte Technisierung der administrativen Vorgänge, also der vermehrte Einsatz von Apparaten und EDV-Systemen in bundesdeutschen und britischen Arbeitsverwaltungen. In beiden Ländern wurde »Selbstbedienung« zu einem neuen Verhaltensdispositiv, das sich in den neu eingerichteten britischen Jobcentres jedoch schneller durchsetzte als im traditionellen deutschen Arbeitsamt, wo das passive Warten weiterhin eine vorherrschende Subjektivierungspraxis blieb.