Deutschland
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Eine besondere Chance, bottom-up-Einblicke in die Alltagsgeschichte von Menschen mit Behinderungen in der DDR und ihre Agency zu erhalten, bieten Eingaben: Bitt- und Beschwerdebriefe, die die Bürger:innen der DDR zu Hunderttausenden jährlich an staatliche Organe richteten, um Probleme im Alltagsleben und Konflikte mit Staat und Verwaltung zu lösen. Zunächst werden in diesem Beitrag die Besonderheiten solcher Eingaben in der DDR skizziert. Sodann wird erörtert, inwiefern die Analyse der Eingaben von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen eine wertvolle Perspektive auf ihr Alltagsleben und ihre Interaktionen mit Staat und Expert:innen ermöglicht und wo dabei Grenzen der Aussagekraft liegen. Dies wird anhand von Einzelfällen exemplarisch veranschaulicht.
Bürgertum, Revolution, Diktatur - zum vierten Band von Hans-Ulrich Wehlers "Gesellschaftsgeschichte"
(2004)
Auch der vierte Band der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" Hans-Ulrich Wehlers übet den Zeitraum 1914 bis 1949 ist zweifelsohne eine große Leistung: Die kaum zu überblickende Forschung zum Ersten Weltkrieg, zur Weimarer Republik, zum "Dritten Reich" und zur unmittelbaren Nachkriegszeit hat der Nestor der Bielefelder Schule wenigstens zum größten Teil rezipiert und zu einer lesbaren, in manchen Teilen prägnant formulierten Synthese zusammengefasst.
Zu den in der Geschichtswissenschaft geläufigen Aussagen gehört, dass Hitler ein charismatischer Politiker gewesen sei - allerdings verbirgt sich dahinter, trotz des stets selbstverständlichen Bezugs auf Max Weber, häufig nicht mehr als eine Umschreibung des dämonischen Verführers, dem die Massen willenlos, als bloße Opfer, erlegen seien. Hans-Ulrich Wehler hingegen nimmt Webers Forderung ernst, Charisma nicht als göttliche Gnadengabe, sondern als soziale Beziehung zu untersuchen. Damit rücken weniger die Propaganda und Inszenierung des Charismatikers als vielmehr die Erwartungen und Hoffnungen derjenigen, die an Hitler geglaubt und das NS-Regime unterstützt haben, in den Mittelpunkt - anders als Wehlers Kritiker Ludolf Herbst annimmt, der Charisma unverdrossen für eine Propagandatechnik hält. Was bislang eher Ausgangsüberlegung denn durchgehaltene Reflexionsebene blieb, wird nun bei Wehler zum roten Faden der Darstellung.
Extravagante Danksagungen in literarischen und wissenschaftlichen Büchern werden regelmäßig in den Massenmedien und auf Social Media zur Unterhaltung verbreitet und debattiert. Auch am Beispiel von in Danksagungen nicht erwähnten Mitarbeiter:innen und Ghostwritern werden verschiedene Auslegungen guter wissenschaftlicher Praxis und redlichen Schreibens diskutiert. Für Danksagungen interessieren sich jedoch nicht nur die Massenmedien, sondern erst recht die Wissenschaftler:innen selbst. Zwar sind akademische Danksagungen von der geistes- und geschichtswissenschaftlichen Forschung bisher kaum systematisch untersucht worden. Gleichwohl stellen sie einen von Fachkolleg:innen aufmerksam rezipierten Paratext dar, der ebenfalls der Unterhaltung dienen kann, durch den sie sich aber auch ein Bild vom jeweiligen Autor bzw. von der Autorin verschaffen. Anhand von Danksagungen wird überprüft, in welchen fachlichen Schulen sich die Autor:innen verorten, für welche Unterstützung sie sich bei wem bedanken, welche privaten Ansichten und Angelegenheiten sie preisgeben und inwiefern sie fachliche Konventionen einhalten. Umgekehrt ist dieser prüfende Blick der Kolleg:innen den Verfasser:innen von Danksagungen bekannt. Über die Geste hinaus bieten Danksagungen den Autor:innen daher die Möglichkeit, sich den Kolleg:innen als Wissenschaftler:in und (Privat-)Person zu präsentieren.
Bildagenturen, die zwischen Fotografen und Redaktionen vermitteln, sind zentrale Akteure bei der Produktion massenmedialer Sichtbarkeit. Ihre Rolle im System der NS-Bildpropaganda ist weitgehend unerforscht. Der Aufsatz widmet sich einem brisanten Spezialfall, der amerikanischen Associated Press und ihrer Niederlassung im Deutschen Reich. 1935 unterstellte sich die deutsche AP GmbH dem Schriftleitergesetz und ließ sich damit »gleichschalten«. Bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 hatte sie eine eminente Bedeutung als transatlantischer Bildlieferant für die nationalsozialistische Propaganda. Außerdem durfte AP weiterhin im Deutschen Reich produzieren. Die von der Agentur unter der Ägide des Propagandaministeriums, der Wehrmacht und der SS aufgenommenen Fotos bestückten die NS-Presse, aber die New Yorker AP-Zentrale stellte sie auch der nordamerikanischen Presse zur Verfügung, wo sie mal als scheinbar neutrale Nachrichtenbilder erschienen, mal ausdrücklich als Propagandabilder gekennzeichnet wurden.
Eine aufschlussreiche Debatte um die Frage nach der Beeinträchtigung der deutschen Sprache durch die NS-Zeit fand 1963 in Walter Höllerers zwei Jahre zuvor gegründeter Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter« statt. Hier wurden drei Beiträge aus dem englischsprachigen Ausland dokumentiert, von denen George Steiners Essay »Das hohle Wunder« besonders heftige Antworten provozierte. Unser Aufsatz rekapituliert Steiners sprachkritische Intervention im Rahmen des damaligen literarischen Resonanzraums und untersucht zunächst Auffälligkeiten der unautorisierten ersten Übersetzung von Steiners Text. Im Zentrum steht dann die Kritik der um Repliken gebetenen Autorinnen und Autoren, unter denen mit Hilde Spiel, Marcel Reich-Ranicki, François Bondy und Hans Weigel mehrere jüdische Persönlichkeiten waren. Wir diskutieren, warum diese dem Befund Steiners widersprachen und ihr Vertrauen in die deutsche Sprache bekundeten. Der Aufsatz schließt mit Wolfgang Hildesheimer, dessen Blick auf das Deutsche als Tätersprache durch seine Arbeit als Übersetzer bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen geprägt war.
Seit der Gründung der Deutschen Presse Agentur (dpa) 1949 halten die Fotograf:innen von Deutschlands größter Nachrichtenagentur Tag für Tag das Geschehen in der Bundesrepublik fest. Insofern ist das Bildarchiv der dpa in Frankfurt am Main ein wertvolles Zeitzeugnis und eine wichtige Quelle zur pressebildlichen Überlieferung in der Bundesrepublik von 1949 bis heute. 14 Millionen Negative, Dias und Prints der dpa und der in der Nachkriegszeit gegründeten Vorläuferagenturen Dena (Deutsche Nachrichtenagentur), Südena (Süddeutsche Nachrichtenagentur) und Deutscher Pressedienst sind Teil der Pressebild-Geschichte der Bundesrepublik und dokumentieren wichtige historische Ereignisse, bedeutende Persönlichkeiten und gesellschaftliche Entwicklungen im Land.
Vor knapp drei Jahren, im Sommer 2019, feierten Studierende aus der Ukraine, Russland und Deutschland in Bremen mit einem Grillfest am Weserstrand den Abschluss eines herausfordernden Geschichtsprojekts: Ein Jahr lang hatten sie intensiv an einer gemeinsamen Internetplattform gearbeitet, die als "Open Memory Map" Informationen zu Orten der Erinnerung an vergessene Opfergruppen des Nationalsozialismus präsentiert. Der unerklärte Krieg in der Ostukraine begleitete das Projekt. Dass sich ukrainische und russische Geschichtsstudierende dennoch begegneten, zusammenarbeiteten und austauschten, war ein erklärtes Ziel von Organisator:innen und Geldgebern. Zugleich war es die größte Herausforderung.
Saul Friedländer, der im Oktober 2007 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde, hat für sein jüngstes Buch „Die Jahre der Vernichtung“ einhelliges Lob erhalten. Dabei wurde vor allem hervorgehoben, dass Friedländer die Stimmen der jüdischen Opfer zu Wort kommen lasse. Doch verdeckt dieses Lob, so gut es gemeint ist, eine wichtige Differenz. Friedländer, der 1932 in Prag geboren wurde, 1939 mit seinen Eltern nach Frankreich flüchtete, dort als Junge in einem katholischen Internat die deutsche Besetzung und Judenjagd überlebte, während seine Eltern auf der Flucht verhaftet und in Auschwitz ermordet wurden, Friedländer hat diese Stimmen der Verfolgten und Ermordeten noch gehört - wir Jüngeren nicht. Der offenkundige Wunsch zahlreicher Rezensenten, sich in Hörweite der Opfer zu versetzen, muss scheitern. Die Stimmen bleiben stumm. Und auch wenn Friedländers historiographische Kunst darin besteht, uns lesen und ahnen zu lassen, wovon die Stimmen sprechen, so ist diese Fremdheit doch unübersteigbar.
Das HB-Männchen „Bruno“ war eine der erfolgreichsten Werbefiguren der Wirtschaftswunderzeit, dessen Popularität noch diejenige des Bundeskanzlers übertraf. Werbefachleuten gilt „Bruno“ als „Musterbeispiel für effiziente Markenführung“. Der Aufsatz geht der Entstehungsgeschichte dieser Werbefigur und der mit ihr verbundenen Werbestrategie nach. Gefragt wird nach den Bedingungen und dem Erfolgsrezept dieser Figur sowie nach den Gründen ihres späteren Niedergangs. Damit leistet der Aufsatz einen Beitrag zur Werbe-, Konsum- und Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik.