Deutschland
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„Da hat er uns wieder mal einen ordentlichen Sprengsatz untergeschoben!“, ließ ein leitender Kulturfunktionär der SED-Bezirksleitung mit gepresster Stimme vernehmen, als er während seines Rundgangs durch die 11. Kunstausstellung des Bezirkes Leipzig Anfang Mai 1985 auf die Plastik „Jahrhundertschritt“ von Wolfgang Mattheuer stieß. Und so oft sich Funktionäre in der Geschichte der DDR in Sachen Kunst irrten - hier sollten sie einmal Recht behalten, und zwar im doppelten Sinn des Wortes: Wie aufgesprengt wirkt nicht nur der schrundige, eingerissene Brustkorb von Mattheuers ‚kopfloser‘ Figur; Sprengkraft enthielt vor allem die künstlerische Botschaft des Werkes, in dem der Künstler das 20. Jahrhundert Gestalt werden ließ. Die vier Gliedmaßen der Figur streben so heftig auseinander, dass sie diese schier zu zerreißen drohen: Den rechten Arm zum faschistischen Gruß ausgestreckt, die linke Hand zur proletarischen Faust geballt, hinkt das von einer Blutspur gezeichnete linke Stiefelbein dem ungestüm ausschreitenden, makellos weißen rechten Bein unheilschwer hinterher. „Symbolhaft“ hat Mattheuer in dieser Plastik „die Unsicherheit und Zerrissenheit unserer Zeit eingefangen“. Und da der nahezu gesichtslose Kopf der Figur fast vollständig in ihrem aufgerissenen Rumpf zu versinken droht, fehlt diesem Jahrhundert zugleich die (geistige) Mitte, die es zusammenhält. „Verlorene Mitte“ und „Verlust der Mitte“ heißen denn auch zwei Grafiken, mit denen Mattheuer 1980 das Ringen um diese Figur aufnahm.
Wie Ernst Jandls Gedicht »markierung einer wende« grafisch und sprachlich zum Ausdruck bringt, war das europäische Ende des Zweiten Weltkrieges ein fundamentaler Einschnitt. Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht – am 7. Mai in Reims, am 8./9. Mai in Berlin-Karlshorst – fand ein Krieg seinen symbolischen Schlussakt, der von ungeheurer Gewalt und Zerstörung geprägt gewesen war. Weit über 50 Millionen Menschen waren im Verlauf des deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieges umgekommen, darunter etwa 30 Millionen Zivilisten. Die zeitgenössischen Erfahrungen vom Mai 1945 waren sehr unterschiedlich; sie hingen wesentlich davon ab, welche Position die einzelnen Akteure bis zum Kriegsende innegehabt hatten. Die körperlichen, seelischen und politischen Reaktionen auf die neue Lage umfassten ein breites Spektrum: Entkräftung und Tod noch nach dem Ende der Kampfhandlungen, Angst vor Rache und Bestrafung, Erleichterung über den Sturz des NS-Regimes, Apathie und Orientierungslosigkeit, Bemühungen um eine neue Identität, Hoffnung auf einen Neubeginn, Interesse an Schuld- und Gewissensfragen, Furcht vor Internierung oder Vertreibung und vieles mehr. Eine nicht genau ermittelbare Zahl vormaliger NS-Funktionsträger entzog sich einer möglichen Verurteilung durch Selbstmord, und generell war es für alliierte Beobachter überraschend, dass plötzlich so gut wie keine bekennenden Nazis mehr auffindbar waren. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg fanden offen revanchistische Bestrebungen in Deutschland keinen Nährboden, da die militärische und zugleich die geistig-moralische Niederlage nun noch grundlegender war. Die überlebenden Verfolgten des NS-Regimes konnten sich darüber allerdings nur eingeschränkt freuen; wer mit dem Leben davongekommen war, hatte meist irreversible psychische oder physische Schäden erlitten.
Wie kaum eine andere deutsche Fotografin hat Barbara Klemm (geb. 1939) das Zeitgeschehen der letzten Jahrzehnte mit der Kamera begleitet. Von 1970 bis 2004 als feste Redaktionsfotografin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) tätig, hat sie zahllose Ereignisse und Personen der deutschen und internationalen Politik und Kultur bildlich festgehalten - ohne die im Fotojournalismus nicht selten anzutreffende Sensationsgier, sondern mit Gespür für Nuancen und Respekt vor den fotografierten Menschen.1 Auch wer auf die kleine Zeile „Foto Barbara Klemm“ bei der Lektüre der „FAZ“ noch nie geachtet haben mag, wird viele ihrer Fotos kennen, weil sich diese von der üblichen Bilderflut abheben und Zeitgeschichte prägnant auf den Punkt bringen. Barbara Klemm hat etliche Auszeichnungen erhalten, zum Beispiel den Erich-Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Fotografie. Das folgende Interview, das Irmgard Zündorf und Jan-Holger Kirsch am 19. Februar 2005 in Berlin führten, kreist um die Fotografie als Modus der (Geschichts-)Beobachtung, um praktische Erfahrungen des Fotojournalismus und nicht zuletzt um die kleinen Zufälle, die für gute Bilder ebenso essentiell sind wie das handwerkliche Können.
Die akademische Geschichtswissenschaft steht mit der Präsentation ihrer Erkenntnisse in der Öffentlichkeit heute in einer bisher nicht dagewesenen Konkurrenzsituation. Fernsehsendungen und -serien bereiten vor allem die NS-Vergangenheit, aber auch wichtige Ereignisse der Nachkriegszeit in einer publikumsgerechten Weise auf. Filme erzählen Geschichten insbesondere aus dem „Dritten Reich“, aus Bombenkrieg und Nachkriegsära. Umfangreiche Dokumentationsreihen haben Konjunktur, gut recherchiert, auf die Erzählung von Zeitzeugen gestützt, mit illustrierender Hintergrundmusik dramatisierend aufgemacht, mit zeitgenössischen Photos und Filmstreifen Augen und Ohren ansprechend.
Was ist Sicherheit und wie viel braucht ein Mensch davon, um sich in seiner Welt heimisch zu fühlen? Eckart Conze skizziert das rückwärtsgewandte Sicherheitsstreben in der Ära Adenauer, den optimistischen Glauben an die Sicherheit von Fortschritt und Wachstum in den sechziger und frühen siebziger Jahren, das folgende Jahrzehnt der „Inneren Sicherheit" und schließlich die internationale Sicherheitspolitik. Dabei entwickelt er ein neues Konzept einer „modernen Politikgeschichte" der Bundesrepublik Deutschland, die mit „Sicherheit" als analytischem Leitbegriff sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Ansätze ebenso zu integrieren vermag wie das Potential der Kulturgeschichte und der Geschichte transnationaler Beziehungen, von der in den letzten Jahren viele fruchtbare Ansätze ausgegangen sind.
Im Juli 1959 erklärte das Bundesverfassungsgericht den so genannten „väterlichen Stichentscheid" für verfassungswidrig. Mit dieser Entscheidung verwarf es zwei Paragraphen des Gleichberechtigungsgesetzes von 1957, in denen sich ein patriarchalisches Verständnis elterlicher Autorität niedergeschlagen hatte. Diese Entscheidung des Gerichts lässt sich als ein Durchbruch einer emanzipatorischen Geschlechterpolitik interpretieren. Die Argumentation der Richter entsprach einem in der westdeutschen Öffentlichkeit verbreiteten Bedürfnis, väterliche Autorität nicht mehr als ein natürliches Entscheidungsrecht des Mannes und ein hierarchisches Verhältnis von Befehl und Gehorsam zu interpretieren. Die Suche nach neuen Formen der Vaterschaft war in der frühen Bundesrepublik ein zentrales Thema der allgemeineren Selbstverständigung über Autorität und Demokratie. In der Debatte um den „demokratischen Vater" experimentierten die Westdeutschen mit einem Lebensgefühl, das es ihnen erlaubte, die Bundesrepublik nicht nur als Schicksal, sondern als Chance zu begreifen.
Die deutsche Filmgeschichte und Leni Riefenstahl (1902-2003), das war immer eine besondere Beziehung. Zum 100. Geburtstag der Regisseurin und dann in den Nachrufen konnte man die Spuren, Nachwirkungen und mitunter auch Fortschreibungen einer über Jahrzehnte geführten Auseinandersetzung feststellen, aber auch das seltsame Phänomen beobachten, dass die politischen Einwände gegen ihre Filme - von „Sieg des Glaubens“ bis „Tiefland“ - deutlich geringer geworden waren. Tatsächlich ist die Rezeption Riefenstahls in der deutschen Öffentlichkeit ein aufschlussreiches Phänomen, denn in ihr sind Konjunkturen und Wendungen zu beobachten, die ebenso viel über allgemeinere Entwicklungen im Verhältnis zur deutschen Geschichte verraten wie über den speziellen „Fall“ Riefenstahl. Dass sich eine Website die Aufgabe stellt, „mit einem Überblick über die Rezeptionsgeschichte von Leni Riefenstahl eine Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit einer der umstrittensten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zu geben“, ist daher eine vom Ansatz her verdienstvolle Entscheidung. Allerdings hat es mit dieser Website dann auch eine besondere Bewandtnis - sie ist ein Beleg dafür, dass das Internet nicht selten Relikte und Datenfriedhöfe enthält.
Zu den in der Geschichtswissenschaft geläufigen Aussagen gehört, dass Hitler ein charismatischer Politiker gewesen sei - allerdings verbirgt sich dahinter, trotz des stets selbstverständlichen Bezugs auf Max Weber, häufig nicht mehr als eine Umschreibung des dämonischen Verführers, dem die Massen willenlos, als bloße Opfer, erlegen seien. Hans-Ulrich Wehler hingegen nimmt Webers Forderung ernst, Charisma nicht als göttliche Gnadengabe, sondern als soziale Beziehung zu untersuchen. Damit rücken weniger die Propaganda und Inszenierung des Charismatikers als vielmehr die Erwartungen und Hoffnungen derjenigen, die an Hitler geglaubt und das NS-Regime unterstützt haben, in den Mittelpunkt - anders als Wehlers Kritiker Ludolf Herbst annimmt, der Charisma unverdrossen für eine Propagandatechnik hält. Was bislang eher Ausgangsüberlegung denn durchgehaltene Reflexionsebene blieb, wird nun bei Wehler zum roten Faden der Darstellung.
Angesichts der Vielzahl mittlerweile vorliegender Rezensionen zum vierten Band von Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“ sollen dessen Vorzüge und Nachteile hier nicht mehr im Einzelnen abgewogen werden. Vielmehr geht es mir um einen etwas distanzierteren Blick auf die theoretische und methodische Anlage des Buchs. Seine Veröffentlichung fällt nämlich in eine Zeit, in der es als Test für die Leistungsfähigkeit des gesellschaftsgeschichtlichen Projekts Wehlers überhaupt gelesen werden kann: Bildet es doch nicht nur - trotz des noch angekündigten fünften Bandes - den vorläufigen Abschluss einer historiografischen Lebensleistung, sondern fällt auch in die Endphase einer Epoche der deutschen Geschichtswissenschaft, die mit Fug und Recht als Epoche der Sozialgeschichte bezeichnet werden kann. Drei kritische Punkte möchte ich im Folgenden ansprechen: den Stellenwert der Kulturgeschichte, die bei Wehler weiterhin ein Stiefkind der Gesellschaftsgeschichte bleibt, die damit verbundene sozialstatistische Verkürzung der historischen Wirklichkeit sowie die Grenzen der historischen Selbstreflexivität.